14. KAPITEL

 

Ein paar Tage nach dem Einmarsch verebbte die Selbstmordwelle, in Paris kehrte Ruhe ein. Die deutschen Soldaten machten sich aber nicht unsichtbar, wie Léon vermutet hatte, sondern breiteten sich im Gegenteil überall aus; in den Parks und auf den Straßen, in der Métro und in den Cafés und in den Museen und vor allem in den Kaufhäusern, Bijouterien, Kunstgalerien und Krämerläden, wo sie mit ihrem Sold, der dank des neuen Wechselkurses um ein Vielfaches im Wert gestiegen war, alles aufkauften, was für Geld zu haben und nicht niet- und nagelfest war.

In jenen Tagen schien es, als hätte mit den Deutschen in Paris ein fast normaler Alltag Einzug gehalten. Die Wehrmacht gab Platzkonzerte im Bois de Boulogne und verteilte hinter der Bastille Brot an die Bedürftigen, sie besorgte die Straßenreinigung und bildete, weil sämtliche Angestellten der Stadtgärtnerei geflohen waren, Arbeitskolonnen für die Pflege der Blumenrabatten in den Tuilerien. Die nächtliche Ausgangssperre unterschied sich, da ihr Beginn von einundzwanzig auf dreiundzwanzig Uhr verschoben wurde, kaum mehr vom Verdunkelungsbefehl, den noch die souveräne französische Regierung erlassen hatte; und wenn mal ein Nachtvogel es nicht rechtzeitig nach Hause schaffte, hatte er nichts Schlimmeres zu befürchten als ein paar Stunden Stiefelwichsen oder Knöpfeannähen auf der Feldgendarmerie bis zum Morgengrauen.

Ende Juni öffneten die Pariser Kinos wieder ihre Tore und erschienen auch wieder Zeitungen, die in Titel und Aufmachung den Pariser Zeitungen der Vorkriegszeit erstaunlich ähnlich sahen; im Moulin Rouge wurde wieder getanzt. Die Wirte, Schneider und Taxifahrer machten schöne Geschäfte, und nachts warteten zwischen der Place Blanche und der Place Pigalle mehr Frauen denn je auf vorwiegend feldgraue Kundschaft.

Da die Apokalypse ausblieb, kehrten die Flüchtlinge in die unversehrte Stadt zurück, erst zögerlich und vereinzelt nur und peinlich berührt über die augenscheinliche Nutzlosigkeit ihrer überstürzten Flucht, dann aber in hellen Scharen; Mitte Juli lebten in Paris schon wieder doppelt so viele Menschen wie einen Monat zuvor. Als Erste kehrten die Kaufleute zurück, die ihre Geschäfte nicht länger ruhen lassen konnten, dann die Handwerker und die kleinen Büroangestellten, die von ihren Chefs zurückgerufen wurden, und die Juden, die sich zur Hoffnung zwangen, dass doch alles nicht gar so schlimm kommen werde, gefolgt von den Journalisten und Künstlern und Theaterschauspielern, die im Anbruch neuer Zeiten ihre Chance witterten. Gegen Ende des Sommers waren auch die Pensionisten wieder da, die es zurück zu ihrem Ohrensessel, ihrem Hausarzt und ihrer Sitzbank im Park um die Ecke drängte, und schließlich die Kinder, für die Anfang September die längsten Sommerferien ihres Lebens zu Ende gingen.

 

Léon duckte sich und lebte weiter, so gut es eben ging. Die neuen Zeitungen wie den Petit Parisien, L’Œuvre oder Je suis partout las er nicht, weil sie zwar französisch geschrieben, aber deutsch gedacht waren, und er ging auch nicht ins Kino, sondern verbrachte seine Abende am Radiogerät. Er hörte Marschall Pétains Ansprache im französischen Radio und General de Gaulles Entgegnung auf BBC France, und er hörte die Nachrichten der Schweizerischen Depeschenagentur über den Krieg in Russland, Nordafrika und Norwegen; er pinnte in der Küche eine Landkarte Europas an die Wand und markierte den Frontverlauf mit Stecknadeln, hob neun Zehntel seines Sparguthabens ab und kaufte auf dem Schwarzmarkt Goldbarren, die er im Salon unter dem Parkettboden versteckte, und vergeblich hoffte er Tag für Tag, dass ein Lebenszeichen von Louise eintreffe aus jenem Winkel der Welt, in den ihr karibikbunter Bananendampfer sie getragen haben mochte.

Den ganzen Sommer über kam kein weiterer Brief von ihr, und die Nachrichtensprecher verloren kein Wort über die Victor Schoelcher oder einen Goldtransport der Banque de France. Léon empfand es als Ironie des Schicksals, dass in jedem Weltkrieg, den er erlebte, dasselbe Mädchen vor seinen Augen spurlos verschwinden musste. Je länger aber die Ungewissheit dauerte, desto mehr zwang er sich, das Ausbleiben einer Nachricht als gutes Zeichen zu deuten.

Im August fiel ihm auf, dass die Platanen früher als gewöhnlich ihre Blätter verloren. Es war ein heißer Sommer gewesen, jetzt kam ein früher Herbst.

 

*

 

Historische Tatsache ist, dass der Victor Schoelcher an jenem Morgen des 17.  Juni 1940 buchstäblich in letzter Minute die Flucht gelang. Es gibt Augenzeugenberichte, wonach das erste Vorauskommando der Wehrmacht, das in Lorient eintraf, die Rauchfahne des Schiffes hinter der Hafenausfahrt noch sehen konnte. Auf offener See angelangt, vereinigte sich die Schoelcher mit drei zu Goldtransportern umfunktionierten Personendampfern der Linie Marseille–Algier und nahm Kurs auf Casablanca; von dort sollte die Fahrt weitergehen nach Kanada, wo das französische, belgische und polnische Gold bis Kriegsende in den Tresoren Ottawas hätte verwahrt werden sollen.

Die vier Schiffe hatten aber kaum den Golf von Biskaya passiert, als per Funk die Nachricht von der Kapitulation Frankreichs eintraf. In der Folge stellte sich die Frage, wem von Rechts wegen die Verfügungsgewalt über das Gold nun zustand – der Vichy-Regierung und damit letztlich Nazideutschland, der französischen Exilregierung in London unter General de Gaulles oder etwa weiterhin der Banque de France, die zwar dem Finanzministerium unterstand, als privatrechtliches Institut aber nicht Eigentum des französischen Staates war.

So geschah es, dass die deutsche Admiralität noch am Tag der Kapitulation den Goldtransportern per Funk mit einem Torpedoangriff drohte für den Fall, dass sie nicht sofort den nächsten Hafen des besetzten Frankreichs anliefen. Nur Stunden später drohte auch General de Gaulles mit einem Torpedoangriff, falls sie nicht umgehend Kurs auf London nähmen. Unter diesen Umständen war an eine Transatlantikfahrt nicht mehr zu denken, weshalb die Flotte ihren südlichen Kurs beibehielt und nach einem Zwischenhalt in Casablanca am 4. Juli 1940 in Dakar eintraf.

Dort war sie fürs Erste vor den deutschen Zerstörern sicher, aber eine britische Flotte unter dem Kommando General de Gaulles bedrohte die Küste Senegals in der erklärten Absicht, Westafrika im Namen des unabhängigen Frankreichs in Besitz zu nehmen. Deshalb beschlossen die Beamten der Banque de France in aller Eile, die ihnen anvertrauten zwei- bis dreitausend Tonnen Gold – wie viel es genau war, hat niemand je erfahren – in Güterwaggons verladen zu lassen und auf der Linie Dakar–Bamako so tief als möglich ins Innere des Kontinents zu transportieren.

Um sechzehn Uhr war die gesamte Ladung gelöscht, drei Tage später verließ der letzte Goldtransport den Bahnhof von Dakar. Bei einem ersten Inventar in Thiès stellte sich heraus, dass eine Kiste auf der Seereise dreizehn Kilogramm an Gewicht abgenommen hatte. Eine andere Kiste, die aus der Filiale Laval stammte, war mit Kieselsteinen und Alteisen gefüllt. Und zwei oder drei Kisten waren ganz verschwunden.

 

*

 

Sonntags ging Léon mit Frau und Kindern spazieren, als ob nichts wäre; wenn aber eine Panzerbrigade über den Boulevard Saint-Michel paradierte, befahl er seinen Kindern, nicht zu gaffen, sondern sich umzudrehen und die Auslagen der Schaufenster zu betrachten.

»Nun gut, sie sind die Sieger, und sie benehmen sich soweit ganz anständig«, erklärte er seinem erstgeborenen Sohn Michel, der es in der Enge der Wohnung nicht mehr aushielt und ungeduldig darauf drängte, auf eigene Faust die besetzte Stadt zu erkunden. »Wenn einer dich anspricht, sagst du ihm Bonjour und Au Revoir, und wenn er dich nach dem Weg zum Eiffelturm fragt, gibst du ihm Auskunft. Aber du kannst kein Deutsch, denn was du am Gymnasium gelernt hast, hast du vergessen, und auch wenn der andere Französisch kann, verpflichtet dich das keineswegs, mit ihm übers Wetter zu plaudern. Wenn er dir seinen Vornamen buchstabieren will, hast du ein Recht auf ein schwaches Gehör und ein schlechtes Gedächtnis, und wenn er dich um Feuer bittet, reichst du ihm nicht dein Feuerzeug, sondern streckst ihm die Glut deiner Zigarette entgegen. Und niemals – niemals, hörst du? – ziehst du vor einem Deutschen deine Mütze. Du tippst nur mit dem Zeigefinger an die Krempe.«

 

Léon selbst ging Tag für Tag gesenkten Hauptes zum Quai des Orfèvres und verrichtete gesenkten Hauptes seine Arbeit. Gerade viel zu tun hatte er nicht, denn in Paris gab es nun kaum mehr Vergiftungsfälle mit Todesfolge; es schien, als seien in den Tagen von Chaos und Massenpanik alle Mord- und Suizidpläne in die Tat umgesetzt worden, weshalb nun niemand mehr übrig war, den es mit Gift vom Leben in den Tod zu befördern galt.

Léon nutzte die freie Zeit, um einen lang gehegten Plan anzugehen und einen wissenschaftlichen Artikel von der Länge einer Lizentiatsarbeit oder einer kleineren Dissertation zu schreiben; denn seit einiger Zeit empfand er es als eine der Niederlagen seines Lebens, dass er keinen akademischen Titel errungen und noch nicht mal das Gymnasium abgeschlossen hatte.

Natürlich wäre es erstens unmöglich und zweitens lächerlich gewesen, jetzt noch nachzuholen, was er als junger Mann versäumt hatte; aber Zeugnis davon ablegen, dass er ein ernsthafter, zum Nachdenken bereiter Mensch war, wollte er schon. Als Thema für seine Arbeit hatte er eine statistische Auswertung der Pariser Giftmorde 1930–1940 ins Auge gefasst. Wenn es auf diesem Gebiet einen Fachmann gab, dann war er das. Umgekehrt war dieses Gebiet das einzige, von dem er wirklich etwas verstand.

Als Erstes stapelte er die Labortagebücher der letzten zehn Jahre auf seinen Schreibtisch und begann deren statistische Auswertung, erfasste Täter und Opfer nach Geschlecht, Alter und sozialem Status, ebenso den Verwandtschaftsgrad oder die Art der Bekanntschaft zwischen Täter und Opfer, die Art des verwendeten Giftes und die Methode seiner Verabreichung, weiter die geographische Streuung über die einundzwanzig Arrondissements der Stadt Paris und die saisonale Verteilung übers Jahr. Er würde Tabellen erstellen und Diagramme zeichnen, und er würde Täter- und Opferprofile skizzieren und seinen Aufsatz dem Journal des Sciences Naturelles de l’École Normale Supérieure schicken, und vielleicht würde er, wenn der Krieg vorbei war, ein paar Wochen lang als Gastdozent und Spezialist für Giftmorde durch die Polizeiakademien Frankreichs tingeln.

Zu Léons Überraschung verging der Frühsommer 1940 gleichförmig und ereignislos. Nur an den 23. Juni sollte er sich erinnern bis ans Ende seiner Tage – das war jener Sonntagmorgen, an dem rosa Schäfchenwolken am Himmel leuchteten und kurz nach acht in der Rue des Écoles, als Léon mit drei Baguettes unter dem Arm von der Bäckerei zurückkehrte, sich von hinten das satte, fette Brummen eines großzylindrigen Wagens näherte. Er wandte sich um und sah eine Mercedes-Limousine mit offenem Verdeck auf sich zukommen, in dem vier deutsche Militärs, zwei Zivilisten und Adolf Hitler saßen. Der Mann auf der Rückbank war eindeutig Adolf Hitler, jeder Irrtum war ausgeschlossen. Der Mercedes fuhr flott, aber ohne übertriebene Eile an ihm vorbei, gefolgt von drei kleineren Fahrzeugen, und natürlich nahmen weder Hitler noch seine Begleiter Notiz von meinem Großvater, der mit seinen drei Baguettes unter dem Arm auf dem Trottoir stand und fassungslos den Luftzug der Weltgeschichte an sich vorüberwehen ließ.

Wie man später in den Geschichtsbüchern nachlesen konnte, war der Führer nur drei Stunden zuvor in Begleitung seiner Architekten Albert Speer und Hermann Giesler sowie des Bildhauers Arno Breker zu seinem ersten und letzten Besuch in Paris auf dem Flugfeld von Le Bourget gelandet und hatte in aller Eile die Opéra, die Madeleine und die Place de la Concorde besucht, war über die Champs-Élysées zum Triumphbogen hinaufgefahren und durch die Avenue Foch zum Trocadéro und weiter zur École Militaire und zum Panthéon; als er an Léon vorbeifuhr, muss er schon wieder auf dem Rückweg zu seinem Flugzeug gewesen sein und sollte nur noch bei der Sacré-Cœur kurz anhalten, um einen letzten Blick zu werfen auf die unterworfene Stadt, die ahnungslos erwachend zu seinen Füßen lag.

Hätte Léon an jenem Morgen eine Pistole bei sich gehabt, dachte er später oft, und wäre die Pistole geladen und entsichert und er selbst in der Lage gewesen, diese einigermaßen zielsicher zu bedienen, und hätte er in diesem Augenblick die nötige Geistesgegenwart aufgebracht und keine Zeit vertrödelt mit ethisch-moralischen Erörterungen über christlich-abendländische Handlungsmaximen, so hätte er vielleicht eine Tat von welthistorischer Bedeutung vollbracht. So aber stand er nur staunend da mit seinen Baguettes unter dem Arm, und die zwei oder drei Sekunden währende Begegnung hatte weder auf sein weiteres Leben noch auf jenes des Führers die geringste Auswirkung. Jahrzehnte später noch schüttelte Léon ungläubig den Kopf darüber, dass diese gleichgültige Episode eine der eindrücklichsten seines Lebens geblieben war und dass sich ihm die Farben und das Licht jenes Sommermorgens mit fotografischer Genauigkeit auf dem Grund seiner Seele eingebrannt hatten, wohingegen die wirklich bedeutsamen Ereignisse seiner Biographie – seine Hochzeit, die Geburten seiner Kinder, die Bestattung der Eltern – in ihm nur mehr als vage Erinnerung fortlebten.

Im Labor aber blieben aufregende Ereignisse aus. Nur alle paar Tage kam es vor, dass er seine statistische Arbeit unterbrechen musste, um eine verdächtige Probe auf Rattengift oder Arsen zu überprüfen. Diese Aufgaben erledigte er mit der gewohnten Sorgfalt und in der Gewissheit, dass er auch unter deutscher Besatzung im Dienst des Guten stand; denn unabhängig davon, wer nun gerade im Matignon und im Élysée das Sagen hatte, musste doch weiterhin der Grundsatz gelten, dass kein Mensch einem anderen Gift verabreichen darf.

Zwar war Léon klar, dass er als Polizeibeamter, ob ihm das gefiel oder nicht, ein Untergebener Marschall Pétains war und letztlich unter deutschem Kommando stand; solange sich aber sein Pflichtenheft auf den labortechnischen Nachweis von Giftmorden beschränkte, konnte er hoffen, weiterhin einigermaßen mit seinem Gewissen im Reinen zu bleiben.

Aber dann kam jener Morgen, an dem Léon wie gewohnt um Viertel nach acht zur Arbeit erschien und den Quai des Orfèvres aufs Neue schwarz von Polizeibeamten vorfand; sie standen missmutig in der Morgensonne auf dem Kopfsteinpflaster und rauchten, und die Türen waren verschlossen, und am Ufer der Seine lag vertäut ein Schleppkahn, den Léon als einen der beiden Kähne erkannte, die am 12. Juni mit ein paar Millionen Karteikarten flussaufwärts geflohen waren.

Zufällig stand in Léons Nähe derselbe junge Kollege, den er schon vor einem Monat um Auskunft gebeten hatte.

»Was ist hier los?«

»Was soll los sein«, brummte dieser und zuckte mit den Schultern. »Die Deutschen haben den Kahn erwischt.«

»Nur diesen einen?«

»Der andere ist nach Roanne entkommen.«

»Und der hier?«

»Ist stecken geblieben.«

»Wo?«

»In Bagneaux-sur-Loing, bei Fontainebleau.«

»So nah?«

»Ein Munitionsschiff ist vor ihm explodiert und hat den Fluss versperrt. Unsere Leute haben ihn unter Bäumen und Strauchwerk versteckt, so gut es eben ging, aber die Deutschen haben ihn gefunden. Was willst du machen, so ein Kahn ist groß und leicht aufzuspüren, der bleibt immer im Kanal. Der kann nicht querfeldein abhauen oder davonfliegen.«

»Immerhin ist es erstaunlich, dass die Deutschen unser Kanalsystem so gut kennen.«

»Und die Fracht unserer Schleppkähne.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nichts. Was willst du damit sagen?«

»Auch nichts.«

Die Glocken von Notre-Dame hatten gerade halb neun Uhr geschlagen, als auf dem Quai des Orfèvres der schwarze Traction Avant des Polizeipräfekten vorfuhr. Links stieg Roger Langeron selbst aus, rechts ein großgewachsener junger Mann mit senfbraunem Hut und senfbraunem Mantel, roter Armbinde und randloser Brille, die seinem runden, glattrasierten Gesicht den Anschein eines freundlich-kurzsichtigen Gymnasiasten gab. Er gesellte sich leutselig zu den am nächsten stehenden Männern, streckte ihnen seine Zigarettenschachtel entgegen und verstaute sie, als niemand sich bedienen wollte, wieder in der Manteltasche. Währenddessen stieg der Polizeipräfekt mit einem Megaphon aufs Trittbrett seines Wagens.

»MESSIEURS, ICH BITTE UM IHRE AUFMERKSAMKEIT. SONDEREINSATZ SÄMTLICHER BEAMTER DER POLICE JUDICIAIRE NACH KRIEGSRECHT. DIE RECHTSWIDRIG VERSCHLEPPTEN AKTEN AUS BÜRO 205 MÜSSEN ZURÜCK AN IHREN ORDNUNGSGEMÄSSEN STANDORT GEBRACHT WERDEN. ALLE VERFÜGBAREN MÄNNER BILDEN EINE DOPPELREIHE VON DER QUAIMAUER ÜBER TREPPE F BIS ZU BÜRO 205! BEEILUNG,

DIE ZEIT DRÄNGT!«

 

Ein Murmeln ging durch die Menge, nur zögerlich warfen die Männer ihre Zigaretten weg. Zu übertriebener Eile sahen sie nun keinen Anlass mehr, da die Deutschen nicht mehr im Anmarsch, sondern schon eine ganze Weile hier waren. Nur allmählich und ohne Schneid formierte sich die grauschwarze Masse ihrer Hüte und Mäntel zur geforderten Doppelreihe, mit Händen greifbar schien ihr Unmut darüber, dass sie dieselbe Arbeit, die sie im Juni bereits erledigt hatten, in umgekehrter Abfolge noch einmal leisten sollten; für jeden Schritt, jeden Handgriff brauchten sie nun drei- oder viermal so lang, und so dauerte die Rückführung, obwohl nur noch halb so viele Akten da waren, nahezu doppelt so lange wie die Evakuation.

In Büro 205 setzten sich Polizeipräsident Langeron und der Mann mit dem gelben Mantel an den großen Schreibtisch, öffneten den einen oder anderen Karton und erkannten, dass das Aktenmaterial erheblichen Schaden genommen hatte. Im Schleppkahn hatten sich während seiner einmonatigen Abwesenheit Kanalratten, Käfer und Würmer eingenistet, durch die Ritzen des Rumpfs war Wasser eingedrungen. In der Feuchtigkeit der Sommergewitter war die Tinte zerflossen, das Papier aufgequollen, Holz und Karton waren aus dem Leim gegangen. Noch vor der Mittagspause fällten Langeron und der junge Deutsche den Entscheid, das gesamte Material, sämtliche drei Millionen Karteikarten und Aktenstücke, abschreiben und ordentlich ablegen zu lassen in neuen Karteikästen und Hängeregistraturen, welche das Informationsministerium binnen Wochenfrist liefern würde.

Nun ergab aber schon eine erste Kopfrechnung, dass die hundert Beamten aus Büro 205 diese Kopistenarbeit unmöglich allein binnen nützlicher Frist würden erledigen können, weil auf jeden von ihnen – nebst der Bewältigung der täglichen Neueingänge – rund dreißigtausend Kopien entfallen würden. Also wurden die Kollegen aller übrigen Abteilungen der Police Judiciaire angewiesen, sämtliche Arbeiten außer den dringendsten Pflichten zurückzustellen und prioritär beim Kopieren der Akten mitzuhelfen.

Für Léon Le Gall bedeutete dies, dass er seinen wissenschaftlichen Artikel fürs Erste beiseitelegen musste. Er versperrte seine Notizen und die Labortagebücher in einem Schrank und fand sich damit ab, dass seine berufliche Existenz sich auf absehbare Zeit um aufgequollene, gewellte rosa Karteikarten drehen würde.

Die Zeit verging rasch. Ehe Léon es sich versah, war er schon drei Wochen damit beschäftigt, slawische Namen zu entziffern und auf blütenweiße Karten zu übertragen, die er in brandneuen Karteikästen abzulegen hatte. Vichnevski, Wychnesky, Wysznevscki, Wichnefsky, Wijschnewscki, Vitchnevsky, Wishnefski, Vishnefskij, dazu Aaron, Abraham, Achmed, Alexander, Aleksander, Alexej, Alois, Anatol, Andrej, Andreji und Rue de Rennes, Rue des Capucins, Rue Saint-Denis, Rue Barbès sowie Jude, Jude, Jude, Jude, Jude, Kommunist, Kommunist, Kommunist, Kommunist, Kommunist, Freimaurer, Freimaurer, Freimaurer, Freimaurer, Zigeuner, Anarchist, abartig, amoralisch, arbeitsscheu, Alkoholiker, aggressiv, schizophren, mannstoll, rassisch unrein.

Léon ergab sich in diese Arbeit mit einer Abscheu, die er letztmals im Alter von sechzehn Jahren empfunden hatte, als er an schulfreien Nachmittagen zur Strafe seitenweise Vergil hatte abschreiben müssen, während am Strand von Cherbourg das Meer die interessantesten Dinge an Land spülte – mit dem Unterschied, dass die Strafarbeit sich diesmal zusätzlich anfühlte, als sei der Lehrer wahnsinnig geworden und halte ihm eine durchgeladene Pistole an die Schläfe.

Dabei waren die Deutschen, das musste Léon zugeben, im persönlichen Umgang von erlesener Höflichkeit. Jeden Abend kurz vor Dienstschluss machte der Mann mit dem senfgelben Mantel die Runde durch die Abteilungen der Police Judiciaire und sammelte die kopierten Akten ein wie ein Imker den Honig. Der Mann hieß Knochen. Helmut Knochen. Er grüßte freundlich und ging auf leisen Sohlen, und zu seinen Drohnen war er, wie es sich für einen guten Imker gehörte, von geradezu rührender Fürsorglichkeit. Beinahe täglich fragte er Léon in gepflegtem, wenn auch hartem Französisch nach dessen Befinden, schüttelte ihm die Hand und erkundigte sich, ob er ausreichend Kaffee habe und ob er nicht eine heller strahlende Tischlampe benötige, und dabei schaute er ihm arglos in die Augen mit seinen hellblauen, durch die Brillengläser stark vergrößerten Augen.

Léon bedankte sich murmelnd und sagte, dass er mit Kaffee und Tischlampe zufrieden sei. Er hatte noch ausreichend Erinnerungen an den Deutschunterricht, um die Poesie in Knochens Familiennamen würdigen zu können. Hingegen hatte er Schwierigkeiten, den Jüngling, der zwar SS-Hauptmann und Chef der Sicherheitspolizei war, aber kaum viel älter als Mitte zwanzig sein konnte und einen Bürstenschnitt hatte wie ein Pfadfinder, in seiner ganzen Gefährlichkeit ernst zu nehmen. Dass dieser Welpe ihn tatsächlich beißen könnte mit seinen spitzen Milchzähnen, konnte er sich nicht vorstellen.

Eines Tages im September aber tauchte Knochen schon frühmorgens auf. Er klopfte scherzhaft den Anfangstakt von Beethovens Schicksalssymphonie an Léons Tür, öffnete sie einen Spalt breit und lugte mit einem Auge hinein.

»Guten Morgen! Darf ich hereinkommen zu so ungewohnt früher Stunde? Störe ich? Soll ich später nochmal vorbeischauen?«

»Treten Sie ein«, sagte Léon.

»Bitte keine falsche Höflichkeit!«, rief Knochen und zeigte nun auch die andere Hälfte seines Gesichts. »Sie sind hier der Hausherr, ich will Sie keinesfalls von der Arbeit abhalten. Falls ich ungelegen komme, kann ich ohne Weiteres …«

»Treten Sie bitte ein.«

»Danke, sehr freundlich.«

»Ich muss Sie aber enttäuschen, so früh am Morgen habe ich erst zwei abholbereite Kopien.«

»Die Akten? Ach, die vergessen wir jetzt mal. Schauen Sie, ich habe uns etwas mitgebracht – Sie erlauben?« Knochen setzte sich auf einen Stuhl und schnippte mit den Fingern, worauf draußen auf dem Flur ein Soldat ein Tablett vom Rollwagen nahm und an Léons Labortisch brachte. »Schauen Sie – oder vielmehr: Riechen Sie! Echter arabischer Mokka aus einer italienischen Mokkakanne. Das ist etwas anderes als die gefilterte Kriegsbrühe aus gerösteten Eicheln, die Sie sich hier auf Ihrem Bunsenbrenner zusammenbrühen.«

»Ich danke Ihnen, aber unser Kaffee ist gerade richtig für mich. Mein Kreislauf …«

»Unsinn, so ein kleiner Mokka hat noch keinen umgebracht! Ich schenke Ihnen ein, Sie erlauben? Sahne, Zucker?«

»Nichts, danke.«

»Schwarz ohne irgendwas?«

»Ich bitte drum.«

»Oho, Sie sind ein harter Bursche! Ist das Ihre normannische Herkunft? Oder der Beruf? Die vielen Giftmorde, härten die ab gegen die Bitterkeit des Lebens?«

»Nicht im Geringsten, leider.«

»Eher im Gegenteil, nicht wahr? Das dachte ich mir schon. Man wird dünnhäutig mit der Zeit, mir geht es genauso. Oder es wird mir so gehen, wenn ich erst mal so … so viel Erfahrung habe wie Sie. Wie finden Sie den Kaffee?«

»Ausgezeichnet.«

»Nicht wahr? Ich muss daran denken, Ihrer Abteilung wöchentlich eine Packung zukommen zu lassen. Die Mokkakanne lasse ich hier, die passt gut auf Ihren Bunsenbrenner. Gibt es sonst etwas, das ich für Sie tun kann? Ein Croissant vielleicht?«

Léon schüttelte den Kopf.

»Sind Sie sicher? Mein Adjutant hat welche. Ganz frisch, aus echter Butter.«

»Wirklich nicht, vielen Dank. Machen Sie bitte keine Umstände.«

»Wie Sie wollen, Monsieur Le Gall. Und sagen Sie mir: Ihr Arbeitsplatz …« – er machte mit seinen kleinen, gepflegten Händen eine umfassende Bewegung – »… ist der soweit in Ordnung?«

»Aber ja. Ich bin hier alles seit vielen Jahren gewohnt.«

»Das freut mich zu hören. Denn schauen Sie, mir ist wirklich daran gelegen, dass Sie hier unter bestmöglichen Bedingungen arbeiten können.«

»Ich danke Ihnen.«

»Nur unter anständigen Bedingungen kann der Mensch ordentliche Arbeit leisten, sage ich immer. Ist es nicht so?«

»Jawohl.«

»Sie müssen es mich unbedingt wissen lassen, wenn ich etwas für Sie tun kann.«

»Danke sehr.«

Knochen stand auf und trat ans Fenster. »Eine prächtige Aussicht haben Sie von hier oben. Paris ist doch eine herrliche Stadt. Die schönste Stadt der Welt, wie ich meine. Dagegen ist Berlin einfach, was es nun mal immer gewesen ist – ein preußisches Provinzkaff. Habe ich recht?«

»Wie Sie meinen, Monsieur.«

»Waren Sie schon in Berlin?«

»Nein.«

»Na ja, gerade viel verpassen Sie nicht, bisher zumindest. Ich selbst bin ja aus Magdeburg, du lieber Himmel. Aber sagen Sie, weiß man als Pariser die Schönheit der Lichterstadt denn zu schätzen? Nehmen Sie die Aussicht überhaupt noch wahr?«

»Man gewöhnt sich dran. Nach zwanzig Jahren …«

»Großartig. Die Aussicht ist großartig. Hier drinnen hingegen ist die Beleuchtung doch, wie soll ich sagen, ein wenig fahl, ein bisschen lasch. Sind Sie sicher, dass Sie für Ihre Schreibarbeit genug Licht haben?«

»Ich komme zurecht.«

»Wirklich? Das freut mich zu hören. Denn schauen Sie, wir haben hier eine kleine Schwierigkeit.« Er schnippte aufs Neue mit den Fingern, worauf der Adjutant zwei Karteikästen hereinbrachte. »Ich will Ihre Zeit nicht mit Kleinigkeiten verschwenden, nur das hier will ich Ihnen kurz zeigen. Wissen Sie, was ich hier habe? Das sind …« – er deutete auf den einen Karteikasten – »… die letzten hundert von Ihrer Hand kopierten Karten. Und das hier …« – er deutete auf den anderen Kasten – »… sind die entsprechenden Originale. Wissen Sie, was mir beim Vergleich dieser zwei Kästen aufgefallen ist?«

»Was?«

»Das ist jetzt unangenehm, Sie dürfen es mir nicht krummnehmen, ja?«

»Ich bitte Sie.«

»Mir ist aufgefallen, dass Ihnen beim Abschreiben ziemlich viele Fehler unterlaufen. Deshalb bin ich auf den Gedanken gekommen, dass vielleicht die Lichtverhältnisse hier drin nicht ganz optimal sein könnten. Bitte verzeihen Sie die Frage, aber wie steht es mit Ihrem Augenlicht?«

»Bisher ganz gut.«

»Wirklich? Sie benötigen noch keine Lesebrille?«

»Glücklicherweise nicht.«

»Das ist schön, Sie sind ja nun auch nicht mehr ganz der Jüngste, nicht wahr? Wie alt sind Sie eigentlich, wenn ich fragen darf – vierzig Jahre, nicht wahr?«

»Die Fehler sind mir unangenehm, Monsieur.«

Knochen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Natürlich sind das Kleinigkeiten und lässliche Sünden, nehmen Sie das nicht zu schwer. Aber Sie gehen gewiss mit mir darin einig, dass in der Verwaltung kleinste Fehler verheerende Auswirkungen haben können, nicht wahr?«

»Gewiss.«

»Ihnen als Wissenschaftler muss ich das nicht erklären, das wusste ich. Schauen Sie, hier zum Beispiel steht Yaruzelskj statt Jaruzelsky. Wenn diese Karte alphabetisch korrekt unter Y eingeordnet wird, finden wir den Mann nie wieder. Oder hier: Rue de l’Avoine statt Rue des Moines – eine Straße dieses Namens gibt es gar nicht. Oder dieses Geburtsdatum: 23. Juli 1961 – der Mann wäre ja noch längst nicht geboren. Verstehen Sie, Monsieur Le Gall?«

»Jawohl.«

»Ich habe mir nun erlaubt, alle diese hundert Karten mit den Originalen zu vergleichen und die fehlerhaften zu zählen. Und wissen Sie, wie viele es sind?«

»Ich bedaure …«

»Schätzen Sie, na los, schätzen Sie frei heraus! Was meinen Sie: Acht? Fünfzehn? Dreiundzwanzig?«

Léon zuckte mit den Schultern.

»Dreiundsiebzig! Dreiundsiebzig von hundert Stück, Monsieur Le Gall! In Prozent sind das, lassen Sie mich rechnen, ich hab’s gleich … ach was, klar, Idiot: Dreiundsiebzig Prozent! Das ist viel, nicht wahr?«

»In der Tat.«

»Fast immer sind’s minimale Fehler, keine Frage – aber die gefährlichsten Unwahrheiten sind mäßig entstellte Wahrheiten, wie schon Lichtenberg sagte. Stimmen Sie mir zu?«

»Gewiss.«

Knochen machte erneut seine wegwerfende Handbewegung. »Machen Sie sich nichts draus, jedem von uns unterläuft mal ein Fehler. Allerdings muss man sagen, dass Ihnen auffällig viele Fehler unterlaufen. Wissen Sie, wie hoch die durchschnittliche Quote bei Ihren Kollegen ist?«

»Nein.«

»Elf Komma neun Prozent.«

»Ich verstehe.«

»Das ist gut, dass Sie mich verstehen. Wichtig ist jetzt, dass wir die Fehlerquelle beseitigen, damit Besserung eintritt, nicht wahr? Nicht wahr, Monsieur Le Gall?«

»Ja.«

»Haben Sie eine Erklärung für Ihre hohe Quote?«

»Manche Karten sind schwer zu entziffern.«

»Gewiss«, sagte Knochen. »Aber Ihre Kollegen müssen mit genauso schadhaftem Material fertig werden, nicht wahr? Oder halten Sie es für denkbar, dass sich bei Ihnen schwer beschädigte Karten in statistisch relevantem Maß häufen? Und wäre diese Häufung zufällig, oder müssten wir nach den Ursachen suchen?«

Léon zuckte mit den Schultern.

«Sehen Sie, deswegen habe ich mir Gedanken um Lampen und Lesebrillen gemacht. Es muss ja eine Erklärung dafür geben, dass Ihnen so viele Fehler unterlaufen. Natürlich schreien meine Kollegen von der SS bei solchen Quoten gleich Sabotage und Hochverrat. Haben Sie schon Bekanntschaft mit der SS gemacht?«

»Nein.«

»Es gibt da bei denen, unter uns gesagt, ein paar wirklich schlimme Hitzköpfe, denen ich nicht bei Nacht in einer dunklen Gasse begegnen möchte. Wissen Sie, was die mit Saboteuren machen? Zuerst so allerlei, und dann bringen sie sie nach Drancy und stellen sie an die Wand. Oder sie schmeißen sie gefesselt in die Seine. Oder lassen sie mit Genickschuss im nächsten Straßengraben liegen. Kriegsrecht. Die dürfen das.«

»Ich verstehe.«

»Heißblütige junge Spunde sind das. Nicht alle sehr gut erzogen, was soll man machen. Aber keine Sorge, Monsieur Le Gall, in diesem Haus hier bestimme vorläufig noch ich, wo’s langgeht. Und ich sage, man muss den Leuten gute Arbeitsbedingungen bieten, wenn sie gute Arbeit leisten sollen.«

Er schnippte nochmal mit den Fingern, und der Soldat brachte eine große Tischleuchte mit verspiegeltem Schirm. »Sie können sagen, was Sie wollen, für gute Arbeit braucht man gutes Licht. Nur weil Sie sich an die alte Funzel gewöhnt haben, heißt das nicht, dass sie gutes Licht gibt. Sie erlauben doch, dass wir sie gleich mitnehmen und als Ersatz diese hier anschließen?«

»Wenn Sie darauf bestehen.«

»Es ist eine Siemens, sozusagen der Mercedes unter den Tischlampen, gar kein Vergleich zu Ihrer Funzel. Wenn Sie hier noch bitte den Empfang quittieren wollen, dann hat alles seine Ordnung. Ordnung ist wichtig in der Verwaltung, nicht wahr?«

»Jawohl, Monsieur. Und der Kaffee?«

»Was ist mit dem Kaffee?«

»Brauchen Sie für den keine Quittung?«

»Sie machen sich lustig über mich, Le Gall, das ist ungerecht. Ich bin kein Pedant und kein Kleingeist, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich selbst brauche für gar nichts eine Quittung. Persönlich neige ich zur Ansicht, dass uns das Leben für alles irgendwann ganz unaufgefordert eine Quittung ausstellt. Aber die Verwaltung kann nicht bis an unser seliges Ende warten, die braucht schon vorher Quittungen. Und gerechterweise muss man sagen, dass die Verwaltung niemals Selbstzweck ist, sondern letztlich immer dem Menschen dient. Ist es nicht so?«

»Selbstverständlich.«

»Deshalb kann ein Ordnungsfehler, das sage ich immer, menschlich schwere Konsequenzen haben. Aber ich plaudere hier und plaudere, dabei haben Sie eine Menge Arbeit. Auf Wiedersehen, Le Gall, bis heute Abend!«

»Auf Wiedersehen.«

Knochen eilte mit wehendem Mantel hinaus auf den Flur und zog hinter sich die Tür zu. Einen Augenblick später stieß er sie nochmals auf.

»Beinahe hätte ich es vergessen – Sie sollen am Mittag im Kindergarten an der Rue Lejeune vorbeischauen, die Direktorin hat angerufen. Ihre kleine Tochter soll – wie heißt sie nochmal, die Vierjährige – Marianne?«

»Muriel.«

»Die kleine Muriel soll heute Morgen vom Schulhof aus mit einem Pflasterstein ein Toilettenfenster im dritten Stock eingeworfen haben.«

»Muriel?«

Der Mann machte wiederum seine wegwerfende Handbewegung. »Das ist natürlich Quatsch und wird sich rasch aufklären, ist ja klar. Wie sollte ein vierjähriges Mädchen einen Pflasterstein zur dritten Etage hochwerfen, nicht wahr? Wohl eine Verwechslung, typischer Ordnungsfehler. Aber vielleicht ist es doch besser, Sie schauen am Mittag vorbei. Die Kleine wurde, wie man mir mitgeteilt hat, in den Kohlekeller gesperrt, sozusagen in Beugehaft, und heult sich die Seele aus dem Leib.«

Léon schob heftig den Stuhl zurück und wollte aufstehen, da packte ihn Knochen an der Schulter und drückte ihn zurück auf den Stuhl.

»Keine Hektik, Monsieur Le Gall, keine Aufregung. Das Beste ist, wir lassen den Dingen ihren Lauf und ihre Ordnung, nicht wahr? Erst wird gearbeitet, dann kommt das Privatleben. Sie schreiben hier fleißig zwei Stunden weiter, dann ist Mittag und Sie gehen in die Rue Lejeune. Der Rektor soll ein engstirniger Idiot sein, habe ich mir sagen lassen. Wenn er Ihr Töchterchen nicht aus dem Kohlekeller entlassen will, bestellen Sie ihm Grüße von Hauptmann Knochen, das sollte dann helfen. Auf Wiedersehen, Monsieur, und frohes Schaffen! Einen angenehmen Tag wünsche ich Ihnen!«