19. KAPITEL

 

An jenem 26. September 1944, an dem Léon Le Gall mit seiner Familie in die Rue des Écoles zurückkehrte, endete am Senegal-Fluss wieder einmal die Regenzeit, als ob jemand den Wasserhahn zugedreht hätte. Die Nachricht von der Befreiung von Paris hatte sich in Windeseile in die hintersten Winkel Französisch-Sudans verbreitet, und wie von Zauberhand waren über Nacht die wichtigsten Einrichtungen der kolonialen Welt zu neuem Leben erwacht. Übers Land trafen wieder Eisenbahnzüge ein und über den Senegal-Fluss Dampfschiffe, und das Telefon funktionierte wieder, und die Post brachte Zeitungen.

Aber der Sonderzug, der Louise Janvier und das Gold abholen sollte, kam nicht.

Weil im Nachlass meines Großvaters keine weiteren Briefe von Louise zu finden sind, kann man nicht wissen, wie es ihr in jener Zeit ergangen ist. Man kann annehmen, dass sie sehnsüchtig auf den Zug wartete oder wenigstens auf einen Brief der Banque de France. Wahrscheinlich saß sie auf ihrem gepackten Koffer. Gut möglich, dass sie ihren Sonnenschirm, den Revolver und das Ersatz-Moskitonetz schon verschenkt hatte in Erwartung der baldigen Abreise. Gut möglich auch, dass sie sich das Haar für einmal nicht selbst abschnippelte, sondern an einem Sonntag eigens nach Kayes zum Friseur fuhr. Weiter kann man sich vorstellen, dass sie, als der Schlamm eingetrocknet und die Straße wieder befahrbar war, zum Kraftwerk von Félou hinausradelte und sich von den Brüdern Bonvin verabschiedete, und vielleicht unternahm sie mit ihnen einen vermeintlich letzten Spaziergang zu den Wasserbecken unterhalb der Stromschnellen, in denen die Nilpferde ihre Jungen aufzogen. Gut möglich auch, dass sie auf der Rückfahrt ihr Rad jenem jungen Dorfschullehrer namens Abdoullay schenkte, der bei den Sieben- bis Zwölfjährigen seines Dorfes eine Einschulungsquote von hundert Prozent erreicht hatte.

Und dann denke ich mir, dass jede Nacht, die sie noch in Giuliano Galianis Bett verbrachte, sich anfühlte, als ob es die letzte gewesen sei.

Aber der Sonderzug kam nicht.

Seit Radio und Funk wieder funktionierten, stolzierte Galiani zu allen Tages- und Nachtzeiten durch die Straßen, um die jüngsten Nachrichten zu verkünden. Er verkündete den Einmarsch des VII. und IX. US-Korps in Aachen und das Scheitern der deutschen Ardennenoffensive, dann die Bombardierung der Hamburger Treibstofflager und die Kapitulation Ungarns, und je länger sein persönliches Exil dauerte, desto schwärzer wurden seine halb italienischen, halb französischen Flüche auf diesen Hurensohn von einem Maresciallo de Gaulle und diese Cretini von der Banque de France, die sich verflucht nochmal verdammt viel Zeit damit ließen, ihn und dieses verschissene Hurengold endlich aus dem Arsch der Welt herauszuholen. Vielleicht hätte Galiani etwas leiser geflucht, wenn er gewusst hätte, dass de Gaulle und die Banque de France ihn nur deshalb in der Steppe vermodern ließen, weil im Mittelmeer noch immer einige bestens mit Treibstoff und Munition alimentierte deutsche U-Boote auf die Gelegenheit warteten, Galiani und das Gold auf den Grund der See zu versenken.

Im März 1945 endete die Trockenzeit, es wurde wieder heiß und feucht. Galiani holte seinen Regenschirm hervor und stapfte fluchend durch den Schlamm, vermeldete die Befreiung von Auschwitz und die Zerstörung von Dresden, hob anklagend die Arme gen Himmel und fragte die Geier in den Bäumen, weshalb um Jesumariawillen man ihn nicht endlich nach Hause fahren lasse. Louise saß auf ihrem Koffer und wartete. Galiani meldete die Konferenz von Jalta und den Brand im Führerbunker, den Prozess gegen Marschall Pétain und schließlich den Bombenabwurf von Nagasaki.

Aber der Sonderzug wollte nicht kommen.

Dann war wiederum ein Jahr vorbei, und einmal mehr hörte der Regen unvermittelt auf. Louise säbelte ihr Haar¸ das in der afrikanischen Hitze übrigens deutlich rascher wuchs als zu Hause, längst wieder selber ab. Der Schlamm trocknete aus, wurde hart und überzog sich mit einem Netz schwarzer Risse. Galiani verstaute seinen Regenschirm unter dem Bett im Wissen, dass in den nächsten sechs Monaten mit absoluter Sicherheit kein Tropfen Regen fallen würde. Louise fuhr an einem arbeitsfreien Tag mit der Eisenbahn nach Kayes, um auf dem Markt ein neues Moskitonetz und Ersatz für ihr altes Herrenfahrrad zu besorgen.

Und dann endlich kam der Sonderzug.

Vielleicht traf er tagsüber ein, vielleicht auch in der Nacht; wenn es so war, konnte Louise die Lokomotive frühmorgens nach dem Aufstehen von ihrem Fenster aus sehen, wie sie einen Steinwurf entfernt schnaubend und rauchend vor dem Prellbock stand. Wie viele Güterwagen angehängt waren, ist nicht bekannt, ebenso wenig, ob eine oder mehrere Fahrten nötig waren, um das Gold zurück nach Dakar zu schaffen. Aus den Annalen der Banque de France geht lediglich hervor, dass im Hafen von Dakar dreihundertsechsundvierzig Komma fünfdreifünf Tonnen Gold auf die Île de Cléron umgeladen wurden und dass das Schiff am 30. September 1945 in See stach. Falls alles glatt lief und die atlantischen Herbststürme nicht allzu heftig waren, müsste die Île de Cléron um den 12. Oktober im Hafen von Toulon eingelaufen sein.

Ich stelle mir vor, wie Louise über die Gangway auf den Pier hinunterstieg und nach fünfjähriger Abwesenheit wieder französischen Boden betrat, braungebrannt und schlank wie als junges Mädchen, nur dass ihr Haar jetzt grau war. Gewiss hat sie die Gefährten ihrer letzten fünf Jahre zum Abschied auf die Wangen geküsst, den Funker Galiani, der hinter der Zollstation von seiner Ehefrau erwartet wurde, vielleicht ein bisschen länger als die anderen. Und weil sie nur Handgepäck mit sich führte und die anderen auf ihre Überseekoffer warten mussten, ist sie rasch fortgegangen im Wissen, dass sie keinen von ihnen jemals wiedersehen würde.

 

Vielleicht war es später Nachmittag, als sie mit ihrem Koffer durch die Avenue Henri Pastoureau hinauf zum Bahnhof ging, und vielleicht hat sie unterwegs in einer Konditorei ihren ersten Eclair au Chocolat seit langer Zeit gekauft. Dann könnte sie abends um halb neun in Marseille Saint-Charles den Nachtzug nach Paris erreicht haben, und dann müsste sie am folgenden Morgen kurz vor acht in Paris eingetroffen sein.

Ich glaube nicht, dass Louise bei der Einfahrt in die Gare de Lyon ungeduldig an der offenen Waggontür stand und den Kopf in den Fahrtwind hielt. Ich glaube nicht, dass sie im Laufschritt die Bahnhofshalle durchmaß, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich tatsächlich, wie sie es in ihrem letzten Brief angekündigt hatte, in ein Taxi stürzte und auf direktem Weg in die Rue des Écoles fuhr.

Ich glaube vielmehr, dass sie still in ihrem Abteil dritter Klasse sitzen blieb, bis alle Fahrgäste ausgestiegen waren, und dass sie dann leise und behutsam, zaghaft beinahe, auf den Bahnsteig hinunterstieg, im Licht jenes heiteren Herbsttags Schritt für Schritt durch die Bahnhofshalle ging und aufs Kopfsteinpflaster des Boulevard Diderot hinaustrat, der schon wieder summte und brauste vom Strom der Busse, Autos und Lastwagen, als hätte es nie einen Krieg gegeben.

Ich stelle mir vor, dass Louise den Boulevard überquerte und geradeaus weiterging durch die Rue de Lyon, überwältigt von der unfassbaren Unversehrtheit der Häuserzeilen links und rechts. Bei der Bastille setzte sie sich in ein Straßencafé, bestellte einen Milchkaffee und einen Croissant und nahm eine Zeitung zur Hand, und dann warf sie vielleicht einen beiläufigen Blick auf die Hausboote im Arsenal-Hafen, die sich friedlich in der Brise wiegten.

Danach schlenderte sie weiter durch den kühlen Morgen mit ihrem Köfferchen wie eine Touristin, immer geradeaus durch die Rue Saint-Antoine und die Rue de Rivoli, und nach einer Weile gelangte sie, als wär’s ein Zufall, zum Hauptsitz der Banque de France. Sie stieg die weit ausladende Treppe hinauf zum Eingangsportal, ging beiläufig grüßend am Portier vorbei, der immer noch oder schon wieder diese schnauzbärtige Type namens Darnier war, und verschwand im Halbdunkel eines langen Flurs wie schon tausendmal zuvor, um sich bei ihren Vorgesetzten zurück zum Dienst zu melden.

Ich stelle mir vor, dass sie erst ein paar Tage später in die Rue des Écoles fuhr. Ich glaube, dass sie zuallererst das Hotelzimmer bezog, das die Bank ihr fürs Erste besorgt hatte, und dass sie erst einmal neue Wäsche und Kleidung kaufte, ihre Fingernägel in Ordnung brachte und beim Zahnarzt jenen Backenzahn oben links flicken ließ, der ihr schon eine ganze Weile Schmerzen bereitete. Dann ging sie zum Friseur und ließ sich das Haar schneiden; färben aber ließ sie es nicht, da bin ich sicher.

Ich stelle mir vor, dass Louise ihren Besuch in der Rue des Écoles auf den späten Vormittag legte und dass sie im Taxi vorfuhr, weil sie noch keinen eigenen Wagen hatte. Ich stelle mir vor, dass drinnen im Haus Madame Rossetos aufhorchte, als draußen eine Autotür zugeschlagen wurde, und dass sie einen Blick in den Spiegel warf, der ihr über zwei weitere Spiegel einen Blick vor die Haustür gestattete. Dann hievte sie sich aus ihrem Sessel beim Kohleofen, um ihre Pflicht als Hausdrache zu erfüllen.

»Sie wünschen?«

»Zu den Le Gall, bitte.«

»Worum geht es?«

»Die Le Gall wohnen doch noch hier?«

»Worum geht es, bitte?«

»Um einen persönlichen Besuch.«

»Sind Sie angemeldet?«

»Leider nein.«

»Wen darf ich melden?«

»Hören Sie …«

»Laut Hausordnung haben Unbekannte ohne Anmeldung keinen Zutritt zum Gebäude.«

»Sind die Le Gall noch hier?«

»Tut mir leid.«

»Ich bin soeben aus Afrika zurückgekehrt.«

»Aus Sicherheitsgründen kann ich leider keine Ausnahme machen, das müssen Sie … aus Afrika?«

»Französisch-Sudan.«

»Dann sind Sie …«

»Welche Etage, bitte?«

 

Die Wohnungstür stand eine Handbreit offen.

Louise klingelte.

»Wer ist da?«

»Louise.«

»Wer?«

»Louise.«

»WER?«

»LOUISE JANVIER!«

»DIE KLEINE LOUISE?«

»Genau.«

»Na sowas.«

»Ja.«

»Kommen Sie herein. Geradeaus durch den Flur, ich bin im Wohnzimmer.«

 

Louise stieß die Tür auf und zog sie hinter sich zu, und nach ein paar Schritten stand sie im Wohnzimmer, das sie so oft durchs Fernglas betrachtet hatte. In Léons Lesesessel am Fenster saß Yvonne – Louise hätte sie nicht wiedererkannt, aber es konnte niemand anderes sein. Ihre Füße steckten in karierten Hausschuhen, und ihre Unterschenkel waren geschwollen, und ihr Hals war von einer dicken Speckrolle umhüllt, und ihr Haar fiel ihr strähnig auf die Schultern.

»Léon ist nicht da.«

»Sie sind allein?«

»Die Kinder sind in der Schule.«

»Das ist gut«, sagte Louise. »Ich bin Ihretwegen hier.«

»Dann nehmen Sie Platz. So sehen Sie also aus. Ganz wie auf der Fotografie, die Sie aus Afrika geschickt haben.«

»Die Haare sind weiß geworden.«

»Die Zeit läuft. Auf den Fotos ist man immer jünger als in natura.«

»Da kann man nichts machen.«

»Sie schminken sich nicht.«

»Sie auch nicht.«

»Schon lange nicht mehr«, sagte Yvonne. »Und in letzter Zeit habe ich wohl etwas zugenommen.«

»Geht es Ihnen gut?«

»Ach, wissen Sie, am liebsten sitze ich einfach hier am Fenster in der Sonne wie eine Stubenkatze. Wenn ich müde bin, schlafe ich, und wenn ich Hunger habe, esse ich. Eigentlich habe ich ständig Hunger und bin dauernd müde. Wenn ich grad nicht schlafe.«

»Sie gehen überhaupt nicht mehr aus dem Haus?«

»Nicht, wenn ich es vermeiden kann. Ich bin so viel umhergerannt all die Jahre, jetzt will ich nur noch hier an der Sonne sitzen. Alles andere ist mir egal. Und wie geht es Ihnen?«

»Ich meinerseits habe so viel an der Sonne gesessen in den letzten Jahren …«

»Und essen will ich. Während so langer Zeit habe ich gefastet, jetzt will ich mal ordentlich futtern. Ich habe hier Himbeerkuchen und Schlagsahne, wollen Sie was abhaben?«

 

So saßen die beiden Frauen beisammen in der Herbstsonne und aßen Himbeerkuchen. Sie aßen langsam und schweigsam, und sie reichten einander Zucker, Schlagsahne und Servietten. Gelegentlich sagte die eine etwas, und die andere hörte zu, und dann schwiegen sie wieder und lächelten.

Louise erbot sich, in die Küche zu gehen und Kaffee zu machen, und Yvonne sagte, das wäre reizend von ihr. Unterdessen holte sie den Calvados und zwei Gläschen aus der Kommode und schnitt nochmal zwei große Stücke Himbeerkuchen ab. Die Standuhr auf der Kommode tickte. Es war schon elf Uhr vorbei, in einer Stunde würden die Kinder nach Hause kommen. Die Frauen schwiegen, aßen und tranken.

»Und Léon?«, fragte Louise schließlich. »Geht es ihm gut?«

»Unverschämt gut«, sagte Yvonne. »Sie werden sehen, er hat sich kaum verändert.«

»In all den Jahren nicht?«

»In all den Jahrzehnten nicht. Ich weiß nicht, ob Menschen sich im Leben überhaupt verändern, aber diese Le- Gall-Männer ändern sich ganz gewiss nicht. Sogar der Krieg geht an denen spurlos vorbei. Unsereiner hat ja einige Verschleißerscheinungen, und die Garantie auf die Originalteile ist wohl abgelaufen. Aber Léon? Der ist unverwüstlich. Rostfrei und leicht instand zu halten, sage ich immer. Wie eine landwirtschaftliche Maschine.«

Louise lachte, und Yvonne lachte mit ihr.

»Sein Haar ist ein bisschen schütter geworden«, fuhr Yvonne fort, »und seine Zehennägel sind seit ein paar Jahren merkwürdig gerillt. Kennen Sie das, diese Längsrillen auf den Nägeln, haben andere Männer das auch?«

»Die meisten, von einem gewissen Alter an«, sagte Louise.

»Und dass sie frühmorgens beim Aufstehen seufzen?«

»Auch das«, sagte Louise.

»Früher hat er das nie getan, aber jetzt seufzt er.«

»Lacht er noch?«

»Finden Sie, dass er früher viel gelacht hat?«

»Nicht sehr laut.«

»Léon lächelt eher.«

»Vor allem, wenn er sich unbeobachtet glaubt.«

»Sie sollten ihn besuchen, er würde sich freuen.«

»Meinen Sie?«

»Unbedingt. Was ist schon dabei, nach so vielen Jahren.«

»Wann soll ich kommen?«

»Nicht hier. Gehen Sie zum Arsenal-Hafen, dort hat er ein Boot. Es ist blauweiß angemalt und heißt Fleur de Miel. Der Kindskopf hat auf seiner Pinasse die Flagge der Basse Normandie gehisst. Die zwei goldenen Löwen auf rotem Grund, Sie wissen schon, Wilhelm der Eroberer, darunter macht er’s nicht. Jederzeit bereit, den Ärmelkanal zu überqueren und England zu erobern mit seiner Dieselpinasse.«