21
Vier Tage später brach Magnus mit drei seiner Männer zur Versammlung des Thing auf, das in der Nähe von Kaupang abgehalten wurde; in einem Tal, das zu König Harald Schönhaars Landbesitz gehörte. Sie nahmen die Pferde und ritten über Land, segelten nicht mit der Seewind, denn das Boot mußte ausgebessert und das Steuerruder erneuert werden. Magnus bestieg seinen Hengst Thorgell, ein kraftvolles Tier, das aus der Züchtung von Magnus' Vater stammte. Auf Magnus' Nicken ließ der Sklave die Zügel los, Thorgell tänzelte und ging hoch. Lachend tätschelte Magnus den Nacken des kräftigen, feurigen Tieres, und seine Schenkel drückten ihm in die Flanken. Er sah in seiner schenkelkurzen Tunika aus lavendelfarbener Wolle über den dunkelbraunen Wollhosen äußerst stattlich aus. Die mit Lederbändern verschnürten Stiefel reichten ihm bis zu den Knien. Um die Mitte trug er einen breiten, mit Gold und Silber beschlagenen Ledergürtel. Sein blondes Haar glänzte in der Morgensonne und seine Gesichtszüge wirkten rein und strahlend. Zarabeths Herz zog sich bei seinem Anblick schmerzlich zusammen.
Sie wandte sich ab, müde und niedergeschlagen, fühlte sich bereits jetzt einsam, was wirklich dumm war, denn sie selbst hatte den Wunsch geäußert, er möge gehen. Sie wollte allein sein mit ihrer Trauer und ihrer inneren Leere.
Sie hörte, wie er ihren Namen rief, drehte sich um und sah, wie er in gestrecktem Galopp auf sie zukam. Im nächsten Augenblick hatte er sich weit aus dem Sattel gebeugt, sie hochgehoben und an sich gedrückt. Thorgell schnaubte nervös, und Magnus lachte. Er küßte sie leidenschaftlich und setzte sie wieder zu Boden. Sie blickte ihm nach, bis er hinter dem nächsten Hügel verschwunden war.
Sie beschäftigte sich den ganzen Tag, in der Hoffnung, nachts Schlaf zu finden. Doch die halbe Nacht lag sie wach und starrte im Zwielicht auf die Dachbalken.
Am dritten Tag trat sie aus dem Langhaus. Man hatte nach ihr gerufen. Es war Helgi in Begleitung von sechs Männern. Sie war ziemlich aufgeregt.
»Ingunn ist verschwunden!«
Zarabeth starrte sie an, und Ingunn wiederholte: »Ingunn ist fort!«
»Komm ins Haus, Helgi.«
Beim Anblick ihrer Schwester Eldrid wandte Helgi sich rasch ab. »Irgendwann letzte Nacht ist sie fortgelaufen, oder sie wurde mit Gewalt verschleppt. Hast du sie gesehen, Zarabeth? Hast du irgend etwas gehört?«
»Nein, nichts. Aus welchem Grund mag sie fortgelaufen sein?«
»Orm Ottarsson!« Helgis breites, hübsches Gesicht war nun vor Ärger gerötet. »Ich wußte, daß sie log, als sie ihrem Vater Gehorsam versprach. Ich wußte es, weil ich sie kenne. Sie will Orm, und sie will nicht glauben, daß er ein Bandit ist, ein Mann ohne Ehre! Bei Thor, er bringt Schande über sie und unsere Familie.«
»Wo ist dein Mann?« Dann schlug Zarabeth sich mit der Hand gegen die Stirn. »Wie dumm von mir. Natürlich nimmt er an der Thing-Versammlung teil, genau wie Magnus.«
»Ja, Harald hat den Vorsitz übernommen. Ingunn ist schlau und hat abgewartet, bis ihr Vater das Gehöft verlassen hat. Ich würde sie am liebsten solange verprügeln, bis sie mich auf Knien um Gnade anfleht! Du hast also nichts gehört und nichts von ihr gesehen?«
Zarabeth schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Helgi. Hier, trink einen Schluck Bier, es ist frisch gebraut und kühl.«
Helgi warf ihrer Schwester wieder einen verstohlenen Blick zu. »Möchtest du hier bleiben? Wir können deinem Mann und Magnus einen Boten senden. Er sagte mir, der Versammlungsort ist eine Tagesreise entfernt.«
»Du bist ein gutes Kind, Zarabeth«, seufzte Helgi und ihre normale Gesichtsfarbe kehrte allmählich wieder. »Nein, ich reite lieber nach Hause. Vielleicht hat das törichte Mädchen sich eines Besseren besonnen und ist zurückgekommen.« Sie erhob sich und seufzte tief. Dann fragte sie Zarabeth mit einem forschenden Blick: »Bist du in Ordnung, Zarabeth? Kommst du zurecht?«
Zarabeth nickte und versteifte sich unbewußt in Erwartung der Worte, die kommen mußten. Und Helgi sagte kühl und gleichmütig: »Die Zeit heilt alle Wunden, du wirst sehen.«
Zarabeth sah der Älteren in die Augen — in Magnus' hellblaue Augen — und sprach aus, was ihr auf dem Herzen lag: »Nein, ich glaube nicht. Das Leiden ist zu groß, und in mir ist zu wenig Kraft, um meine Wunden zu heilen.«
Helgi wußte, daß sie aufrichtig sprach. »Es war zu viel Veränderung für dich in zu kurzer Zeit, zu viel Leid, zu viel Unsicherheit. Das hat nichts mit deiner Stärke oder Schwäche zu tun, Zarabeth. Ich sage dir, meine Tochter, du trägst deinen Schmerz und deine Trauer solange, bis du dich von deiner vermeintlichen Schuld befreist. Erst dann wirst du die Frau meines Sohnes sein. Sag mir, wie verkraftet Magnus Egills Verlust?«
»Er träumte, daß er Egill lebendig gesehen hat, aber er war in Gefangenschaft.«
Helgi berührte das Amulett, das sie um den Hals trug. »Vielleicht«, meinte sie, »vielleicht.«
Nachdem Helgi und ihre Leute aufgebrochen waren, trat Tante Eldrid neben Zarabeth und blickte sinnend in die Ferne. »Es ist seltsam — diese Geschichte mit Ingunn, meine ich. Ingunn ist nicht dumm. Zumindest war sie nicht dumm, bevor du gekommen bist. Erst dann wurde aus ihr eine rachsüchtige Frau, die ich kaum wiedererkannte. Ingunn handelt nie ohne Grund. Nein, meine Schwester kennt ihre Tochter nicht so gut wie sie glaubt, sie zu kennen. Es ist wirklich seltsam.«
Mehr wollte sie nicht sagen, obwohl Zarabeth sie mit Fragen bedrängte. Übellaunige alte Frau, dachte sie und machte sich daran, Rüben zu schälen, um sie mit frisch gefangenen Heringen zu braten.
Am nächsten Tag regnete es, ein kräftiger, kalter Regen, der einen Vorgeschmack auf den rauhen Winter gab. Zarabeth fröstelte und dachte an die langen, dunklen, kalten Wintermonate, die ihr bevorstanden. Beunruhigt betrachtete sie die schweren Wölken, die sich über den Bergen zusammengebraut hatten. Die See im Viksfjord war aufgewühlt und schlug hohe Wellen. Sie dachte an Magnus und wunderte sich darüber.
Am späten Nachmittag hörte der Regen auf, und die Sonne kam durch. Die Bewohner verließen das Langhaus. Die Sklaven begaben sich auf die Felder, Frauen wuschen Wäsche in den großen Holztrögen vor dem Badehaus, und die Kinder plantschten in den Pfützen, machten Ringkämpfe und schrien und lachten. Rollos Hammerschläge dröhnten aus seiner Schmiede. Eldrid spann feinen Flachs zu kräftigen Fäden.
Der Alltag war wieder eingekehrt. Alles war wieder, wie es sein sollte, doch dies war ein Trugschluß. Plötzlich konnte Zarabeth das Lachen, Scherzen und Reden um sich herum nicht mehr ertragen. Sie verließ die Umzäunung und ging den Weg hinunter. Sie ging bis ans Wasser, das unruhige Wellen schlug und von dunkelgrauer Farbe war. Sie schaute auf den Kahn, mit dem sie damals zu fliehen versuchte, von dem Lotti gesprungen war, um Magnus zu retten. Wieder zerbrach etwas in ihr. Mit gesenktem Kopf ging sie am Ufer entlang. Sie wollte eine Weile allein sein. Plötzlich hörte sie Hundegebell und hob den Kopf. Nicht weit entfernt stand ein junger Mann vor ihr, groß und kraftvoll gebaut wie Magnus, mit weizenblondem Haar, heller Haut, die Augen eigentümlich silbrigblau. Er hielt lässig ein Schwert in der Hand, stand da und blickte sie einfach an.
»Dein Haar«, begann er schließlich. »Ich habe nie zuvor eine solche Farbe gesehen, obwohl meine Männer mir davon berichtet haben. Rot wie Blut, sagen sie.«
Ihr Haar! Was redete der Mann? Sie blickte auf sein Schwert, schaute ihm über die Schulter, konnte aber niemand sonst sehen. Allem Anschein nach war er allein. Es gab keinen Grund, Angst zu haben.
»Wer bist du?«
Er lächelte und entblößte sehr weiße Zähne. Er war ein gutaussehender Mann, dachte sie gleichgültig, immer noch das Schwert im Auge. Sie fragte sich, ob man sie vom Wachtturm her beobachtete, und wenn, was die Männer zu tun gedachten.
»Ich habe auf dich gewartet, und das Warten ist mir langweilig geworden. Ich hatte überlegt, Malek anzugreifen, aber dazu hatte ich keine Lust. Ich wollte nur dich, und nun haben die Götter dich zu mir geführt. Ich habe meinen eigenen Augen kaum getraut, als ich sah, wie du die Sicherheit der Umzäunung verlassen hast.«
»Ich zweifle, daß deine Wikinger Götter etwas mit meinem Spaziergang zu tun haben. Wer bist du? Was willst du von mir?«
»Ich mag keine schrillen Weiberzungen, und ich mag keine unnützen Fragen.« Er trat einen Schritt auf sie zu, und Zarabeth machte einen Schritt zurück. Sie schätzte die Entfernung zum Palisadenzaun ab und überlegte, ob sie schneller laufen konnte als er.
Als könne er ihre Gedanken lesen sagte er: »Das kannst du nicht. Du bist eine Frau, und deshalb kannst du nicht schneller laufen als ich. Ich möchte dich näher betrachten. Ich tu dir nichts. Halt still.«
Er trat auf sie zu, das Schwert immer noch in der rechten Hand, blieb vor ihr stehen, hob ihren langen Zopf hoch und zog ihn nach vorne. Mit schnellen, beinahe ärgerlichen Bewegungen löste er ihn und ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten, dann wand er sich ein kräftiges Haarbüschel um die Hand und rieb seine Wange daran. »Ich hasse den Zopf. Du mußt dein Haar offen tragen. Es fühlt sich glatt und kühl an, und die Farbe leuchtet. Und der Duft. Lavendel? Du bist sehr fremdländisch, wie Ingunn sagte. Auch das Grün deiner Augen ist ungewöhnlich. Ich habe noch nie solches Grün gesehen, wie grünes Moos tief im Wald, das kaum ein Sonnenstrahl trifft. Ob du sonst auch so fremd aussiehst?«
Er lachte glucksend in sich hinein. »Natürlich würde Ingunn niemals zugeben, daß du schön bist. Sie haßt dich nämlich.«
Und dann wußte Zarabeth Bescheid. »Du bist Orm Ottarsson.«
Er grinste sie immer noch an. »Du bist nicht dumm, wie mir scheint. Mein Ruhm ist mir vorausgeeilt. Ja, ich bin Orm Ottarsson. Und du bist Zarabeth, Magnus' neue Ehefrau.«
»Was tust du hier? Du bist hier nicht sicher. Über deine Untaten wird soeben auf der Thing-Versammlung gerichtet.«
»Ich bin gekommen, um dich von hier fortzubringen, fort von Magnus Haraldsson. Ich möchte mich seit langem an ihm rächen. Und Ingunn hat keine zärtlichen Gefühle für dich. Sie hat mir aufgetragen, sie zu rächen. Eigentlich möchte sie dich am liebsten tot sehen, aber das würde sie nie eingestehen. Ich soll dich an einen reichen Araber in Miklagard verkaufen und schönen Profit aus dem Handel schlagen.« Seine Fingerspitzen berührten ihre Wange. »Ich glaube zwar nicht, daß du eine gute Sklavin abgibst. Zweifellos würde ich dennoch reichlich Gold für dich bekommen. Hast du noch Narben von dem Sklavenband, das Magnus dir um den Hals schmieden ließ? Nein, es ist alles schön verheilt. Du mußt ihn sehr verärgert haben, weil er dich so erniedrigt und bestraft hat.«
»Ja«, sagte sie. »Aber es lag nicht in meiner Absicht, ihn zu verärgern. Es war nicht meine Schuld.«
»Das tut nichts zur Sache. Er hat dir vergeben und dich geheiratet. Ich konnte es anfangs nicht glauben, denn
Magnus ist ein stolzer Mann, stark und unbeugsam wie eine Eiche. Als wir kleine Buben waren, war er eigensinniger, sturer als jeder andere von uns. Ich erinnere mich, wie er einmal vor Angst erbleichte, als ein wilder Keiler ihn angriff, aber er schluckte seine Angst hinunter, erwartete das Untier standhaft und rannte ihm den Speer zwischen die Rippen. Ja, Magnus ist ein stolzer Mann.« Er blickte sie wieder an und rieb ihr Haar zwischen den Fingern. »Ingunn ist ebenso stolz wie ihr Bruder. Sie kann auch grausam sein. Das habe ich immer an ihr bewundert.«
»Ingunn hat keinen Grund, mich zu hassen. Ich habe ihr nichts getan.«
Achselzuckend meinte er: »Sie hat ein aufbrausendes Wesen, ein leicht verletzliches Herz und einen rasch verwirrten Verstand. Du warst für sie eine Bedrohung, sie sah in dir die Frau, die sie von ihrem Thron stürzte, und deshalb will sie dich vernichten. Ihre Methoden waren nicht sonderlich klug, denn Magnus zog dich allen anderen vor, selbst dieser kleinen Hure Cyra. Und das hat Ingunn zu spät erkannt.«
»Hat sie dir das alles erzählt? Hast du Ingunn aus ihrem Elternhaus entführt?«
Lachend schüttelte er den Kopf. »Das möchte Helgi gerne glauben. Aber sie ist keine Närrin und weiß genau, daß Ingunn aus freien Stücken zu mir gekommen ist. Ich mußte ihr nur eine Botschaft zukommen lassen, und sie eilte zu mir.«
»Magnus, sein Vater und viele andere Männer nehmen an der Versammlung teil und beraten über deine Plünderungen und Greueltaten. Du mußt Norwegen verlassen, Orm. Ich habe gehört, daß viele deiner Landsleute nach Westen segeln, über das große Meer, wo die Wikinger fremde Länder entdeckt und besiedelt haben.«
Er nickte lächelnd, als sei er ihr Freund, ein willkommener Gast, nicht ein Mann, der mit dem Schwert in der Hand vor ihr stand. »Natürlich hast du recht. Ich habe hier nicht viel Gutes zu erwarten.« Er machte ein belustigtes Gesicht. »Dummerweise überlebte eines der Weiber auf dem Hof von Ingolfsson und berichtet jetzt auf dem Thing, daß ich sie vergewaltigt und geschändet habe. Ich habe sie für tot gehalten, wie alle anderen auch. Wir fanden eine Menge Gold und Silber — der Mann, der mir davon berichtete, hat nicht gelogen. Jetzt habe ich mehr als genug Gold.« Er blickte zu dem Palisadenzaun hinauf, der das Gehöft umgab. Dann blickte er über den Viksfjord zu den Bergen dahinter.
»Doch hier ist meine Heimat, und es schmerzt mich, fortgehen zu müssen. Ja, ich bin nun ein reicher Mann, aber ich habe kein Land.«
»Niemand hat dich gezwungen zu töten, zu rauben und zu schänden.«
Nun war das Lächeln aus seinem Gesicht gewichen. »Ich bespreche meine Taten nicht mit Frauen. Du begreifst nicht, welche Mächte einen Mann vorantreiben.«
»Ich verstehe Magnus. Er ist ein Mann, wie ich zuvor noch keinen gekannt habe.« Genau in dem Moment, als diese Worte über ihre Lippen kamen, durchflutete sie die Erkenntnis. Magnus war ein gütiger und unerschütterlich treuer Mann; er hatte den ehrlichen Wunsch gehabt, sie zur Frau zu nehmen. Er hatte Lotti geliebt und den Tod des Kindes betrauert. Und am gleichen Tag hatte er seinen Sohn verloren ... Sie kam sich klein und engstirnig und sehr dumm vor. Sie hatte ihm kein Verständnis entgegengebracht, keinen Trost, keine Güte. Sie hatte sich in Selbstmitleid gesuhlt, hatte ihn und seinen Schmerz mißachtet, hatte sich in ihrer Selbstsucht völlig vor ihm verschlossen. Sie schloß die Augen und wünschte, sie könnte alles ungeschehen machen, was sie getan hatte, alles, was sie gesagt und gedacht hatte, denn nun erkannte sie — ja, endlich begriff sie — daß sie sich selbst und ihn belogen hatte.
»Hat dir Magnus deine Jungfernschaft genommen?«
Sie wich zurück, aus ihren Gedanken gerissen, und dann erst wurden ihr seine Worte klar. Wieder blickte sie den gewundenen Pfad entlang und sah sich laufen und laufen. Sie sah auch, wie er sie einfing. Was würde dann geschehen? Das konnte sie nicht sehen.
»Antworte, Weib! Hat Magnus deine Jungfernschaft genommen, oder war es ein anderer Mann, dein erster Ehemann?!«
»Es war Magnus.«
»Ingunn führt schlechte Reden über dich, nennt dich eine Hure und Schlampe, aber daran zweifle ich. Sie gibt dir diese Schimpfnamen sogar, wenn sie ihre Lust hinausschreit, die ich ihr verschaffe. Das ist seltsam, aber sie ist nur eine Frau, und ihre Handlungen ergeben keinen Sinn.« Er schwieg und blickte zum Palisadenzaun hinauf. »Du hast recht. Bald wird jemand bemerken, daß du fortgegangen bist. Möglicherweise sieht man sogar, wie ich mit dir spreche. Wir werden jetzt gehen, Zarabeth.«
Sie drehte sich um und rannte los.
Die Versammlung des Thing dauerte nun schon drei Tage. Harald führte den Vorsitz und hatte befohlen, die Anklagen gegen Orm vorzubringen. Die Aussage von Ingolfssons Tochter, einem Mädchen namens Minin, erst zwölf Jahre alt, versetzte die Versammlung in helle Empörung. Orm hatte sie vergewaltigt und danach gegen einen Felsen geworfen und liegen gelassen, in der Annahme, sie sei tot. Dort lag sie drei Tage ohne Bewußtsein. Sie sprach vor der Versammlung mit bebender Kinderstimme, und jeder der Anwesenden sah sein eigenes Kind im Zeugenstand. Und die versammelten Männer packte unaussprechlicher Zorn.
Über Orm wurde der Bann gesprochen. Von nun an war er ein Geächteter, ein Vogelfreier. Er mußte Norwegen verlassen, wenn man ihn nicht vorher umbrachte, denn die Männer des Ingolfsson Clans wollten sein Blut sehen.
Magnus saß seinem Vater und seinem Bruder Mattias gegenüber. Die Luft war lau, die Landschaft lag im Zwielicht der frühen Sommernacht.
»Ich breche morgen auf«, sagte Magnus.
Mattias feixte. »Dein Blut ist erhitzt, Magnus, und du möchtest es an deiner jungen Frau kühlen.«
Magnus sagte nichts. Zarabeths Bild stieg in ihm auf. Sie lag auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, ihre Arme seitlich neben sich, die Hände zu Fäusten geballt. In jener Nacht, bevor er zum Thing aufgebrochen war, hatte er sie noch einmal genommen, und als er fertig war, sah er die Tränen aus ihren geschlossenen Lidern quellen und ihre Wangen entlanglaufen. Sie hatte keinen Laut von sich gegeben. Nur die Tränen waren geflossen. Er haßte sie, und er haßte sich.
»Nein, ich möchte nur von hier fort«, sagte Magnus. »Meine Männer langweilen sich und verlieren die Geduld, sagt mir Ragnar. Sie wollen auf Raubzug gehen, um ein paar fette englische Mönche und ihre Klöster von ihrem Gold und ihren Kunstschätzen zu befreien und damit ihre eigenen Truhen zu füllen.« Er seufzte. »Vielleicht fahren wir nach England. Oder wir verfolgen Orm und nehmen ihm all das Gold wieder ab, das er geraubt hat.«
Mattias sagte abwesend: »Haftor Ingolfsson wird Orm töten. Und das ist sein gutes Recht.« Er schaute seinen Vater an, der sich einen verspannten Muskelstrang in der Schulter rieb. »Ich stimme Magnus bei. Wir schließen die Versammlung morgen und brechen auf. Auch auf mich wartet eine Frau zu Hause, die ich glücklich machen muß.«
Harald brummte, dann ächzte er, als Magnus den verspannten Muskel in seiner Schulter zu massieren begann. »Nur Freya weiß, warum sie dir mehr Liebe schenkt, als du verdienst. Du rammelst sie wie ein Hase, und die arme Frau muß dein unbeholfenes Getatsche ertragen . . .«
Mattias lachte und knuffte seinen Vater scherzhaft in die Seite. »Ich und ein Rammler? Glyde ist es doch, die jeden Abend das Bett neben sich tätschelt und mich mit liebeskranken Augen ansieht.«
Magnus hörte ihre Scherze nur mit halbem Ohr. Er sehnte sich nach Zarabeth, und er machte sich Sorgen um sie, obgleich er seine Gedanken an sie verdrängte. Andere Männer gesellten sich zur Gruppe, doch Magnus wollte allein sein und sonderte sich ab. Er fühlte sich verwundet, seit dem Tag, an dem Lotti und Egill gestorben waren, seine Wunden waren in seiner Seele, niemand konnte sie sehen. Er spazierte an den Rand des riesigen Lagers und blickte auf die unzähligen Zelte mit ihren Feuerstellen davor, die Rauch in den Himmel spien. Dann wandte er sich um und blickte auf die schneebedeckten Berge in der Ferne. Egill war ihm erneut im Traum erschienen — er lebte, war aber abgerissen und schmutzig. Dieser verfluchte Traum nagte an ihm, versetzte ihn in äußerste Unruhe. Nein, sein Sohn war tot, ebenso wie Lotti tot war. Er mußte sich damit abfinden. Wenn er es nicht schaffte, wie konnte er es von Zarabeth erwarten?
Er wollte heim nach Malek.
Er mußte Zarabeth Wiedersehen.
Orm hatte sie nach zehn Schritten eingeholt, packte sie um die Mitte, riß sie hoch und zog sie an sich. Lachend drückte er sein Gesicht an ihren Hinterkopf. Dann, ohne Warnung, wirbelte er sie herum und schlug zu.
Nicht sehr fest, nur so hart, daß der Abdruck seiner Hand auf ihrem Gesicht zu sehen war. »Ein kleiner Vorgeschmack«, meinte er, sein Gesicht ganz nah an ihrem. Er studierte ihren Ausdruck, hoffte Tränen in ihren Augen zu sehen. Doch sie blieben trocken, und er war versucht, sie noch mal zu schlagen. Nein, für den Anfang war es genug.
»Du hast mich gezwungen, dich zu schlagen. Sei nicht dumm, Zarabeth. Mach so etwas nie wieder, sonst lernst du mich von einer anderen Seite kennen.«
Zarabeth konnte nicht anders. Sie rammte ihm ihre
Faust in den Bauch und versuchte sich zu entwinden, schlug ihm ihre Fingernägel ins Gesicht und fügte ihm tiefe Kratzer zu. Er grunzte voller Abscheu und schlug ihr die Faust ins Gesicht. Sie sackte bewußtlos gegen ihn. Er hob sie auf die Schulter, blickte nach oben zur Umzäunung, ob jemand den Vorgang beobachtet hatte. Niemand zeigte sich.
Er trug sein Schwert in der Rechten, und seine Linke umfing ihr Hinterteil, damit sie ihm nicht von der Schulter rutschte.
Als er den Föhrenwald weiter oben auf dem Abhang erreichte, kam ihm einer seiner Männer entgegen.
»Bei Odin, sieh dir diese Haare an — diese Farbe. Laß mich mal anfassen.«
»Finger weg!« knurrte Orm. »Wir müssen fort. Wenn wir uns beeilen, erreichen wir das Lager noch vor Sonnenuntergang.«
»Sie ist fort«, sagte Eldrid immer wieder.
Magnus schüttelte den Kopf. Nein, es durfte nicht wahr sein.
»Vor zwei Tagen. Sie ist einfach verschwunden. Nach dem Sturm. Sie ging durch das Tor, und niemand hat sie seither gesehen. Ich bin zu alt für so etwas, Magnus. Das Mädchen konnte sich nicht eingewöhnen. Sie trauert, und sie wollte weg. Laß sie laufen. Vielleicht kommt sie von selber wieder.«
Magnus hatte gute Lust, die Alte zu schlagen. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zu Hollvard, dem alten Mann, der die Palisadentore von Malek seit zwei Jahrzehnten bewachte.
»Ja, Magnus, ich habe gesehen, wie sie aus dem Tor gegangen ist, mit gesenktem Kopf, in Gedanken versunken. Es hatte stark geregnet, und alle wollten nach dem schlechten Wetter ins Freie. Wahrscheinlich ist sie deshalb den Weg hinunter zum Wasser gegangen.«
»Trug sie nichts bei sich?«
Hollvard schüttelte den Kopf.
»Dann hat sie jemand gewaltsam entführt.«
»Das wäre möglich.«
Er hörte den Zweifel in der Stimme des alten Mannes. Hollvard glaubte, wie alle seine Leute, daß sie sich umgebracht hatte, oder daß sie einfach in die Wälder gegangen und von wilden Tieren zerfleischt worden war. Das glaubte Magnus nicht. Zarabeth war eine Kämpfernatur. Sie würde sich nicht selbst töten.
Er rief seine Männer zusammen, und wieder begann eine Suchaktion. Keiner von ihnen sagte ein Wort, stumm suchten sie nach Zarabeth, wie sie nach Egill gesucht hatten. Es war Ragnar, der einen Fetzen von ihrem Kleid fand, an einem Strauch, etwa zwanzig Meter im Föhrenwald.
Magnus untersuchte den Stoff und das Gebüsch. »Sie wurde getragen«, sagte er schließlich. »Über der Schulter eines Mannes, der etwa meine Größe hatte. Sie ist aus Malek verschleppt worden.« Am liebsten hätte er einen Freudenschrei losgelassen über die Entdeckung, daß sie noch am Leben war.
Sie war entführt worden. Von wem? War sie wirklich noch am Leben?«
Gunnar, ein kleiner Mann, der ein ausgezeichneter Spurensucher war, kam heran. »Hier entlang, Magnus. Ich habe Spuren entdeckt, undeutlich zwar, aber immerhin. Odin sei Dank, daß es nicht mehr geregnet hat.«
Magnus ging hinter Gunnar her und hoffte, daß der Mann recht hatte und nicht grundlos prahlte. Sie erreichten das Lager noch spät am selben Tag. Es war vor etwa zwei Tagen verlassen worden, wie Gunnar vermutete.
»Was machen wir jetzt, Magnus?«
Er wandte sich an Ragnar. »Wir bewaffnen uns und nehmen die Verfolgung auf. Ich weiß, wer sie entführt hat. Und ich will das Blut des elenden Schurken sehen.«