6. KAPITEL

 

Léon konnte nicht wissen, dass im selben Augenblick, da er vom Nebelhorn eines Dampfers erwachte, eine halbe Million erschöpfte deutsche Soldaten ihre Stiefel schnürte, um zum allerletzten Sturmlauf auf Paris anzusetzen; vielleicht wäre er sonst still an Louise Seite geblieben und hätte sich nicht vom Strand weggerührt, und dann wäre alles anders gekommen. Die Luft war kühl und feucht, der Himmel fahl und diesig. Die Flut war gekommen und wieder gegangen, der Kieselstrand glänzte nass; an den Fusseln der Wolldecken perlten Tautropfen. Hinter der Brandung ragten die Spiere eines gesunkenen Schiffes aus dem Wasser.

Léon schaute hinauf zu den weißen Kreidefelsen, in denen die Möwen in ihren Nestern hockten und ihre Schnäbel im Gefieder wärmten, und weiter hinauf bis zur dünnen Grasnarbe ganz oben, über die der Wind bleigraue Regenwolken trieb. Bis dort gegen Mittag die wärmende Sonne auftauchte, würde es unten am Strand kühl und feucht bleiben. Je länger er hinaufschaute, desto deutlicher hatte er die Empfindung, dass nicht die Wolken über ihn hinwegflogen, sondern er selbst mit dem Strand und den Klippen unter den Wolken hindurchfuhr.

Léon stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete die Umrisse von Louises schmaler Gestalt, die sich unter den Decken im Gleichtakt mit der Brandung hob und senkte. Ihr schwarzer, verstrubbelter Haarschopf sah aus wie Katzenfell. Er löste sich von ihrer Seite und stand auf, um Holz zu holen und das Feuer wieder anzufachen. Als die Flammen hochschlugen, ging er der Flutlinie entlang über den Strand und suchte nach Dingen, die das Meer über Nacht angespült haben mochte. Am östlichen Ende des Strands fand er eine rotweiße Boje, auf dem Rückweg eine zwei Meter lange Planke und vier Jakobsmuscheln. Er legte alles neben die Feuerstelle. Da Louise noch immer schlief, ging er hinunter ans Meer und zog sich bis auf die Unterhose aus.

Das Wasser war kühl. Er watete hinaus, tauchte unter einem Brecher durch und schwamm ein paar Züge. Er schmeckte das Salz auf den Lippen, fühlte das vertraute Brennen in den Augen und drehte sich auf den Rücken, ergab sich dem sanften Schaukeln der Wellen und ließ die Ohren unter Wasser sinken, während zur gleichen Zeit am Chemin des Dames zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder der süßlich-faulige Bananengeruch des Phosgen-Gases durch die Schützengräben kroch und sich in den Lungenbläschen der Soldaten in Salzsäure verwandelte, Zehntausende von jungen Männern sich buchstäblich die Lunge aus dem Leib kotzten und die Überlebenden, falls die Artillerie sie nicht in Stücke schoss, mit blinden, weit aufgerissenen und entsetzlich verdrehten Augen in Richtung Paris flüchteten, während ihnen die vergiftete und verbrannte Haut in Fetzen vom Gesicht und von den Händen fiel.

Léon schaukelte in den Wellen, genoss die Schwerelosigkeit und schaute hinauf in den Himmel, an dem noch immer schwarze Wolken hingen. Nach einer Weile ertönte ein Pfiff – das war Louise, die sich aufgesetzt hatte und ihm zuwinkte. Er ließ sich von der nächsten Welle zurück an den Strand tragen, zog Hemd und Hose über den nassen Leib und setzte sich zu ihr ans Feuer. Louise schnitt das Brot vom Vorabend in Scheiben und röstete es über der Glut.

»Du hast in der Nacht ein bisschen geschnarcht«, sagte sie.

»Und du hast im Schlaf meinen Namen geflüstert«, sagte er.

»Du bist ein schlechter Lügner«, sagte sie. »Ein Kaffee wäre jetzt gut.«

»Es fängt an zu regnen.«

»Das ist kein Regen«, sagte sie. »Nur eine Wolke, die zu tief fliegt.«

»Die Wolke wird uns nass machen, wenn wir hierbleiben.«

Louise rollte die Wolldecken ein, während Léon mit Sand den Kochtopf putzte, dann schoben sie ihre Räder zurück in die Stadt. Am Hafen gab es ein Bistrot, das schon geöffnet hatte und wie Léons Stammkneipe Café du Commerce hieß. Am Tresen standen vier unrasierte Männer in zerknitterten Leinenanzügen, die an ihren Kaffeetassen nippten und sorgfältig aneinander vorbeischauten. Léon und Louise setzten sich an einen Tisch am Fenster und bestellten Milchkaffee.

»Oh, wir sind in schlechte Gesellschaft geraten.« Louise deutete mit ihrem angebissenen Croissant zum Tresen. »Schau dir die Blödmänner an.«

»Die Blödmänner können dich hören.«

»Das macht nichts. Je lauter wir sprechen, desto weniger können sie glauben, dass wir über sie reden. Typische Pariser Blödmänner sind das. Kleine Pariser Blödmänner erster Güte, alle vier.«

»Du kennst dich da aus?«

»Der mit der blauen Sonnenbrille, der seine Visage unter dem Hut versteckt, hält sich für mindestens so berühmt wie Caruso oder Zola, dabei heißt er Fournier oder so. Und der mit dem Schnurrbart, der die Börsenzeitung liest und dabei Kummerfalten macht: Der hält sich für Rockefeller, weil er drei Eisenbahnaktien besitzt.«

»Und die anderen beiden?«

»Die sind einfach hochwohlgeborene Blödmänner, die keinen grüßen und mit niemandem reden, damit ihnen keiner draufkommt, was für Langweiler sie sind.«

»Das kann schon mal vorkommen, dass man sich langweilt«, entgegnete Léon. »Ich langweile mich auch gelegentlich. Du nicht?«

»Das ist etwas anderes. Wenn du oder ich uns langweilen, dann in der Hoffnung, dass sich irgendwann etwas ändern wird. Die dort aber langweilen sich, weil sie immerzu wünschen müssen, dass alles beim Alten bleibt.«

»Für mich sehen sie alle vier aus wie ganz normale Familienväter. Die haben sich aus dem Haus geschlichen unter dem Vorwand, dass sie zum Bäcker gehen. Jetzt gönnen sie sich eine Viertelstunde Frieden, bevor sie in ihre Villen zurückkehren zu ihren schwierigen Gattinnen und ihren anspruchsvollen Kindern.«

»Meinst du?«

»Der mit der blauen Brille hat die ganze Nacht mit seiner Frau gestritten, weil sie ihn nicht mehr liebt und er das bitte nicht wissen möchte. Und der mit der Zeitung fürchtet sich vor den endlos langen Nachmittagen am Strand, an denen er mit seinen Kindern spielen muss und keine Ahnung hat, wie er das anstellen soll.«

»Wollen wir zu den Fischern gehen?«, fragte Louise. »In die Fischerkneipe?«

»Wir sind keine Fischer.«

»Das ist doch egal.«

»Uns schon, aber den Fischern nicht. Die halten uns für Pariser Blödmänner. Allein schon, weil wir keine Fischer sind.« Léon schob die Gardine zur Seite und schaute aus dem Fenster. »Die nasse Wolke ist weg.«

»Dann lass uns gehen«, sagte Louise. »Lass uns nach Hause fahren, Léon. Das Meer haben wir jetzt gesehen.«

 

Durchdrungen von Sonne, Wind und Regenschauern, der frischen Luft des Ozeans und einer Nacht mit wenig Schlaf machten Léon und Louise sich auf den Heimweg. Er führte über dieselben Straßen, durch dieselben Hügel und an denselben Dörfern vorbei, die sie schon am Tag zuvor gesehen hatten; sie tranken Wasser am selben Dorfbrunnen und kauften Brot in derselben Bäckerei. Ihre Fahrräder surrten zuverlässig, und bald zeigte sich auch wieder die Sonne – alles war genau wie am Tag zuvor, und doch war jetzt ein Zauber in alles gefahren. Der Himmel war weiter, die Luft war frischer, die Zukunft strahlend, und es schien Léon, als sei er zum ersten Mal im Leben richtig wach, als sei er müde zur Welt gekommen und hätte sich sein ganzes bisheriges Leben müde von Tag zu Tag geschleppt bis zu ebendiesem Wochenende, an dem er nun endlich aufgewacht war. Es gab ein Leben vor Le Tréport und eines nach Le Tréport.

Am Mittag aßen sie Suppe in einem Landgasthof, dann machten sie Rast in einem Heuschober am Wegrand – und während alles, was bisher geschah, reine Legende ist, setzt zu jener Mittagsstunde, da sie im Heuschober schliefen, die Überlieferung meines Großvaters ein, der viele Jahrzehnte später gern und oft zum Besten gab, wie er Ende Mai 1918 zum ersten und einzigen Mal in den Großen Krieg geriet. Er erzählte seine Geschichte stets mit charmanter Zurückhaltung, detailgetreu auch nach vielfacher Wiederholung und glaubwürdig bis auf den kleinen, von allen Familienmitgliedern durchschauten Schwindel, dass Louise in seiner Version aus Gründen der Schamhaftigkeit kein Mädchen war, sondern ein Arbeitskamerad namens Louis.

Als nun also Léon und Louise – oder eben Louis – nach einer Stunde Schlaf im Heuschober wieder aufwachten, hörten sie durchs Ziegeldach entferntes Donnergrollen, das sie für ein Gewitter hielten. In aller Eile kletterten sie vom Heuschober hinunter, schoben ihre Räder ins Freie und fuhren los, die Haare und Kleider noch voller Stroh, um möglichst lang vor dem nahenden Unwetter herzufahren und es vielleicht erst nach der Ankunft in Saint-Luc über sich ergehen zu lassen.

Wie sich aber herausstellen sollte, handelte es sich beim Donner nicht um ein atmosphärisches Phänomen, sondern um das Mündungsfeuer deutscher Artillerie. Allmählich wandelte sich das Grollen in Knallen, dann wurde die Luft von Zischen, Sirren und Heulen zerschnitten, und dann stiegen hinter einem Wäldchen die ersten Rauchsäulen auf. In Panik flohen die beiden über die Landstraße, während hinter ihnen, vor ihnen und neben ihnen Rauchsäulen aufstiegen, und dann fuhren sie auch schon an einem frischen, rauchenden Bombenkrater vorbei, an dessen Rand ein gestürzter Apfelbaum seine Wurzeln in den Himmel streckte. Beißender Rauch lag in der Luft, Himmelsrichtungen gab es keine mehr, an Umkehr und Rückzug war, da die Gefahr von überall und nirgendwo herzukommen schien, nicht zu denken.

Immer schneller und noch schneller fuhren sie durch die detonierende Landschaft, Louise voraus und Léon in ihrem Windschatten, und als der Abstand zwischen ihnen sich vergrößerte und sie sich fragend umsah, winkte er ihr: Geh, geh!, und da sie zögerte und auf ihn zu warten schien, wurde er wütend und schrie: »Jetzt geh, verdammt!«, worauf sie entschlossen aus dem Sattel stieg und davonfuhr.

Louise war eben hinter einem Hügel verschwunden, als gerade dort eine Explosionswolke aufstieg. Léon schrie und stürmte hügelan. Als er die Anhöhe erreichte, explodierte einen Steinwurf vor ihm die Straße. Geröll flog baumhoch in die Luft, eine braune Wand aus Staub breitete sich aus. Dann tauchte ein Kampfflugzeug auf, bestrich die Straße mit Maschinengewehrfeuer und drehte wieder ab, während Léon mit Höchstgeschwindigkeit und zwei Kugeln im Bauch blindlings in den Krater stürzte, wo er einen Backenzahn, das Bewusstsein und in den folgenden Stunden ziemlich viel Blut verlor.