10. KAPITEL
Der Schnellzug nach Boulogne fuhr hinaus in die Picardie. Léon saß allein in einem überheizten Abteil zweiter Klasse und versuchte die Nachmittagsausgabe des Aurore zu lesen, schaute aber alle paar Augenblicke hinaus ins herbstlich braune Land. Nur kurz hatte er, als er seine Frau im Park zurückgelassen und auf den Boulevard Saint-Michel zurückgekehrt war, in Erwägung gezogen, bei den Kollegen vom Kommissariat vorbeizuschauen und Louise mit polizeilichen Mitteln suchen zu lassen; dann aber war ihm klar geworden, dass daraus nichts Gutes entstehen konnte. Erstens hätte er sich zum Gespött seiner Kollegen gemacht, zweitens wäre die Fahndung, falls sie entgegen allen Erwartungen tatsächlich aufgenommen worden wäre, mit größter Wahrscheinlichkeit ergebnislos geblieben, und drittens hätte Louise, falls sie tatsächlich aufgestöbert worden wäre, es gewiss nicht sehr romantisch gefunden, wenn der lang verlorene Jugendfreund ihr nach zehn Jahren Trennung als erstes Lebenszeichen eine Horde uniformierter Polizisten auf den Hals gehetzt hätte.
Also hatte Léon beschlossen, Louise auf eigene Faust zu suchen. Zwar waren ihm, der seine Tage in der Abgeschiedenheit des Labors verbrachte, die Fahndungsmethoden der Police Judiciaire nur in vagen Zügen bekannt; eine Grundregel der Kriminalistik aber – dass der Täter oft an den Tatort zurückkehrt – war ihm geläufig. Und da Louise und er in diesem Fall beide gewissermaßen Täter, Komplizen sowie Opfer und Fahnder zugleich waren, fuhr er mit der Métro an die Gare du Nord und kaufte einen Fahrschein nach Le Tréport. Die direkte Strecke über Epiney war in jenem September 1928 wegen Bauarbeiten gesperrt, er musste einen Umweg über Amiens und Abbeville machen.
Wie die meisten Städter verließ Léon die Stadt nur selten. Zwar schwor er wie alle Pariser bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er, wenn es nur möglich wäre, den Lärm, den Schmutz und die Hektik der Lichterstadt leichten Herzens hinter sich lassen würde für ein stilles, friedfertiges Leben irgendwo in der Provinz und dass er die Opéra, die Bibliothèque Nationale und alle Lichtspieltheater von Paris freudig eintauschen würde gegen ein Glas Burgunder in der Sonne des Südens, eine Partie Pétanque unter Freunden und einen langen Spaziergang durch Wälder und Rebberge mit seinem Hund, den er sich dann zulegen würde und der vielleicht ein schwarzweißer Cocker-Spaniel namens Casimir oder Patapouf wäre.
Weil es aber für Léon in den Rebbergen des Südens keine Arbeit gab und er sich insgeheim wie alle Pariser darüber im Klaren war, dass er sich in der Provinz binnen kürzester Frist zu Tode langweilen würde, harrte er in der ungeliebten Stadt aus. Ein oder zwei Mal während der schönen Jahreszeit fuhr er mit Frau und Kind an Bord eines Bateau Mouche die Seine hinunter und hielt im Wald von Saint-Germain-en-Laye ein Picknick ab, und zwischen Weihnachten und Neujahr nahm er die Bahn nach Cherbourg, um Mutter und Vater zu besuchen. Die übrigen dreihundertfünfzig Tage verbrachte er innerhalb der Stadtgrenzen, wobei er an rund dreihundert Tagen von der Stadt selbst nicht viel mehr zu sehen bekam als die paar Straßenzüge zwischen der Rue des Écoles und dem Quai des Orfèvres.
Léon wunderte sich wieder einmal, wie unvermittelt am Stadtrand das Häusermeer abbrach und das grün-braune Wogen der Weiden, Wiesen und Äcker einsetzte. An der Porte de la Chapelle standen neben den Schienen noch ein paar Fabriken und Lagerhallen, am Ufer der Seine einige Schuppen und Scheunen; gleich hinter dem Gasometer von Saint-Denis aber, wo noch dichter, träger Rauch aus den Hochkaminen quoll, trieb schon ein Bauernbub Kühe auf die Weide, strebte eine schnurgerade Pappelallee zum Horizont und bogen sich goldgelbe Weiden unter dem scharfen Nordostwind.
Léon empfand den dringenden Wunsch, am nächsten Bahnhof auszusteigen, irgendein Fahrrad zu kaufen – oder noch besser: zu stehlen – und unter freiem Himmel, an der frischen Luft, im Regen und gegen den Wind ans Meer zu fahren. Der Hintern würde ihn schmerzen wie damals, er würde Muskelkater bekommen wie damals, er würde unterwegs seltsames Zeug einsammeln und den Horizont im Auge behalten in der irren Hoffnung, dass dort ein Mädchen mit rotweiß gepunkteter Bluse und quietschendem Fahrrad auftauchte. Er würde Brot und Schinken kaufen und Wasser vom Brunnen trinken, sich hinter den Hecken erleichtern wie ein Bauernbub und bei Gewitter in leeren Scheunen Zuflucht suchen wie ein Landstreicher – und es würde alles sinn- und aussichtslos und eine miese kleine Dummheit sein; unwürdig seiner Yvonne, unwürdig seiner Louise und unwürdig seiner selbst.
Die Fahrt dauerte zwei Stunden und fünfunddreißig Minuten. Zwischen Amiens und Abbeville folgte die Schiene jener gepflasterten Landstraße, über die Louise und Léon damals gefahren waren. Er glaubte sich dieses Bauernhofs oder jener Getreidemühle zu erinnern, vielleicht auch einer einsamen Linde oder einer besonders hübschen Villa, und hielt angestrengt Ausschau nach dem einen Hügelzug, an dem Louise und er, nur einen Steinwurf voneinander entfernt, jeder für sich in einem Bombentrichter gelegen hatten. In den zehn Jahren seit Kriegsende waren die augenfälligsten Spuren kriegerischer Verwüstung verschwunden; die Menschen hatten die Straßen repariert und die Häuser neu gebaut, und die Natur hatte die Schützengräben eingeebnet und die Bombenkrater gnädig grün bedeckt.
In Abbeville stieg er um in das Touristenbähnchen, das ihn in holpriger Fahrt nach Le Tréport brachte. Er war der einzige Fahrgast außer ein paar Schülern und einem Mädchen in Holzschuhen, das einen Korb Weißkohl auf dem Schoß hatte. Der Straßenbahn war anzusehen, dass in den Jahren von Krieg, Inflation und Wirtschaftskrise die Pariser Sommerfrischler ausgeblieben waren; die lila Sitzpolster waren abgewetzt und zerschlissen und die Fensterscheiben trüb, die Lederriemen rissig und die Chromstangen blind, und das Gleis war verbogen, und zwischen den Schienen wuchs Unkraut. Unterwegs stieg niemand zu und niemand aus. Erst an der Endstation am Quai François 1er polterten die Schüler ins Freie, das Mädchen mit den Holzschuhen schlurfte hinterher.
Auf dem Hafenquai schaute Léon sich um, als bestände die geringste Aussicht, dass aus einer Seitengasse, in einem Fenster, an Bord eines Fischerboots ein Mädchen mit grünen Augen auftauchte. Bei jenem Kandelaber dort hatten sie damals ihre Räder abgestellt, ungefähr bei diesem Poller hatte sie sich bei ihm eingehängt. Hier hatte sie die weißen Fettstreifen ihres Schinkenbrots ins Hafenbecken geworfen, dort hatte sie ihm mit spitzen Fingern ihren letzten Bissen in den Mund geschoben, und da hatte sie über die gezuckerten Arschgesichter der Sommerfrischler geschimpft. Von diesem Brunnen hatte sie Wasser getrunken, über diese Pflastersteine, zwischen denen nun Gras und Moos wuchs, war sie mit ihren schwarzen, ausgetretenen Schnürschuhen gegangen.
Die Touristenboote, die damals fauchend und dampfend ein- und ausgefahren waren, lagen nun fest vertäut an der Hafenmauer und hatten Algen am Rumpf und Bretter vor den Luken. Auf dem Quai sah man keine weißen Sonnenschirmchen, keine rosa Bottinen und keine gleißenden Gamaschen mehr, sondern verhutzelte Möwen, struppige Hunde und eine Horde barfüßiger Buben, die mit einer leeren Dose Fußball spielten. Nur die Fischer waren immer noch da und brachten ihre Netze in Ordnung, rauchten ihre Pfeifen und strichen sich mit knotigen Händen über ihre furchigen Nacken.
Léon ging hinaus zum Leuchtturm, setzte sich auf die Mauer und rutschte nach links und nach rechts, bis er die deutliche Empfindung hatte, Louises Platz gefunden zu haben. Dann legte er die Hände aufs Gemäuer und streichelte die Steine. Plötzlich bemerkte er, dass er hungrig war; er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
Das Café du Commerce, in dem Louise ihm den Unterschied zwischen reichen und armen Langweilern dargelegt hatte, war geschlossen. Fenster und Türen waren vergittert, vor dem Eingang lag angewehtes Herbstlaub und vergilbtes Zeitungspapier. Ein gelber Hund scharwenzelte vorbei, hob eine Hinterpfote und urinierte, auf drei Beinen weiterhumpelnd, an der Hauswand entlang.
Léon überholte ihn und ging vorbei an einem zugesperrten Fachgeschäft für Spitzenklöppeleien, dann an einem geschlossenen Kiosk, einem windschiefen Wohnhaus und einem bunt bemalten Laden, der Aux Quatres Vents hieß und früher Strandspielsachen verkauft hatte. Dahinter gab es eine Eisenwarenhandlung, in der Licht brannte. Léon stieß die Tür auf und ging hinein, kaufte einen blau emaillierten Kochtopf und stieg die Rue de Paris hinauf, wo er damals Brot, Wein und Gemüse besorgt hatte.
Eine Stunde später saß er zwischen den zwei Felsblöcken, die massig, unverrückbar und unverändert am Ende des Strands lagen. Es war Ebbe, die Brandung warf sich kraftlos und mürrisch gegen den grauen Kieselstrand, und die Möwen spielten mit dem Aufwind. Erst jetzt wurde Léon bewusst, wie lange schon und wie sehr er ihr Gekreisch vermisst hatte. Er stocherte in der Glut seines Lagerfeuers, legte Treibholz nach und rührte im Kochtopf, der bis zum Rand gefüllt war mit Miesmuscheln, Karotten, Zwiebeln und Meerwasser.
Die Kirchturmglocke schlug fünf, dann folgte das ferne Bimmeln der Straßenbahn; Léon hatte den Fahrplan studiert und wusste, dass es die letzte eintreffende Bahn des Tages war und dass der letzte Zug zurück nach Paris in einer knappen Stunde fahren würde.
Er schaute über den Kieselstrand, auf dem algenbesetzt und verblätternd die einstmals weißen Badehäuschen vermoderten. Dahinter standen die vornehmen Villen, die zwar noch frisch getüncht waren und tapfer Haltung bewahrten, mit ihren verschlossenen Fenstern und starr herunterhängenden Gardinen aber aussahen, als hätte es ihnen den Atem verschlagen vor Schreck über den Gang der Dinge in der Welt. Am entgegengesetzten Ende der Esplanade, in der Häuserlücke zwischen dem Hotel des Anglais und dem Spielcasino, musste, wenn sie heute noch Miesmuscheln essen wollte, in den nächsten Minuten Louise auftauchen.
Nachdem die Kirchturmglocke Viertel nach fünf Uhr geschlagen hatte, nahm Léon den Topf vom Feuer und begann zu essen. Erst aß er zögerlich und mit häufigen Seitenblicken zur Esplanade, dann aber rasch und entschlossen. Die leeren Schalen warf er auf den Strand. Dann ging er ans Wasser, wusch den Topf aus und legte ihn mit der Öffnung nach unten neben die Feuerstelle.
Auf dem Rückweg ging er nicht über den Strand, sondern auf direktem Weg über die Esplanade zurück zur Rue de Paris und hinauf zur Eglise Saint-Jacques. Die Madonna stand noch immer in ihrer Nische rechts neben dem Eingang. Ihre roten Wangen waren dieselben wie damals und die schwarzen Knopfaugen auch, nur das blaugoldene Gewand war ein wenig angegraut, und ihre Gestalt war nicht mehr gespickt mit gefalteten und gerollten Zettelchen; neu stand zu ihren Füßen eine Kasse, in die man Spenden für die Witwen ertrunkener Seeleute einwerfen konnte.
Léon erwog, sich vor der Madonna hinzuknien und versuchsweise ein Gebet zu murmeln; da er nicht sicher war, auch nur das Vaterunser lückenlos bis zum Ende hin aufsagen zu können, entschied er sich dagegen und warf eine Münze in die Kasse. Dann zog er sein Notizbuch hervor, schrieb ein paar Zeilen und riss die Seite heraus, rollte sie zusammen und steckte sie genau wie damals der Madonna unter die rechte Achsel.
Weil aber sein Zettelchen das einzige war, sah es unter Marias Achsel aus wie ein Thermometer, die Muttergottes schien Fieber zu haben. So zog er das Röllchen wieder heraus und steckte es ihr hinters Ohr, wo es aber aussah wie ein Schreinerbleistift. In den Falten des blauen Gewands wirkte es wie ein Dolch, zwischen den Lippen der Madonna wie eine Zigarette und zu ihren Füßen wie ein Knochen, den ein Hund herbeigeschleppt hatte. Schließlich steckte er den Zettel wieder unter die rechte Achsel, lief ins Freie und hinunter zum Hafen. Wenn er die letzte Straßenbahn erwischen wollte, musste er sich beeilen.
Viel zu früh saß Léon drei Tage später auf der Terrasse des Café de Flore. Es war Samstagnachmittag, der Boulevard Saint-Germain war voller Flaneure und Touristen. Drei Tassen Kaffee hatte er schon getrunken und fünf Zeitungen zwei Mal flüchtig durchgeblättert, und noch immer musste er zwanzig Minuten totschlagen, bis es endlich siebzehn Uhr wurde. Er knöpfte seine Jacke zu und wieder auf, streckte die Beine aus und zog sie wieder unter den Stuhl, fragte einen Sitznachbarn nach der genauen Uhrzeit und stellte seine Taschenuhr drei Minuten nach. Dann faltete er die Zeitungen ordentlich zusammen und stapelte sie aufeinander, und die ganze Zeit behielt er den Strom der Menschen im Auge.
Eigentlich saß er gegen seinen Willen da. Es war seine Frau Yvonne gewesen, die ihn genötigt hatte, diese Verabredung einzuhalten, von der er nicht einmal sicher war, ob es eine war. Als er vor zwei Tagen spätabends aus Le Tréport in die Rue des Écoles zurückgekehrt war, hatte er es wider Erwarten geschafft, unbemerkt an der Conciergerie vorbeizuschleichen. Im Treppenhaus auf dem Zwischenboden aber hatte Yvonne ihn erwartet, reisefertig mit Hut und Mantel und einem Koffer zu ihren Füßen. In der Faust hielt sie ein zerknülltes Taschentuch, das sie sich vor den Mund presste.
Léon wunderte sich wiederum; das war nicht die beschwipste Lebedame mit rosa Sonnengläsern, die er am Mittag im Park zurückgelassen hatte, auch nicht das trällernde junge Mädchen und auch nicht die zerquälte Hausfrau – diesmal war Yvonne eine griechische Tragödin, zu jedem Opfer bereit.
»Und?«, fragte sie.
»Nichts«, hatte er geantwortet und ihr den Koffer abgenommen. »Ich bin ein Idiot, verzeih mir.«
»Was?«
»Ich bin an den Strand von Le Tréport gefahren. Wie damals, verstehst du. Es war nur eine Idee. Lass uns bitte hineingehen.«
Und nachdem er ihr alles erzählt hatte, hatte sie sich mit dem Taschentuch die Augen abgewischt und gesagt: »Übermorgen um siebzehn Uhr im Café de Flore?«
»Ja, aber …«
»Nichts aber. Du wirst da hingehen, Léon, hörst du mich? Nur um sicherzugehen. Du musst es tun, ich will es so.«
Es war schon zehn Minuten nach fünf, als er Louises Anwesenheit spürte. Er konnte sie nicht sehen und nicht hören, nur fühlen wie einen Luftzug, der durch die Straße zog, oder wie einen Lichtschein, der auf die Häuser fällt, wenn die Wolken sich verziehen. Léon sah sich suchend um und musterte die Gäste im Café, ließ den Blick über die Fenster der gegenüberliegenden Fassade schweifen und behielt gleichzeitig die Passanten auf den Trottoirs im Auge.
Da fiel ihm ein hübscher, ein wenig verbeulter Wagen auf, der mit laufendem Motor auf der anderen Seite des Boulevards auf der Place du Québec stand. Es war ein lindgrüner Peugeot Torpedo 172, leicht zu erkennen am spitz zulaufenden Heck, dem er seinen Namen verdankte. Léon hatte sich vor ein paar Jahren in den eleganten und schnellen Zweisitzer vergafft, als er in den Straßen von Paris Mode geworden war, und eine Weile hatte er heimlich Berechnungen darüber angestellt, wie viele Monate er ein Viertel, ein Drittel oder ein Fünftel seines Lohnes würde beiseitelegen müssen, um die Anzahlung leisten zu können.
Da er aber ein vernünftiger Mensch war, hatte er nie die Tatsache aus den Augen verloren, dass es für ihn als Familienvater keinen vertretbaren Grund gab, ein Viertel, ein Drittel oder ein Fünftel seines Lohnes für einen Zweisitzer auszugeben. Seine Frau hatte sich zuweilen lustig gemacht über die sehnsüchtigen Blicke, mit denen er den vorüberziehenden Torpedos folgte, und er hatte dann stets behauptet, sein Blick habe gar nicht dem Auto, sondern einer schönen Frau auf der anderen Straßenseite gegolten.
Léon hatte den Torpedo nicht ankommen sehen, also musste er schon eine Weile dort stehen. Das Verdeck war geschlossen, der Auspuff rauchte, hinter der spiegelnden Windschutzscheibe zeichnete sich dunkel ein Schemen ab. Die kleinen runden Scheinwerfer über den ramponierten Kotflügeln schienen ihm zuzuzwinkern, das schwarze runde Loch des verbeulten Kühlergrills ihm etwas zuzurufen, und das ganze Wägelchen schien zu beben in der ungeduldigen Erwartung, dass Léon endlich aufstehen, die Straße überqueren und bei ihm einsteigen möge.
Zögernd erhob er sich, legte mit der einen Hand Geld auf den Tisch und hob die andere versuchsweise zum Gruß – da sprang die verbeulte Beifahrertür auf, und auf der Fahrerseite winkte ihn ein Frauenarm herbei.
Léon stand erst mit einem Fuß im Wagen und mit dem anderen noch auf dem Trittbrett, als der Torpedo anfuhr und sich elegant in den Verkehrsstrom des Boulevard Saint-Germain einfügte. Während er sich auf die Sitzbank fallen ließ, öffnete er den Mund, um Louise zu grüßen, brachte dann aber keinen Ton über die Lippen, weil ihm ein schlichtes, alltägliches »Bonjour« oder »Salut« in dieser außergewöhnlichen Situation zu banal erschien.
Also war es Louise, die das Wort ergriff. »Wir werden jetzt keine Küsschen austauschen«, sagte sie. »Wir werden einander nicht um den Hals fallen, einverstanden? Wir werden keine tränennassen Gesichtchen bekommen und sie einander nicht gegenseitig abtrocknen, und wir werden keine Herzen in tausendjährige Linden schnitzen und uns nicht ewige Liebe schwören.«
»Wie du willst«, sagte Léon.
Louise trug einen Lederhelm und eine Autobrille mit grünen Gläsern. Sie gab kräftig Zwischengas, schaltete energisch vom zweiten in den dritten Gang und bog scharf rechts ab in die Rue Bonaparte.
Während der Torpedo übers regennasse Kopfsteinpflaster schlitterte, verkeilte Léon sich mit Armen und Beinen zwischen Armaturenbrett und Beifahrertür. Zu seinen Füßen lag ein blau emaillierter, leicht rußgeschwärzter Topf. Louise bediente den Wagen mit präzisen, raschen Handgriffen, ihr Gesicht leuchtete.
»Hör auf zu glotzen. Schau lieber auf die Straße.«
»Ich glotze nicht, ich schaue nur. Einen schicken Wagen hast du.«
»Vier Zylinder, macht problemlos sechzig Kilometer pro Stunde.«
»Ich weiß«, sagte er. »Der Torpedo hat vor ein paar Jahren die Coupe des Alpes gewonnen.«
»Zweimal in Folge. Ich habe ihn mir zu meinem Dienstjubiläum bei der Banque de France geschenkt. Er war günstig im Preis, ein paar Dellen hatte er schon.«
»Der Name passt aber nicht recht.«
»Wieso?«
»Weil ein Torpedo die Spitze vorn und nicht hinten hat.«
»Wenn du willst, kann ich gern im Rückwärtsgang durch die Gegend fahren.«
»Du arbeitest bei der Banque de France?«
»Seit fünf Jahren.«
»Respekt.«
»Nein. Man behandelt mich dort wie die letzte Tippmamsell.«
»Wieso?«
»Weil ich die letzte Tippmamsell bin. Den ganzen Tag tippe ich Durchschläge von Tabellenkalkulationen ab und muss jeweils fünf Durchschläge erstellen.«
»Deswegen der Torpedo?«
»Genau.«
»Fahrrad fährst du nicht mehr?«
»Wenn ich irgendwo hinmuss, nehme ich das Auto. Und wenn ich nirgends hinmuss, nehme ich auch das Auto.«
»Und wenn du ans Meer fährst?«
»Dann nehme ich erst recht das Auto.«
»Wieso habe ich dich dann in der Métro gesehen?«
»Da war der Wagen in der Reparatur.«
»Du arbeitest am Hauptsitz?«
»An der Place de la Victoire.«
»Ich bin seit zehn Jahren am Quai des Orfèvres. Das ist nur ein paar hundert Meter entfernt.«
»Tja«, sagte Louise. »Da haben wir uns ein paar Jahre lang ziemlich nah beieinander die Hintern plattgesessen. Das nennt man Pech.«
»Ja.«
»Jetzt lass uns erst mal schweigen. Wir fahren ein Stück aus der Stadt hinaus, wenn’s dir recht ist. Später werden wir reden.«
Louise schaltete vom dritten in den vierten Gang und fuhr mit durchgedrücktem Gaspedal am Jardin du Luxembourg entlang, dann weiter südwärts am Observatorium vorbei in die Avenue d’Orléans. Sie ließ die linke Hand über die Autotür baumeln und lenkte den Wagen mit der rechten Hand, überholte Pferdefuhrwerke und Autobusse links und rechts, wo sich grad eine Lücke auftat, und wo die Straße über eine Kreuzung führte, schlingerte sie mit Höchstgeschwindigkeit zwischen Fußgängern, Fahrrädern und Autos hindurch. Wenn ein Bus oder Lastwagen keinen Platz machte, drückte sie auf die Hupe und fluchte, krakeelte und schimpfte, bis dieser erschrocken zur Seite wich, und wenn sie dann durch die Lücke preschte, streckte sie den Arm aus dem Fenster und machte dem überholten Fahrer Handzeichen, die im Normalfall, wenn sie unter Männern ausgetauscht werden, zu einer Prügelei führen.
Léon schaute mit begeistertem Entsetzen den todbringenden Hindernissen entgegen, die links und rechts am Torpedo vorüberflogen, und warf Seitenblicke auf Louise, die nun, da der Verkehr nicht mehr so dicht war und die Straße hinaus auf Wiesen und Felder führte, ihren schönen Kopf in den Nacken gelegt hatte und unter halbgeschlossenen Lidern nach vorne schaute.
Den Lederhelm und die Autobrille hatte sie abgelegt. In ihrem Mundwinkel lag die Ahnung eines Lächelns, das Kinn reckte sie erwartungsvoll nach vorn, und ihr Hals hatte einen Anschein von Weichheit, den er früher nicht gehabt hatte. Eine feine Falte zog sich von der Kuhle unter ihrem Ohr zur Kehle hin, was ihrer noch immer mädchenhaften Erscheinung zusammen mit den Silberfäden über der Schläfe eine frauliche Würde gab. Um ihre Augen spielte ein zwinkernder Zug von Ironie, von dem Léon gern gewusst hätte, ob er den anderen Verkehrsteilnehmern galt oder ihrem plötzlichen Beisammensein in der Beengtheit des kleinen Sportwagens. Ihre Hände ruhten nun auf dem Lenkrad. Léon bemerkte, dass sie keinen Ring trug.
»Jetzt hör schon auf zu glotzen«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »In einer halben Stunde halten wir an, dann können wir reden.«