8. KAPITEL
Seit jenem Tag waren zehn Jahre vergangen. Léon war ein noch immer junger Mann von achtundzwanzig Jahren. Sein Haar war vielleicht nicht mehr ganz so voll wie damals, aber seine Gestalt war leicht und jugendlich, und auf der Treppe zur Métrostation nahm er, auch wenn er nicht in Eile war, nach wie vor zwei Stufen aufs Mal, manchmal sogar drei.
Er legte Kleingeld in die Messingschale und nahm seinen Fahrschein, ging am automatischen Portillon vorbei und die Treppe hinunter in den weißgekachelten Tunnelschacht. Es war die Stunde, da seine Frau Yvonne, die dreiunddreißig Jahre später meine Großmutter werden sollte, das Abendessen zubereitete und sein erstgeborenes Söhnchen, das zu meinem Onkel Michel heranwachsen sollte, im goldenen Trapez, das die Sonne im Salon auf den Parkettboden warf, mit seiner Blechlokomotive spielte. Léon stellte sich vor, wie die beiden sich über die Erdbeertörtchen freuen würden, und gab sich der Hoffnung hin, dass der Abend wieder einmal einen friedlichen Verlauf nehmen werde.
In den letzten Wochen waren friedliche Stunden selten gewesen. Kaum ein Abend war vergangen ohne häusliches Drama, das stets ohne ersichtlichen Grund, gegen ihrer beider Willen und aus nichtigstem Anlass über sie hereingebrochen war; und die Wochenenden waren eine einzige Folge tapfer verheimlichten Unglücks, überdrehter, falscher Fröhlichkeit und plötzlicher Tränenausbrüche gewesen. Während die Métro in die Station einfuhr, rief Léon sich das Drama vom Vorabend in Erinnerung. Es hatte seinen Anfang genommen, nachdem er den Kleinen zu Bett gebracht und ihm wie jeden Abend eine Gutenachtgeschichte erzählt hatte. Als er in den Salon zurückkehrte und die Schachtel mit den Einzelteilen jener Napoléon-III.-Wanduhr aus dem Schrank nahm, die er auf dem Flohmarkt als rostiges Gerippe gekauft hatte und seit Monaten in Gang zu bringen versuchte, hatte Yvonne ihn aus scheinbar heiterem Himmel ein Monstrum an Gleichgültigkeit und Gefühlskälte genannt, war in Pantoffeln aus der Wohnung gestürzt und durchs Treppenhaus hinunter in die Rue des Écoles gerannt, wo sie ratlos und blind vor Tränen in der Abenddämmerung stehen blieb, bis Léon sie einholte und am Arm zurück in die Wohnung geleitete. Er hatte sie zum Sofa geführt, ihr eine Decke über die Schultern gelegt und Briketts in den Ofen geschoben, die Schachtel mit der Wanduhr zum Verschwinden gebracht und Tee aufgesetzt, und dann hatte er sich halb heuchelnd, halb aufrichtig für seine Unaufmerksamkeit entschuldigt und sich erkundigt, womit er sie denn so betrübt habe. Und da sie keine Antwort wusste, war er in die Küche zurückgekehrt und hatte Schokolade geholt, während sie auf dem Sofa sitzen blieb und sich unnütz, dumm und hässlich fühlte.
»Sei ehrlich, Léon, gefalle ich dir noch?«
»Du bist meine Frau, Yvonne, das weißt du doch.«
»Ich habe Flecken im Gesicht und trage Stützstrümpfe wegen der Krampfadern. Wie eine alte Frau.«
»Das geht vorbei, Liebes. Das ist doch nicht wichtig.«
»Siehst du, es ist dir egal.«
»Aber nein.«
»Du hast gerade gesagt, es sei nicht wichtig. Ich verstehe dich ja, mir wär’s an deiner Stelle auch egal.«
»Es ist mir nicht egal, was redest du denn.«
»An deiner Stelle hätte ich mich längst verlassen. Sei ehrlich, Léon, hast du eine andere?«
»Aber nein. Ich betrüge dich nicht, das weißt du doch.«
»Ja genau, das weiß ich doch.« Yvonne nickte bitter. »So etwas würdest du nie tun, und zwar aus dem einen schlichten Grund, weil es falsch wäre. Du tust stets das Richtige, nicht wahr? Du bist immer so beherrscht, du könntest mich gar nicht betrügen, mein gewissenhafter Léon, selbst wenn du es dir noch so dringend wünschtest. Das wird dir nie passieren, dass du etwas tust, was du nicht für richtig hältst.«
»Hältst du das für falsch, dass ich nichts Falsches tun will?«
»Manchmal wünschte ich, ich könnte dich aus dem Gleichgewicht bringen, verstehst du? Manchmal wünschte ich, du würdest nur einmal, ein einziges Mal die Beherrschung verlieren – mich und das Kind schlagen, dich betrinken, die Nacht bei einer Prostituierten verbringen.«
»Du wünschst dir Dinge, die du nicht willst, Yvonne.«
»Sag mir, weshalb behandelst du mich, als wäre ich deine Mutter?«
»Wie meinst du das?«
»Wieso umarmst du mich nie, und weshalb liegst du nachts seit Wochen ganz außen am äußersten Bettrand?«
»Weil du, wenn ich dich küsse, zusammenzuckst. Weil du, wenn ich dir das Haar streichle, in Tränen ausbrichst und mich einen Heuchler nennst. Weil du mich im Bett einen triebhaften Schimpansen geschimpft hast und verlangtest, dass ich dich in Ruhe lasse. Das habe ich getan, und jetzt brichst du gerade deshalb in Tränen aus. Sag mir, was ich tun soll.«
Yvonne lachte auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. »Du hast es wirklich nicht leicht, mein armer Léon. Wir wollen uns nicht mehr zanken, ja? Aber wir wollen einander auch nicht belügen und uns nichts vorspielen. Lass uns offen reden. Was ich will, kann ich nicht von dir verlangen, und was du willst, kann ich dir nicht geben.«
»Das ist Unsinn, Yvonne. Du bist meine Frau, und du bist mir eine gute Frau. Ich bin dein Mann und gebe mir Mühe, dir ein guter Mann zu sein. Das allein zählt. Alles Weitere wird sich finden.«
»Nein, das wird sich nicht finden, das weißt du besser als ich. Was nun mal nicht ist, findet sich nicht. Man kann sich wohl Mühe geben, aber für seine Wünsche kann man nichts.«
»Was wünschst du dir denn? Sag es mir.«
»Lass gut sein, Léon. Ich kann nicht von dir verlangen, was ich mir wünsche, und ich kann dir nicht geben, was du dir wünschst. Wir kommen ganz gut zurecht und machen einander das Leben nicht zur Hölle, aber wirklich zusammen sind wir nicht. Damit müssen wir leben bis zum Ende.«
»Was sprichst du vom Tod, Yvonne, wir sind erst achtundzwanzig.«
»Willst du die Scheidung? Sag’s mir, willst du die Scheidung?«
So ging das immerzu. Es war für sie beide geradezu eine Erleichterung gewesen, als auf Yvonnes abendliche Gefühlsausbrüche Anfälle morgendlicher Übelkeit folgten; nach dem Besuch beim Gynäkologen war sie kleinlaut und voller Reue gewesen, hatte Léon um Verzeihung gebeten, verwundert ihren Bauch betrachtet und die Vermutung geäußert, dass dieses Kind wohl ein Mädchen sei; denn den kleinen Michel, daran erinnerte sie sich deutlich, hatte sie drei Jahre zuvor ausgetragen in einer Stimmung selbstgenügsamer, in sich selbst hineinlauschender Zufriedenheit, die übrigens zu Léons Gunsten gewürzt gewesen war mit häufigen Anfällen animalischer Lüsternheit, die sie an sich selbst zuvor nicht gekannt hatte.
Dass von animalischer Lüsternheit diesmal keine Rede sein konnte, trug Léon mit Fassung. Er war zu einem Mann von einiger Lebenserfahrung herangewachsen, und nach fünf Jahren Ehe war ihm bekannt, dass die Seele einer Frau auf geheimnisvolle Weise in Verbindung steht mit den Wanderungen der Gestirne, dem Wechselspiel der Gezeiten und den Zyklen ihres weiblichen Körpers, möglicherweise auch mit unterirdischen Vulkanströmen, den Flugbahnen der Zugvögel und dem Fahrplan der französischen Staatsbahnen, eventuell sogar mit den Förderquoten auf den Ölfeldern von Baku, den Herzfrequenzen der Kolibris am Amazonas und den Gesängen der Pottwale unter dem Packeis der Antarktis.
Trotzdem überstiegen die ständig wiederkehrenden Dramen, in denen es, bei Lichte betrachtet, um wenig oder nichts ging, allmählich seine Kräfte. Zwar wusste er um die Flüchtigkeit ihrer Launen und dass es seinem Eheglück förderlich war, wenn er diese Anfälle temporärer Unzurechnungsfähigkeit gelegentlich überhören oder rasch wieder vergessen konnte. »Man darf ihnen das nicht übelnehmen«, hatte sein Vater ihm einmal eingeschärft, als er ihn in einem Augenblick der Not telefonisch um Rat gebeten hatte. »Sie können nichts dafür, es ist wie eine milde Art von Epilepsie, verstehst du?«
Allerdings widerstrebte es Léon, ein zentrales Wesensmerkmal seiner Frau als chronische Krankheit zu interpretieren. Hatte er nicht die Pflicht, die Nöte seiner Gefährtin ernst zu nehmen? Durfte er, da er vor dem Traualtar geschworen hatte, sie zu ehren und zu lieben bis ans Ende seiner Tage, die Seelenqualen seiner Frau gering schätzen als bloßes Echo von Walfischgesängen?
Léon hielt die Nase in den süßlichwarmen Wind, den der einfahrende Zug vor sich herschob, und ging im Strom der Menschen mit, der sich auf die Bahnsteigkante zubewegte. Vor ein paar Jahren, als er noch ledig gewesen und in einem kleinen Mansardenzimmer in den Batignolles gewohnt hatte, war er täglich mit der Métro zur Arbeit gefahren und hatte das Kreischen der Stahlräder, die Hitze und den Gestank in den Waggons, die fleckigen Polster, die glitschigfeuchten Lattenböden und die schmierigen Haltestangen hassen gelernt.
Damals hatte er sich die überlebenswichtige Geschmeidigkeit des routinierten Pendlers angeeignet, der in der dichtesten Menschenmenge ohne Drängeln und Rempeln seinen Weg findet und dem Nebenmann stets höflich den Vortritt lässt, ohne dabei zu erkennen zu geben, dass er ihn überhaupt bemerkt hat. Léon wusste, dass er von seinen Mitreisenden dieselbe in sich gekehrte Aufmerksamkeit erwarten konnte und dass es zu Drängeleien, Rempeleien und Beschimpfungen eigentlich nur kam, wenn eine größere Zahl Touristen oder ältere Herrschaften in der Nähe waren.
Er überließ seinem rechten Nebenmann den Vortritt und trat dafür in die hinter diesem entstehende Lücke, machte Platz für eine Frau mit Kinderwagen und gelangte in ihrer Heckwelle zur Schiebetür, dann mit zwei, drei Ausfallschritten zur Ecke an der gegenüberliegenden Schiebetür, wo ein ordentlicher Stehplatz frei war. Er knöpfte seinen Mantel auf und schob den Hut in den Nacken, lehnte sich, um sich an keiner Haltestange festhalten zu müssen, in die Ecke und vergrub die Hände in den Manteltaschen. Während der freie Raum vor ihm sich rasch füllte, vergewisserte er sich nach Pendlerart mit einem Rundumblick unter Vermeidung jedes Augenkontakts, dass ihm von keiner Seite Ärger drohte.
Dann fuhr der Zug an, und Léon betrachtete durchs Fenster die wartenden Fahrgäste auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, dann das Wippen der Stromkabel an der schwarzbraunen Tunnelwand, das Vorüberhuschen der roten und weißen Signallaternen und die schwarz gähnenden Seitenstollen. An der nächsten Station wurde es wieder hell und dann wieder dunkel, und als es wiederum hell wurde, stieg er aus und kletterte ans Tageslicht, kaufte seine Erdbeertörtchen und kehrte sofort zurück in den Untergrund, wo gerade ein Zug zurück in Richtung Porte de Clignancourt einfuhr.
Léon ließ sich im Strom der Reisenden über den Bahnsteig in einen Wagen treiben bis in dieselbe Ecke an der gegenüberliegenden Tür, in der er auf der Hinfahrt gestanden hatte, und als auf dem Nebengleis ein Zug einfuhr, betrachtete er die vorüberziehenden Passagiere – die Männer mit ihren Zeitungen, die Kriegsversehrten mit ihren Krücken, die Frauen mit ihren Einkaufskörben. Erst waren es undeutliche, verwischte Gestalten, die an ihm vorbeihuschten, dann wurden sie langsamer und erhielten deutliche Konturen, und als der Zug schließlich still stand, bemerkte er in der Ecke neben der Schiebetür – nur einen Meter, vielleicht anderthalb von ihm entfernt – eine junge Frau.
Sie trug einen schwarzen Mantel, einen schwarzen Rock und eine hellblaue Bluse, sie hatte grüne Augen, Sommersprossen und dichtes dunkles Haar, das am Hinterkopf von einem Ohrläppchen zum anderen durchgehend auf gleicher Höhe abgesäbelt war, und sie hatte einen großen Mund und ein zartes Kinn, und sie rauchte eine Zigarette, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt wie ein Straßenjunge, und sie war, davon war Léon von der ersten Sekunde an überzeugt, ganz eindeutig seine Louise.
Natürlich hatte sie sich verändert in den zehn Jahren, die seither vergangen waren; aus den noch kindlich weichen Gesichtszügen des jungen Mädchens waren schärfer und bestimmter die Züge einer erwachsenen Frau hervorgetreten. Unter ihren feinen, geraden Brauen schauten wache, unbestechlich aufmerksame Augen hervor, und die Mundwinkel hatten einen Zug von Entschlossenheit, der ihm neu war. Und als sie mit den Fingerspitzen der rechten Hand eine Haarsträhne hinters Ohr strich, blitzten lackierte Fingernägel auf.
Endlich löste Léon sich aus seiner Erstarrung, hob die Hand und winkte. Er trat einen Schritt vor, um sich in ihr Blickfeld zu schieben, und klopfte unsinnigerweise gegen die Scheibe. Aber sie, nur durch einen Meter Luft und zweimal fünfzehn Millimeter Fensterglas von ihm getrennt, zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch zu Boden, schnippte die Asche ab und schaute ins Leere. Er rüttelte an der verschlossenen Tür, die ihn von Louises Tür trennte, und versuchte abzuschätzen, wie viel Zeit er benötigen würde, um über die Treppen auf den anderen Bahnsteig zu gelangen. Da wurden rumpelnd die offenen Türen geschlossen, Léon war gefangen. Er nahm den Hut ab und schwenkte ihn durch die Luft – jetzt endlich wandte sie sich ihm zu.
Jetzt endlich trafen sich ihre Blicke, und seine letzten Zweifel schwanden, als der fragende Ausdruck in ihren grünen Augen erst ungläubigem Staunen, dann freudigem Erkennen wich und in ihrem Lächeln eine Zahnlücke aufschien. Aber dann nahmen beide Züge gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen Fahrt auf, die Entfernung zwischen ihnen wurde größer und der Blickwinkel enger, und dann hatten sie einander schon wieder verloren.
Während Léon durch den Tunnel fuhr, überlegte er in panischer Eile, was zu tun sei, und kam auf drei Möglichkeiten, die ihm alle ähnlich vernünftig schienen. Er konnte erstens mit dem nächsten Zug nach Saint-Sulpice zurückkehren und hoffen, dass sie dasselbe tat; oder er konnte eine Station über Saint-Sulpice hinaus fahren in der Annahme, dass sie dort ausgestiegen war und auf ihn wartete. Oder er konnte selber an der nächsten Station warten in der Hoffnung, dass sie ihm hinterherfuhr.
In jedem Fall war es ein aussichtsloses Unterfangen, während der Stoßzeit in den prall gefüllten Zügen, Bahnsteigen und Treppenaufgängen einen einzelnen Menschen wiederzufinden, von dem man nicht einmal wusste, ob er irgendwo wartete oder selber suchend durch den Untergrund eilte. Als Erstes fuhr Léon zurück nach Saint-Sulpice, stieg auf eine Sitzbank unter einem Werbeplakat, das ein knallrotes Citroën-Cabriolet 10cv B14 bei der Durchquerung einer Dünenlandschaft zeigte, und versuchte sich über die Köpfe hinweg einen Überblick über beide Bahnsteige zu verschaffen. Da er nur graue Hüte und fremde Frisuren sah, fuhr er mit dem nächsten Zug eine Station weiter nach St-Placide, für den Fall, dass Louise nur ausgestiegen wäre und sich nicht vom Fleck gerührt hätte. Dann kehrte er zurück nach Saint-Germain-des-Près, um nachzusehen, ob Louise dort nach ihm suchte, und dann wiederum nach Saint-Sulpice und von dort ein zweites Mal nach St-Placide.
Nach sechzehn solcher Fahrten sah Léon ein, dass er auf diese Weise Louise niemals finden würde. Er war verschwitzt und erschöpft, sein Anzug war ihm zu eng, und aus der Schachtel mit den Erdbeertörtchen, die auf ihrer stundenlangen Odyssee zwischen den immergleichen drei Métrostationen im Gedränge erheblich gelitten hatte, lief rosa und fahlgelb Erdbeersaft und Vanillecreme aus. Langsam ging er unter den herbstlich goldenen Platanen den Boulevard Saint-Michel hinauf und blinzelte ins Licht der Autoscheinwerfer, das sich auf dem nassen Kopfsteinpflaster spiegelte.
Er fühlte sich, als sei er nach unruhigem Schlaf aus einem wirren Traum erwacht, und wunderte sich, dass er den halben Abend in der Métro nach einem Mädchen hatte jagen können, das er zehn Jahre nicht gesehen hatte und das mit größter Wahrscheinlichkeit lange tot war. Gewiss hatte die junge Frau Louise erstaunlich ähnlich gesehen, und tatsächlich hatte sie ihm ein Lächeln geschenkt, als würde sie ihn wiedererkennen. Aber wie viele junge Frauen mit grünen Augen gab es in Paris – hunderttausend? Und wenn jede Zehnte eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen hatte und von diesen jede Fünfzigste sich das Haar eigenhändig absäbelte, konnte es dann nicht sein, dass von diesen zweihundert die eine oder andere am Ende eines angenehm verlaufenen Arbeitstags auf dem Heimweg in der Métro einem Unbekannten, der seinen Hut schwenkte wie ein Clown, aus reiner Freundlichkeit ein Lächeln schenkte?
Léon war nun sicher, dass er einem Phantom hinterhergerannt war – einem Phantom allerdings, das ihn seit zehn Jahren treu begleitete. Es war sein heimliches Laster, dass er oft frühmorgens schon beim Aufstehen Louises Bild vor Augen hatte, wie sie an einer Platane lehnte und auf ihn wartete, und nachmittags, wenn die Stunden im Labor zäh verrannen, verschaffte er sich selbst Unterhaltung mit Erinnerungen an jenes eine Wochenende in Le Tréport; abends schließlich, wenn er einsam auf seiner Seite des Ehebetts lag, half er sich in den Schlaf, indem er an seine erste Begegnung mit Louise und ihrem quietschenden Fahrrad dachte.
Leise drehte er den Hausschlüssel im Schloss, sachte stieß er die Tür hinter sich zu; nur selten gelang es ihm, unbemerkt an der Loge der Concierge vorbeizukommen, die ihm seit Jahren zärtlich zugetan war, weil er für ihre zwei Töchter, als sie noch klein gewesen waren, zu Weihnachten kleine Löwen, Giraffen und Flusspferde aus Holzwolle und Stoffresten angefertigt hatte. Der Vorhang hinter der Loge war zugezogen, durch den Türspalt drang das Brutzeln von Fett und der Geruch gedünsteter Zwiebeln. Auf Zehenspitzen ging er an der Glastür vorbei, erreichte den Fuß der Treppe und wähnte sich schon in Sicherheit – da ging die Tür auf, und heraus kam Madame Rossetos in ihrem schwarzen Witwenrock, ihrer schwarzen Witwenhaube und ihrer blau geblümten Küchenschürze.
»Monsieur Le Gall, haben Sie mich erschreckt! Sich so ins Haus zu schleichen wie ein Verbrecher, um diese Uhrzeit!«
»Verzeihen Sie, Madame Rossetos.«
»Sie sind spät dran heute – Ihnen ist doch nichts zugestoßen?« Die Concierge streckte ihm ihre Nasenspitze entgegen, als würde sie Witterung aufnehmen.
»Aber nein, was soll mir denn zustoßen.«
»Sie sind blass, Monsieur, Sie sehen zum Fürchten aus. Und was haben Sie da Scheußliches in der Hand? Geben Sie mir das. Na los, geben Sie’s her, keine Widerrede, ich bringe das in Ordnung.«
Die Frau schnellte vor und nahm Léon den Karton aus der Hand, dann kehrte sie rückwärts in ihr gläsernes Kabuff zurück und behielt ihn dabei im Auge wie eine Muräne, die sich mit ihrer Beute ins Korallenriff zurückzieht. Léon sah keine andere Möglichkeit, als ihr hinter die Glastür zu folgen. Er ging hinein in den Zwiebeldunst und schaute ihr zu, wie sie den Karton auf den Küchentisch stellte, die ramponierten Erdbeertörtchen herausnahm und auf einen geblümten Teller legte, sie mit ihren geschwollenen Fingern eifrig zurechtdrückte und die heruntergefallenen Erdbeeren wieder auf die Vanillecreme türmte. Er roch den Zwiebelduft ihrer Wohnhöhle und den süßsauren Schweißgeruch ihres Rockes über dem runden Leib, betrachtete das Rot ihres Lippenstifts, der in die Kummerfalten ihrer Lippen ausgeströmt war, die grellbunte Madonnenstatuette auf dem Hausaltärchen und die brennende Kerze vor dem kolorierten Portrait ihres Ehemanns in Sergeantenuniform, dann die Spitzendecke auf dem Polstersessel und die rußig-graue Ecke über dem Kohleofen, und er lauschte dem Kokeln des Kohleofens und dem konzentrierten Schnaufen aus Madame Rossetos’ geblähten Nüstern.
Ein schwerer Vorhang trennte den Wohnraum von der Schlafkammer, in der die zwei Mädchen in ihren quietschenden Eisenbetten unter dunkelroten Wolldecken dem nächsten Morgen entgegenschliefen und jede Nacht einen viertel Millimeter Körperlänge zulegten in der ruhigen Gewissheit, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft zu kleinen Fräuleins erblühen und ihrer Mutter bei der erstbesten Gelegenheit für immer entwischen würden. Sie würden einem Galan folgen, der ihnen seidene Unterwäsche versprach, oder in die Dienste einer Dame treten, die sie als Zimmermädchen nach Neuilly mitnahm. Madame Rossetos aber würde allein zurückbleiben, noch eine Weile einsam in ihrem Kabuff dahinleben und auf die immer seltener werdenden Besuche ihrer Töchter warten, bis sie eines Tages an irgendetwas erkranken, sich ins Krankenhaus schleppen und wenig später nach einem letzten Blick auf die Wasserflecken an der Zimmerdecke widerstandslos und demütig aus dieser Welt verschwinden würde.
Die Concierge bestreute die Törtchen mit Puderzucker, um die schlimmsten Schäden zu kaschieren, wischte die Hände an ihrer Schürze ab und schaute zu ihm hoch mit einem Blick, in dem alle Arglosigkeit und Verletzlichkeit der gequälten Kreatur lagen.
»Hier bitte, Monsieur Le Gall, besser kriegen wir das nicht hin.«
»Ich danke Ihnen sehr.«
»Sie müssen jetzt gehen, Ihre Frau wartet auf Sie.«
»Ja.«
»Schon lange.«
»Tatsächlich.«
»Zwei Stunden. Sie sind sehr spät dran heute.«
»Ja.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie jemals so spät heimgekommen sind. Madame macht sich bestimmt Sorgen.«
»Sie haben recht.«
»Hauptsache, es ist nichts passiert. Ich werde jetzt meine Rindsleber in die Pfanne geben. Ich esse selber immer erst, wenn die Kinder im Bett sind, dann habe ich meinen Frieden. Mögen Sie Rindsleber in Rotweinsauce, Monsieur Le Gall?«
»Sogar sehr.«
»Und Bratkartoffeln mit Rosmarin?«
»Dafür würde ich kilometerweit laufen.«
»Dabei haben Sie zu Hause alles, was Sie brauchen, Sie Glücklicher. Und Ihnen ist gewiss nichts zugestoßen?«
»Aber nein, was sollte mir denn zustoßen. Ich muss mich beeilen.«
»Natürlich, Madame erwartet Sie, und ich halte Sie hier auf mit Scherzen über Rindsleber.«
»Oh, das dürfen Sie nicht sagen, Madame Rossetos. Rindsleber in Rotweinsauce ist kein Scherz. Das ist eine sehr ernsthafte Sache. Besonders wenn noch Bratkartoffeln mit Rosmarin im Spiel sind.«
»Wie schön Sie das sagen, Monsieur Le Gall! Sie sind ein Mann mit Kultur, das sage ich immer. Sie wollen bestimmt nicht kosten? Nur ganz rasch?«
»Das klingt verlockend, aber …«
»Madame hat Ihnen natürlich Abendessen zubereitet. Und ich halte Sie auf mit meinem Geplauder.«
»Ein anderes Mal gern.«
»Sie ist gewiss schon in Sorge.«
»Ich sollte jetzt los.«
»Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen, beste Grüße an Madame!«