10

Magnus sah sie durch den roten Vorhang. Der Schmerz war so groß, daß er fürchtete, daran zu ersticken. Während er sie beobachtete, verwandelte sein Schmerz sich in blanke Wut. Sie war schmutzig, ihr Haar hing ihr strähnig ins Gesicht, ihr Kleid war zerrissen, und dennoch wirkte sie stolz und unbeugsam.

Bei Odin, er hatte sich nach ihr gesehnt, hatte beinahe jede Nacht von ihr geträumt. Sie ging ihm nicht aus dem Sinn: ihre weiße Haut, ihr Haar; wie sie zärtlich seinen Namen flüsterte. Doch sie war eine Betrügerin, hatte ihr böses Spiel mit ihm getrieben.

Er hörte ihre leidenschaftliche Verteidigung, und der Schmerz war wieder da, nicht als Sehnsucht nach ihr, sondern als rasender Zorn. Sie hatte ihm Unrecht getan. Dafür mußte sie büßen, dafür würde sie leiden, und dafür würde er sorgen.

Als er neben König Guthrum trat, glaubte er, sie würde in Ohnmacht sinken. Dann meinte er einen Funken der Freude in ihren Augen aufflackern zu sehen und Hoffnung ... nein, es waren Verblüffung und Haß. Vielleicht auch so etwas wie Schuldgefühl.

Hatte sie Olav getötet?

Er wollte es anfangs nicht glauben, hatte die Vorstellung als absurd zurückgewiesen. Doch es gab viele Zeugen, deren Worte den König und ihn überzeugten. Sie sprachen von Olavs Zuneigung zu dem kleinen Mädchen, von seiner Absicht, Zarabeth zu heiraten, um sie und das Kind zu versorgen und zu schützen; von seinem Wunsch, ihr seinen gesamten Besitz zu vererben, da er unter ihrem Bann stand. Waren das Beweise ihrer Schuld? Beweise dafür, daß sie Olav gegen seinen eigenen Sohn aufhetzte? Die meisten Menschen schienen davon überzeugt zu sein.

Andererseits sprachen auch viele Zeugen von Zarabeths gutem Herzen, wie unermüdlich sie an Olavs Krankenlager gewacht hatte, und von ihrer Liebe zu ihrer kleinen Schwester. Immer wieder blickte er forschend zu Keith und Toki. Immer wieder ging er Zarabeths Aussage in Gedanken durch und blickte zu Toki hinüber. Die Frau hielt die Augen sittsam gesenkt, ihr Mund war ein schmaler Strich. Irgend etwas gefiel ihm nicht an ihr; von ihr ging Kälte und Mißgunst aus.

Nicht, daß er Olavs Tod bedauerte. Er war froh darüber. Der Mann war nun nicht länger Zarabeths Ehemann, und Magnus konnte mit ihr machen, was ihm beliebte. Er war zur rechten Zeit gekommen, um sie zu holen. Er, den sie betrogen hatte, kam, um ihr das Leben zu retten; das entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Hätte er sich um einige Tage verspätet, hätte man sie bereits hingerichtet. Der Gedanke traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Doch was nun auf ihn zukam, sollte ihm große Genugtuung bereiten. Sie würde die Strafe bekommen, die sie verdiente.

In einem Augenblick der Erkenntnis gestand er sich ein, daß nicht die Tatsache ihres Giftmordes an ihrem Ehemann ihn mit diesem unbeschreiblichen Zorn erfüllte, der ihn beinahe um den Verstand brachte, sondern ihr Verrat an ihm. Ihn hatte sie gedemütigt, ihm hatte sie unerträgliche Schmerzen zugefügt.

Am liebsten hätte er sich in seinen Rachegelüsten die Hände gerieben. Sie war am Leben, und der König hatte sie ihm ausgehändigt. Magnus hatte Keith das erforderliche Danegeld für Olavs Leben bezahlt, das nicht sonderlich hoch war, denn Keith schien seltsamerweise erleichtert zu sein, daß Zarabeth für ihre Untat nicht mit dem Tode bestraft wurde. Nur seine Frau Toki hatte kreischend Einwände erhoben. Zarabeth war nun seine Sklavin. Er konnte mit ihr tun und lassen, was ihm beliebte. Er dankte Guthrum erneut und trat auf sie zu. Er wollte die Angst in ihren Augen lesen, wollte sehen, wie sie vor ihm zurückwich, aus Furcht vor Strafe wegen der Lügen, die sie ihm aufgetischt hatte. Nun war sie ihm mit Haut und Haaren ausgeliefert. Er wollte sie erbleichen sehen; er wollte sie im Staub kriechen sehen. Doch zu seinem Erstaunen straffte sie die Schultern, stand stocksteif vor ihm, und dieser verfluchte Stolz umgab sie wie ein Schutzschild.

Er blieb knapp vor ihr stehen und sagte leise: »Der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Du gehörst mir. Wir stechen morgen in See.«

Zarabeth fühlte, wie die Halle sich verdunkelte, der Fußboden hob sich ihr entgegen. Die Sinne drohten ihr zu schwinden. Sie kämpfte verzweifelt gegen die Ohnmacht an. Dann sah sie ihm ins Gesicht, sein geliebtes Gesicht, das sie im Herzen bewahrte seit dem ersten Morgen, an dem er sie angesprochen hatte. Sie würde ihm die Wahrheit erklären.

»Mir ist Unrecht widerfahren, aber ich scheine daran nichts ändern zu können. Gut, ich komme mit dir.« Sie hatte nicht die Absicht, ihm zu danken, daß er ihr das Leben gerettet hatte. Sein Bericht an König Guthrum ließ sie in den Augen ihrer Richter nur noch schuldiger erscheinen.

Magnus furchte die Stirn. Er hatte nicht erwartet, daß sie sich seinem Willen so rasch beugte.

»Ich brauche meine Gewänder.«

»Du bist zerlumpt, und du stinkst.«

Sie nickte. »Richtig. Deshalb brauche ich meine Kleider und ein Bad und einen Kamm für mein Haar.«

»Nein.«

Sie wunderte sich nicht über seine Härte. Sie hatte lange mit Olav gelebt.

Magnus hatte ihre Habe bereits aus Olavs Haus holen lassen, gegen Tokis schrille Proteste. Sie wollte die Gewänder verkaufen. Die elende Hure würde ohnehin sterben, hatte also keinen Anspruch auf ihre Habseligkeiten. Doch Horkel, ein Mann weniger Worte und von furchterregendem Aussehen, packte ungerührt Zarabeths Sachen in ein Bündel, ohne sich von der zeternden Frau beirren zu lassen.

»Komm. Wir gehen auf mein Boot.«

Sie verneigte sich vor König Guthrum und wandte sich zum Gehen. Dem alten Arnulf, dessen Gesicht vor Mißfallen zerfurcht war, warf sie einen letzten Blick zu. Toki warf ihr wütende Blicke zu, und Keith wirkte irgendwie erleichtert. Zarabeth kannte den Grund. Sie hatte große Lust, Toki mit bloßen Händen zu erwürgen, denn sie war die Mörderin. Nein, es gab keine Gerechtigkeit auf Erden. Zarabeth glaubte nicht, daß Toki für ihre Untat bestraft würde. Sie zweifelte auch daran, daß Toki von Gewissensbissen heimgesucht werden würde. Sie hatte gesiegt, und dennoch war sie voll Groll, weil Zarabeth nicht sterben mußte, wenigstens nicht durch den Richterspruch von König Guthrum.

Zarabeth wartete, bis die Burg hinter ihnen lag, bevor sie zu sprechen begann: »Magnus, bitte, ich möchte dir alles erklären. Aber zuerst muß ich Lotti holen. Sie hat Angst vor Toki, sie wird ihr etwas antun. Ich weiß es. Bitte, ich muß das Kind holen.«

Magnus ärgerte sich, daß diese zerlumpte, verdreckte Person noch immer nicht ihren Stolz verloren hatte, immer noch glaubte, ihn um den Finger wickeln zu können. Mit eisiger Stimme entgegnete er: »Nein. Das Kind bleibt bei seinem Bruder. Ich will es nicht bei mir haben.«

Zarabeth zuckte bei seinen Worten zusammen. Sie hatte Magnus nicht für grausam gehalten. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, er könne ihr diese Bitte abschlagen. Wie töricht von ihr. Hätte sie je eine Sekunde geglaubt, er könne ein hilfloses Kind im Stich lassen, hätte sie ihm nie ihre Zuneigung geschenkt. Der Schmerz bohrte sich wie ein glühender Pfeil in ihr Herz. Sie mußte Lotti bekommen. Der Gedanke, das Kind nur eine Stunde länger bei Toki zu lassen, jagte ihr kalte Schauer den Rücken hinunter. Aber sie war eine Sklavin. Seine Sklavin. Ein Geschöpf ohne Rechte, ohne Freiheit. Sie mußte sich einen Plan ausdenken. Sie würde Lotti nicht Tokis Willkür überlassen.

Schweigend trabte sie neben Magnus her und suchte nach den richtigen Worten, um ihn zu überzeugen. Sie mußte ihm alles erklären. Er mußte ihr glauben. Es war ein weiter Weg bis zum Hafen. Sie war müde und zitterte vor Erschöpfung. Sie brachte es nicht über sich, zu sagen, er möge nur einen kurzen Augenblick stehenbleiben. Ihr Magen war leer, sie hatte am Abend zuvor zum letzten Mal etwas gegessen. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel. Ihr wurde schwindelig. Doch sie durfte keine Schwäche zeigen. Nicht vor Magnus. Eher würde sie sterben.

Magnus bemerkte, wie sie zurückblieb, verlangsamte jedoch nicht seine Schritte. Sie taumelte, raffte sich wieder auf, wischte sich mit der Hand über Stirn und Augen. Er zögerte, sie zu schlagen, da die Wucht seines Hiebes sie vermutlich töten würde. Er aber wollte sie lebendig.

Als sie zurückblieb, drehte er sich nach ihr um. »Vorwärts. Ich kann meine Zeit nicht mit dir vertrödeln.«

Die Sonne blendete, sie sah ihn verschwommen in der gleißenden Helle. Sie hob die Hand, ließ sie wieder sinken. Sie war sehr durstig. Ihre Zunge war geschwollen. Sie zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Noch einen Schritt, befahl sie sich, nur noch einen Schritt und dann vielleicht noch einen.

Sie roch Wasser, den würzigen Geruch von Salz und Fisch. Die Seewind war nicht mehr weit. Sie schaffte es. Sie würde keine Schwäche zeigen. Und später würde sie

Worte finden, um ihn von ihrer Unschuld zu überzeugen. Bald, sehr bald.

Es war der Stein, den sie übersah. Sie stolperte und stürzte zu Boden, fing den Sturz mit den Händen ab, spürte, wie Sand und spitze Steine sich in das Fleisch ihrer Handballen bohrten. Sie blieb auf Händen und Knien liegen, hielt den Kopf gesenkt, die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht.

»Steh auf!«

Sie bemühte sich aufzustehen, doch ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen.

»Steh auf! Sonst peitsche ich dich aus.«

Sie hob den Kopf. Ihr Blick fiel auf seine staubigen Stiefel, wanderte seine nackten Beine nach oben. Sein Wams reichte ihm bis zu den Knien. In seinem Gürtel steckte ein langes Messer. An einem seiner nackten Arme trug er einen breiten goldenen Armreif. Dann sah sie sein Gesicht, die gefühllose Kälte seiner Augen.

»Steh auf«, befahl er barsch.

Sie zwang sich in die Hocke, holte tief Luft und versuchte aufzustehen. Leute waren stehengeblieben und tuschelten miteinander.

»Jetzt ist sie eine Sklavin. Eigentlich müßte man ihr zur Strafe den Kopf abschlagen.«

»Nein, Zarabeth ist ein guter Mensch, sie hat Olav nicht umgebracht.«

»Sie war ein gutes Kind . . . doch jetzt ist sie habgierig und böse . . .«

Plötzlich war alles zuviel. Zarabeth blickte in die Gesichter der Männer und Frauen, die sie kannte, seit ihre Mutter Olav geheiratet hatte und mit ihr nach York gekommen war. Sie sah Haß und Verachtung; sie sah Beklommenheit und Mitleid. Sie blickte in Magnus' Gesicht und sah nichts als Kälte. Dann wurde es dunkel. Sie sackte besinnungslos zu Boden.

Er spürte einen Stich im Herzen. Rasch bückte er sich und hob sie in die Arme. Ihr Körper war leblos, ihr Kopf kippte nach hinten, das Haar hing ihr beinahe bis zum Boden.

Stumm trug er sie zur Seewind. Horkel begrüßte ihn. »Ist das die Frau?«

»Ja, sie hat das Bewußtsein verloren. Wegen der sengenden Sonne oder ihres schlechten Gewissens, ich weiß es nicht.«

»Sie hat lange nichts gegessen. Sie war im Sklavenlager untergebracht.«

Das hatte Magnus nicht gewußt. Er hatte angenommen, man habe sie in Olavs Haus in Gewahrsam gehalten. Er schluckte schwer. »Ich bringe sie in den Frachtraum. Dort hat sie Schatten.«

»Ich bringe Wasser und etwas zu Essen.«

Magnus nickte und begab sich zum Bug des Bootes, wo sich ein geräumiger, überdachter Raum befand, um die Fracht zu verstauen. Dort fanden außerdem drei bis vier Männer Schutz vor Wind und Wetter. Hinter seinem Rücken hörte er Ragnar zu Horkel sagen; »Ob er sie umbringt?«

Horkels Antwort war vermutlich nur ein Schulterzucken, wie es seine Art war. Er redete nicht viel, behielt seine Meinung lieber für sich.

»Hältst du sie für schuldig, ihren Mann umgebracht zu haben? Ganz York spricht davon. Sie nennen sie eine habgierige Giftmischerin. Sie soll auch Magnus betrogen haben.«

»Ich weiß nicht. Magnus glaubt es jedenfalls. Er wird ihren Willen brechen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ihn abgewiesen hat«, sagte Ragnar. Die Stimmen entfernten sich. »Ich dachte, er hätte sie sich längst aus dem Kopf geschlagen.«

Magnus lächelte grimmig und schlug die Otterfelle beiseite, die den Frachtraum abteilten.

Es war stickig im Verschlag. Er legte sie auf eine geflochtene Matte. Dann holte er eine Wolldecke aus einer Kiste, breitete sie aus und legte sie darauf. Sie war sehr bleich.

Ihr Anblick verursachte ihm Schmerzen. Bei Odin, sie hatte ihn beinahe um den Verstand gebracht mit ihren Lügen und ihrem Verrat. Doch nun gehörte sie ihm. Jetzt konnte sie ihm nichts mehr anhaben. Sie war ihm völlig ausgeliefert.

Horkel kam mit einer Schale Wasser. Magnus tätschelte Zarabeths Wangen. Sie bewegte sich leise stöhnend.

»Zarabeth, wach auf!« Er nahm Horkel die Schale ab und setzte sie ihr an die Lippen. Sie hielt die Augen geschlossen, doch ihre Lippen teilten sich, und sie trank gierig.

»Langsam. Du verschluckst dich sonst.« Er entzog ihr die Schale, und sie stöhnte auf. »Gut, aber langsam.« Nachdem sie die Schale leergetrunken hatte, kehrte etwas Farbe in ihre bleichen Wangen zurück. Sie öffnete die Augen und blickte Magnus an.

Sie lächelte, hob die Hand, und ihre Finger berührten sein Gesicht. »Magnus«, hauchte sie. »Ich dachte, ich würde dich nie Wiedersehen.« Er zuckte zurück, Zorn verdunkelte seine Augen, und er sah, wie die Wirklichkeit ihrer Lage in ihr Bewußtsein sickerte.

»Horkel hat dir Essen gebracht. Hast du Hunger?«

Sie schluckte ihre Tränen hinunter. Einen kurzen Augenblick lang war er bei ihr, und alles war wie früher. Nun war er ihr fern wie nie zuvor.

Sie nickte und versuchte, sich aufzurichten, war aber zu schwach dazu.

Magnus fluchte leise in sich hinein. Er half ihr auf, so daß sie sich an die Bootswand lehnen konnte. Er gab ihr eine Holzschale mit gekochten Rüben und Hammelfleisch. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Nach dem ersten Bissen schloß sie genießerisch die Augen.

Ihre Schwäche verärgerte Magnus. Wieso hatte man sie hungern lassen? Diese verfluchten Sklavenlager! »Wenn du gegessen hast, ruhst du dich aus. Wage dich nicht auf Deck, sonst kannst du was erleben.«

Er erhob sich und folgte Horkel gebückt aus dem Frachtraum.

»Ihr Haar ist wie eine lodernde Flamme«, bemerkte Horkel ohne großes Interesse.

»Ja, rot wie die Flammen der Christenhölle.«

»Du hast ihr das Leben gerettet.«

»Sie hat keinen Grund, mir dafür dankbar zu sein, weil ich ihren Willen brechen werde.«

Horkel sagte nichts darauf, wunderte sich nur über den Haß seines Freundes gegen diese Frau. Jeder Mann wurde irgendwann von einer Frau zurückgewiesen. Wieso sollte Magnus eine Ausnahme sein? Horkel ging seiner Arbeit nach und überließ Magnus seinen düsteren Gedanken. Auf einem Schiff gab es immer viel zu tun. Jeder der zwanzig Seeleute wußte genau, was zu tun war und war nicht auf Magnus' Anweisungen angewiesen.

Die Frau wollte unbedingt ihre kleine Schwester bei sich haben. Nein, das Kind war in York besser aufgehoben. Niemand würde der Kleinen etwas antun. Außerdem hatte er nicht die Absicht, dieser Betrügerin auch nur einen Fußbreit entgegenzukommen. Es wurde Abend, und er sah nicht nach der Sklavin. Stattdessen gab er Anweisungen, sie zu bewachen. Ragnar, ein draufgängerischer, ansehnlicher junger Mann, stolz wie ein Hahn, sollte diese Aufgabe übernehmen. Magnus verließ das Schiff, um einen Händler aufzusuchen, der ihm eine Botschaft und Handelswaren für seinen Vater mitgeben wollte. Sein Vater, Harald Erlingsson, Herzog und Kleinkönig des Gravaktales war ein mächtiger Mann, der sich von König Harald Schönhaar unterdrückt fühlte. Was würde sein Vater wohl zu Zarabeth sagen?

Zarabeth aß ihre Schale leer und spürte, wie die Kraft in ihren Körper zurückkehrte. Sie bewegte sich zunächst vorsichtig, um nicht wieder in Ohnmacht zu sinken. Dann stand sie auf. Sie konnte sich gerade aufrichten, die Leinenbespannung befand sich etwa zwei Handbreit über ihrem Kopf. Sie mußte Lotti befreien. Magnus war nicht bereit, ihr zu helfen. Sie mußte sich selbst helfen. Sie würde vor Magnus fliehen und York den Rücken kehren. Sie würde mit Lotti nach Süden, Richtung Wessex wandern, in das Land der Sachsen, in dem Großkönig Alfred herrschte. Ihr Entschluß stand fest. Sie begann, einen Plan zu schmieden.

Ragnar lehnte am Ruder, als er sah, wie die junge Frau die Otterfelle zurückschlug und auf dem offenen Boot erschien. Sie wirkte verstört und schmutzig, und er empfand Mitleid mit ihr. Doch sie hatte Magnus verschmäht und war nichts als eine Mörderin und Sklavin. Er rief ihr in barschem Ton zu: »Verschwinde, und wag dich nicht an Deck. Das ist der Befehl deines Herrn.«

Zarabeth achtete nicht auf seine Worte, kam auf ihn zu, vorsichtig auf der Mittelplanke gehend: »Ich muß mich erleichtern. Bitte hilf mir.«

Ragnar war drauf und dran, ihr zu sagen, sie solle sich an Ort und Stelle hinhocken. Doch sie war in einem elenden Zustand. Es war nicht nötig, sie zu zwingen, ihre Notdurft vor ihm und den anderen Männern zu verrichten. Er stand auf und winkte ihr, ihm zu folgen. Zarabeth achtete nicht auf die anderen Männer, die auf dem Boot herumlungerten, und folgte Ragnar. In den Falten ihres Gewandes hielt sie ein Messer mit Elfenbeingriff versteckt, das sie in einer der Kisten im Frachtraum gefunden hatte. Sie hatte nicht die Absicht, den Mann zu verletzen, sie wollte ihn nur daran hindern, daß er ihre Flucht vereitelte. Das Messer war der Weg in die Freiheit, und sie würde lieber sterben, ehe sie aufgab.

Magnus würde sie noch mehr hassen, aber ihr blieb keine andere Wahl. Stumm ging sie neben Ragnar her.

Er führte sie ein paar Schritte weg von der Seewind und deutete in eine düstere, schmutzige Seitengasse. »Ich warte hier und passe auf, daß niemand kommt. Beeil dich.«

Sie nickte mit gesenktem Kopf, das Bild vollkommener Unterwürfigkeit und machte sich daran, an ihm vorbeizugehen. Plötzlich stolperte sie, schrie auf, als habe sie sich verletzt. Ragnar eilte ihr zu Hilfe. Und dann spürte er einen dumpfen Schlag und den stechenden Schmerz des harten Messergriffs an seiner Schläfe. Er sackte in sich zusammen. Ein letzter Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Für diese Dummheit bringt Magnus mich um.

Zarabeth stand keuchend über ihm, starrte schaudernd auf das Messer in ihrer Hand. Dann schleifte sie den Besinnungslosen weiter in die Gasse hinein und eilte lautlos wie ein Schatten den Kai entlang, weg von Ragnar, weg von der Seewind. Sie hatte einen Mann bewußtlos geschlagen. Der Gedanke, ihn möglicherweise getötet zu haben, jagte ihr Grauen ein. Doch sie mußte Lotti holen, sie retten und dann mit ihr aus York fliehen.

Sie erreichte Olavs Haus in der Abenddämmerung. Unterwegs war ihr kein bekanntes Gesicht begegnet. Sie schlich sich an das hintere Fenster und spähte hinein. Keith war nicht da, nur Toki. Und bei allen Göttern, mit Toki würde sie fertig werden. Wo aber war Lotti? Dann sah sie das Kind in einer Ecke kauern mit verschlossenem Gesicht, die wachsamen Augen auf Toki gerichtet, die sich am Herd zu schaffen machte. Zarabeth stockte der Atem. Hatte Toki der kleinen Lotti weh getan? Zumindest hatte sie das Kind erschreckt. Zarabeth war fest entschlossen, sich an Toki zu rächen.

Sie betrat Olavs Laden, schlug lautlos die Tierhaut zurück und ging leise zum Wohnbereich. Als sie das Fell zurückschlug, das die beiden Räume trennte, hob Toki mit einem Stirnrunzeln den Kopf; sie hatte Keith erwartet. Bei Zarabeths Anblick erbleichte sie. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch Zarabeth war schneller. Sie warf sich auf ihre Widersacherin, legte ihren Arm um Tokis Hals und schnürte ihr die Kehle zu.

»Hör zu, du verlogene Schlampe, du niederträchtiges Weib. Kein Laut, hast du verstanden!?« Zarabeths Arm drückte fest, sie hörte ein ersticktes Lallen, drückte noch fester und zischte in Tokis Ohr: »Du elende Hexe, ich weiß, daß du Olav getötet hast. Ich weiß, daß du es geschafft hast, Keith zum Schweigen zu bringen. Und du gehst straffrei aus. Aber Lotti bekommst du nicht. Ich will dich noch einmal ansehen, damit ich nie vergesse, wie das Gesicht einer Verräterin und Mörderin aussieht.«

Zarabeth drehte Toki zu sich, las das Entsetzen in den Augen der Frau. Sie lächelte. Mit großer Genugtuung versetzte Zarabeth der röchelnden Toki mit dem Messergriff einen wuchtigen Schlag gegen den Kopf. Die Frau sackte zu Boden, und Zarabeth sah das mit Freuden. Das war wohl die einzige Strafe, die Toki für den Mord an Olav erhalten würde. Immerhin etwas. Lotti lief mit ausgebreiteten Armen heran, leise wimmernd und Zarabeths Namen rufend. Zarabeth tröstete sie mit zärtlichen Worten und hob sie in ihre Arme. »Jetzt ist alles wieder gut, mein Liebling. Du bist in Sicherheit. Wir beide gehen von hier fort, und keiner darf dir etwas zuleide tun.«

Sie überlegte kurz, ob sie das Kleid wechseln sollte, doch dafür war keine Zeit. Sie mußte fliehen mit dem, was sie beide auf dem Leib trugen, auch wenn sie aussah wie eine zerlumpte Bettlerin.

Sie schlüpfte aus Olavs Laden, der nun Keith gehörte, und tauchte in die Schatten der anbrechenden Nacht. Sie sah niemand, hörte nur vereinzelt Menschen reden, lachen. Sie strebte dem südlichen Befestigungswall der Stadt zu. Dort gab es ein Tor, durch das sie heimlich die Stadt verlassen konnte.

Sie wechselte Lotti auf den anderen Arm. Lange würde sie das Kind nicht mehr tragen können. Sie verlangsamte ihre Schritte, hatte Seitenstechen, ihr Atem ging stoßweise.

Schon sah sie das Tor vor sich, an dem etwa ein halbes Dutzend Leute herumlungerten. Gottlob kannte sie keinen davon.

Ihr Blick war auf das Tor fixiert. Sie sah nichts anderes. Dann hörte sie seine tiefe Stimme hinter sich: »Deine Dummheit übersteigt alle Grenzen.« Und ihr war, als habe man ihr einen Schlag in den Magen versetzt. Sie schnellte herum. Magnus stand dicht hinter ihr, groß und mächtig.

Sie schrie gellend auf, drehte auf dem Absatz um und rannte blindlings auf das Tor zu.

Im Schatten der Mitternachtssonne
titlepage.xhtml
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_001.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_002.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_003.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_004.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_005.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_006.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_007.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_008.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_009.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_010.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_011.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_012.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_013.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_014.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_015.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_016.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_017.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_018.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_019.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_020.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_021.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_022.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_023.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_024.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_025.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_026.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_027.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_028.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_029.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_030.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_031.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_032.html
Wikinger_0_Im_Schatten_der_Mitt_split_033.html