3. KAPITEL
Der Bahnhof von Saint-Luc-sur-Marne lag einen halben Kilometer vor der Stadt zwischen Weizenfeldern und Kartoffeläckern an einer Nebenlinie der Chemins de Fer du Nord. Das Stationsgebäude bestand aus rotem Backstein, der Güterschuppen aus verwittertem Fichtenholz. Léon bekam eine schwarze Uniform, die Sergeantenstreifen an den Ärmeln hatte und ihm erstaunlicherweise wie angegossen saß. Er war der einzige Untergebene seines einzigen Vorgesetzten, des Bahnhofsvorstehers Antoine Barthélemy. Dieser war ein hageres, friedfertiges Männchen mit Tabakpfeife und einem Schnurrbart à la Vercingetorix, das wortkarg und gewissenhaft seinen Dienst tat. Tag für Tag brachte er viele Stunden damit zu, im Dienstbüro kleine geometrische Muster auf seinen Schreibblock zu zeichnen in geduldiger Erwartung des Augenblicks, da er in seine Dienstwohnung im Obergeschoss über der Schalterhalle zurückkehren durfte. Dort erwartete ihn seit vielen Jahrzehnten rund um die Uhr sehnsüchtig seine Frau Josianne, die rosige Wangen und runde Hüften hatte, leicht in herzhaftes Lachen ausbrach und eine ausgezeichnete Köchin war.
Gerade viel zu tun gab es nicht am Bahnhof von Saint-Luc-sur-Marne. Am Morgen wie am Nachmittag hielten fahrplanmäßig je drei Regionalzüge in beide Richtungen; die Schnellzüge fuhren mit großer Geschwindigkeit vorüber und zogen einen Fahrtwind hinter sich her, dass einem auf dem Bahnsteig die Atemluft wegblieb. Nachts um zwei Uhr siebenundzwanzig fuhr der Nachtzug Calais-Paris vorbei mit seinen dunklen Schlafwagen, in denen ab und zu ein Fenster erleuchtet war, weil ein reicher Reisender in seinem weichen Bett nicht in den Schlaf fand.
Zu Léon Le Galls eigener Überraschung war er seiner Aufgabe als Morseassistent vom ersten Tag an einigermaßen gewachsen. Sein Dienst begann morgens um acht und endete abends um acht, mit einer Stunde Pause am Mittag. Sonntags hatte er frei. Es gehörte zu seinen Pflichten, bei der Einfahrt eines Zuges auf den Bahnsteig hinauszutreten und dem Lokführer mit einer kleinen roten Fahne zu winken. Morgens musste er den Postsack und den Sack mit den Pariser Zeitungen gegen die leeren Säcke vom Vortag tauschen. Wenn ein Bauer eine Kiste Lauch oder Frühlingszwiebeln als Stückgut zum Spedieren aufgab, musste er die Ware wiegen und einen Frachtbrief ausstellen. Und wenn das Morsegerät tickte, musste er den Papierstreifen abreißen und die Nachricht auf ein Telegrammformular übertragen. Es waren stets dienstliche Mitteilungen, das Morsegerät diente ausschließlich der Bahn.
Natürlich hatte Léon dreist gelogen, als er behauptet hatte, er könne morsen, und den Praxistest auf dem Schreibtisch hatte er nur deswegen bestanden, weil der Bürgermeister von der Materie noch weniger Ahnung hatte als er selbst. Glücklicherweise aber war der Bahnhof von Saint-Luc ein abgeschiedener Ort, an dem höchstens vier oder fünf Telegramme täglich eintrafen; so hatte Léon alle Zeit der Welt, diese mithilfe des Petit Inventeur, den er vorsorglich eingesteckt hatte, zu entziffern.
Etwas umständlicher war’s, wenn er selbst eine Nachricht verschicken musste, was etwa jeden zweiten Tag vorkam. Dann schloss er sich, bevor er ans Morsegerät ging, mit Papier und Bleistift auf der Toilette ein und übertrug die lateinischen Buchstaben in Punkte und Striche. Das ging gut, solange die Telegramme aus nur wenigen Wörtern bestanden. Am Montag der dritten Woche aber drückte ihm der Chef den Monatsrapport in die Hand und beauftragte ihn, diesen vollumfänglich und wortgetreu an die Kreisdirektion nach Reims zu übermitteln.
»Per Post?«, fragte Léon und blätterte den Rapport durch, der aus vier ziemlich eng beschriebenen Seiten bestand.
»Telegrafisch«, sagte der Chef. »Ist Vorschrift.«
»Wieso?«
»Keine Ahnung. Ist einfach Vorschrift. War schon immer so.«
Léon nickte und überlegte, was zu tun sei. Als der Chef wie gewohnt pünktlich um halb zehn zum Kaffeetrinken hinauf zu seiner Josianne stieg, griff er zum Telefon, ließ sich mit der Kreisdirektion in Reims verbinden und begann den Rapport zu diktieren, als wäre das seit Jahrzehnten so und nicht anders guter Brauch. Und als die Telefonistin sich über die ungewohnte Mehrarbeit beschwerte, erklärte er ihr, letzte Nacht habe der Blitz eingeschlagen und das Morsegerät außer Funktion gesetzt.
Léons Zimmer lag weitab von der Wohnung des Bahnhofsvorstehers im Obergeschoss des Güterschuppens. Er hatte ein eigenes Bett und einen Tisch samt Stuhl sowie einen Waschtisch mit Spiegel und ein Fenster mit Blick auf das Gleis. Hier war er ungestört und konnte tun und lassen, was er wollte. Meist tat er nicht viel, sondern lag nur auf dem Bett mit am Hinterkopf verschränkten Händen und betrachtete die Maserung des Gebälks.
Mittags und abends brachte ihm die Frau des Bahnhofsvorstehers, die er Madame Josianne nennen durfte, sein Essen; dabei überschüttete sie ihn mit mütterlicher Fürsorge und verbalen Zärtlichkeiten, nannte ihn Liebling, Engel, Pferdchen und Goldstück, erkundigte sich nach der Qualität seiner Verdauung, seines Schlafs und seines seelischen Befindens und bot sich an, ihm die Haare zu schneiden, Wollsocken zu stricken, die Beichte abzunehmen und die Wäsche zu waschen.
Ansonsten behelligte ihn niemand, das genoss er sehr. Wenn ein Zug vorbeifuhr, trat er ans Fenster, zählte die Personen-, Güter- und Viehwagen und versuchte zu erraten, was sie transportierten. Einmal nahm er eine Zeitung mit aufs Zimmer, die ein Reisender auf der Wartebank liegen gelassen hatte, aber nach wenigen Minuten war er der Meldungen über Clemenceaus Kabinettsbildung, die Butter-Rationierung, Truppenverschiebungen am Chemin des Dames und Goldabgaben an die Banque de France müde; auch für die nationale Kriegswirtschaft brachte er nun, da der Strand von Cherbourg so weit weg war, kein rechtes Interesse mehr auf. Und allmählich gestand er sich ein, dass ihn auf dieser Welt genau genommen nur eines interessierte – das war das Mädchen mit der rotweiß gepunkteten Bluse.
Obwohl er sie seit dem Tag seiner Ankunft nicht mehr gesehen hatte, musste er immerzu, ob er wollte oder nicht, an sie denken. Wie sie wohl heißen mochte – Jeanne? Marianne? Dominique? Virginie? Françoise? Sophie? Jeden Namen sprach er zur Probe leise aus und schrieb ihn mit dem Finger auf die geblümte Tapete neben seinem Bett.
Léon fühlte sich wohl in seinem neuen Zuhause, sein altes Leben fehlte ihm nicht. Weshalb hätte er Heimweh haben sollen? Wenn er wollte, konnte er jederzeit auf sein Rad steigen und nach Cherbourg zurückkehren. Seine Eltern würden ihn bis ans Ende ihrer Tage mit offenen Armen empfangen in ihrem ewig gleichen Häuschen an der Rue des Fossées, und der Strand von Cherbourg würde am Tag seiner Heimkehr genau gleich daliegen, wie er ihn verlassen hatte, und er würde mit Joël und Patrice auf der Segeljolle ausfahren, als sei inzwischen keine Zeit vergangen, und schon nach drei Tagen würde jedermann in Cherbourg vergessen haben, dass er überhaupt weggegangen war. Zu überstürzter Heimkehr bestand also, auch wenn er sich zuweilen einsam fühlte, kein Anlass. Fürs Erste konnte er genauso gut in Saint-Luc bleiben und sein neues, selbstbestimmtes Leben erproben.
Unangenehm an seinem Zimmer war nur, dass das Gebälk und die Holzwände des Güterschuppens knarrten, ächzten und knirschten, dass es einem unheimlich werden konnte. Sie quarrten tagsüber, wenn die Sonne sie erwärmte, und sie girrten abends, wenn sie sich wieder abkühlten; sie knackten im Morgengrauen, wenn die Kälte der Nacht am größten war, und sie knarzten bei Sonnenaufgang, wenn sie sich wieder erwärmten. Mal klang es, als würde jemand die Treppe hinauf zu Léons Zimmer steigen, dann wieder, als schleiche einer durch den Dachstock oder als kratze jemand nebenan mit einem Schraubenzieher über die Wand. Léon wusste wohl, dass da niemand war, musste aber trotzdem immer horchen und fand nie vor Mitternacht in den Schlaf.
So gewöhnte er sich an, nach dem Abendessen mit dem Fahrrad ausgedehnte Streifzüge durchs Umland zu unternehmen und erst lang nach Einbruch der Nacht, wenn er richtig müde war, heimzukehren. Weil aber das Meer weit weg war und es in weitem Umkreis nichts anderes zu sehen gab als Weizen- und Kartoffelfelder, zwischen denen undurchdringliche Haselhecken und brackige kleine Entwässerungskanäle verliefen, wurden seine Ausfahrten immer kürzer und endeten immer rascher im Städtchen.
In jenem Frühsommer 1918 bestand Saint-Luc-sur-Marne aus etwa hundert Häusern, die in konzentrischen Kreisen um die Place de la République angeordnet waren. Im innersten Kreis standen ein pompöses klassizistisches Rathaus, eine im selben Stil erbaute Grundschule sowie ein paar Bürgerhäuser. Außerdem gab es eine Markthalle, die Brasserie des Artistes und das Café du Commerce sowie eine romanische Kirche, an deren hinterem Ende der Bürgermeister gegen den erbitterten Widerstand des Pfarrers mit republikanischer Boshaftigkeit ein Urinal hatte anbauen lassen. Im mittleren Kreis gab es das Postamt und zwei Bäckereien, einen Friseur und einen Spezereiladen, zudem eine Metzgerei sowie einen Eisenwarenladen und eine Kleiderboutique namens Aux Galeries Place Vendôme, in der die Bürgerinnen des Städtchens und die Bäuerinnen des Umlands einkauften, was sie für Pariser Chic hielten. Im äußersten Kreis fanden sich zwischen einfachen Wohnhäusern die Schmiede und die Tischlerei sowie der Verkaufsladen der landwirtschaftlichen Genossenschaft, weiter die Sattlerei und das Kriegerdenkmal für die Gefallenen von 1870 und schließlich das Bestattungsinstitut sowie eine mechanische Werkstatt und das Feuerwehrlokal.
Im ersten Jahr war die Front für ein paar Wochen ungemütlich nahe gerückt und im dritten Jahr nochmal, und beinahe in Sichtweite gab es Trümmerfelder zu besichtigen, die früher blühende Dörfer gewesen waren; Saint-Luc selbst aber war verschont geblieben von den Schrecken des Krieges. Das Schlimmste, was das Städtchen zu erdulden gehabt hatte, war die Requisition des Feuerlöschwagens durch einen vorbeiziehenden Truppenkommandanten sowie der gelegentliche Einfall von Soldatenhorden auf Fronturlaub, die wild entschlossen waren, ihren Sold in einer Nacht zu verprassen. Ansonsten hatte man sich in Saint-Luc an den eigenartigen Umstand gewöhnt, dass der Krieg nur dort wütete, wo er tatsächlich stattfand, während gleich um die Ecke die Butterblumen blühten, die Marktfrauen ihre Waren feilboten und die Mütter ihren Töchtern bunte Bänder ins Haar flochten.
Als Neuankömmling hatte Léon geglaubt, das Café du Commerce sei das Stammlokal der Gewerbetreibenden, die Brasserie des Artistes hingegen Treffpunkt der lokalen Künstler und Intellektuellen; aber natürlich war es umgekehrt. Denn wie überall auf der Welt litten auch in Saint-Luc die erfolgreichsten Rechtsanwälte, Händler und Handwerker abends, wenn sie ihre Tageseinnahmen gezählt und sicher im Geldschrank versperrt hatten, auf moderate Weise unter einem gewissen Mangel an Witz und Schönheit in ihrem Leben, weshalb sie ihre spärliche Freizeit gern in der Brasserie des Artistes verbrachten, die sie für den Künstlertreffpunkt hielten, weil an den Wänden nikotingelbe Kunstdrucke von Henri de Toulouse-Lautrec hingen. Aber wie überall auf der Welt gab es im vermeintlichen Künstlertreff längst keine Künstler mehr, weil diese vor den allzu Lebenstüchtigen quer über den Platz ins Café du Commerce geflohen waren. Dort saß nun nach dieser Rochade die lokale Bohème Abend für Abend in sicherer Entfernung zur Bourgeoisie, langweilte sich genauso wie diese und litt an der unleugbaren Tatsache, dass auch das Künstlerleben bei Weitem nicht so lustig und abwechslungsreich ist, wie es gerechterweise sein müsste.
Die Bohème von Saint-Luc bestand aus zwei schriftstellernden Lehrern, die sich einander künstlerisch weit überlegen glaubten, dann dem chronisch schwermütigen Kirchenorganisten und einer aquarellierenden Jungfer sowie dem lispelnden Grabsteinmetz und ein paar alteingesessenen Trinkern, Quatschköpfen und Pensionisten. Alle saßen sie Abend für Abend trotzig fröhlich beisammen an ihrem Stammtisch nahe beim runden Kohleofen, dessen Rohr quer durch den Saal führte und zur Küche hin in der Wand verschwand, tranken Pernod und dünsteten Knoblauch aus, während in knapp hundert Kilometern Entfernung komplette Jahrgänge junger Männer erschossen, vergast und durch den Fleischwolf gedreht wurden.
Gerechterweise muss man sagen, dass es nicht die Schuld der Quatschköpfe war, dass es ihnen so gut ging. Das Geld lag nun mal auf der Straße, seit der Staat seine Soldaten und deren Familien mit großzügigen Renten, Stipendien und Pensionen bei Laune hielt; zwar konnte man mit dem Geld nicht immer alles kaufen, worauf man gerade Lust hatte, aber Brot und Speck und Käse gab es reichlich. Im Commerce war der Wein vielleicht manchmal ein wenig mit Wasser verdünnt, dafür war er billig, nicht allzu sauer und verursachte keine Kopfschmerzen.
Natürlich hatte unter den Stammgästen die Nachricht längst die Runde gemacht, dass der alte Barthélemy am Bahnhof fürs Nichtstun einen neuen Assistenten bekommen hatte, weshalb Léon, als er in seiner Eisenbahneruniform zum ersten Mal durch die gläserne Eingangstür trat, sich ihnen gar nicht mehr vorstellen musste. »Zu Ihren Diensten, mein General!«, hatte der dienstälteste Quatschkopf gerufen und im Sitzen salutiert, und einer der Lehrer hatte sich zu ihm an den Tresen gestellt, um ihn namens der Einwohnerschaft eingehend zu seinem Vorleben, seinen aktuellen Lebensumständen und seinen Zukunftsplänen zu befragen. Befriedigt nahmen die Stammgäste im Lauf der folgenden Abende zur Kenntnis, dass Léon keine großen Reden schwang und keine Keilereien anzettelte, sondern still am Tresen ein oder zwei Gläser Bordeaux trank und nach einer halben Stunde höflich das Feld räumte, wie es sich für einen Jungen seines Alters gehörte.
Léon war jeden Abend im Commerce. Manchmal sprach er mit dem Wirt ein paar Worte, manchmal auch mit dessen Tochter, die montags, mittwochs und freitags hinter dem Tresen stand und ein großgewachsenes, ernstes Mädchen war, das immer ein wenig abwesend schien, aber selbst bei den größten Saufgelagen jederzeit die Übersicht behielt über die Trinkschulden jedes einzelnen Gasts. Léon wusste, dass sie ihm gelegentlich aus den Augenwinkeln prüfende Blicke zuwarf, und er versuchte vor ihr zu verheimlichen, dass er seinerseits die Eingangstür im Auge behielt.
Denn natürlich war er nicht nur wegen des Rotweins da, sondern hauptsächlich in der Hoffnung, dass irgendwann das Mädchen mit der rotweiß gepunkteten Bluse auftauchen würde. Sie hatte kein Gepäck auf dem Fahrrad gehabt, also musste sie in der Gegend leben; wenn nicht in Saint-Luc selbst, so doch in einem der umliegenden Weiler. Der Ort war klein, schon nach wenigen Tagen war ihm kaum ein Gesicht mehr unbekannt; er kannte den Pfarrer und die drei Polizisten und den Gemeindediener und sämtliche Gassenjungen und das Blumenmädchen. Die schöne Radfahrerin aber fand er nicht mehr, weder in der Bäckerei noch im Postamt, noch auf der Straße oder in der Sonntagsmesse, weder auf dem Friedhof noch in der Wäscherei oder im Blumenladen, nicht auf den Sitzbänken auf der Place de la République und nicht unter den Platanen, die den Kanal säumten, und auch nicht am Eingangstor zur Ziegelbrennerei auf der anderen Seite des Bahngleises. Einmal war er einer Radfahrerin hinterhergerannt, bis sie abstieg und sich als die Ehefrau des Bäckers in der Rue des Moines entpuppte, und einmal hatte er ein regelmäßiges Quietschen gehört, dessen Herkunft aber nicht orten können, bevor es leiser wurde und verstummte.
Oft war Léon nahe daran, den Wirt des Commerce oder dessen Tochter nach einem Mädchen mit rotweiß gepunkteter Bluse zu fragen; er tat es aber nicht, weil er wusste, dass es in kleinen Orten zu nichts Gutem führt, wenn ein fremder Mann sich nach einem einheimischen Mädchen erkundigt.
Eines Abends aber, als Léon gerade bezahlt hatte, ging schwungvoll die Tür auf, und herein kam leichten, schnellen Schrittes das Mädchen mit der rotweiß gepunkteten Bluse, nur dass sie diesmal keine Bluse, sondern einen blauen Pullover trug. Sie warf in vollem Lauf mit wohldosiertem Schwung die Tür hinter sich zu, ging zielstrebig zum Tresen und grüßte unterwegs die Stammgäste links und rechts. Nur eine Armlänge von Léon entfernt blieb sie stehen und bestellte beim Wirt zwei Schachteln Turmac-Zigaretten. Während er die Zigaretten aus dem Regal nahm, kramte sie Münzen hervor und legte sie in die Geldschale, dann räusperte sie sich und strich sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand eine Strähne hinters Ohr, die dort aber nicht bleiben wollte und sofort wieder nach vorne schnellte.
»Bonsoir, Mademoiselle«, sagte Léon.
Sie wandte sich nach ihm um, als bemerke sie ihn erst jetzt. Léon schaute ihr in die Augen, und in der ersten Sekunde schien ihm, als erkenne er in der Tiefe ihres grünen Augengrunds die Ahnung einer großen Freundschaft.
»Dich kenne ich«, sagte sie, »aber woher?« Ihre Stimme war noch bezaubernder, als Léon sie in Erinnerung gehabt hatte.
»Von der Landstraße«, sagte er. »Sie haben mich auf dem Fahrrad überholt. Zweimal.«
»Ach ja.« Sie lachte. »Ist eine Weile her, nicht?«
»Fünf Wochen und drei Tage.«
»Ich erinnere mich, du sahst müde aus. Hattest komisches Zeug hinten aufs Rad gebunden.«
»Einen Kanister Petroleum und ein Fensterkreuz«, sagte er. »Und eine Mistgabel ohne Stiel.«
»Sowas schleppst du mit dir rum?«
»Manchmal finde ich sowas, dann schleppe ich es mit mir rum. Übrigens bin ich froh, dass es Ihrem rechten Auge besser geht.«
»Was ist mit meinem rechten Auge?«
»Das war damals ziemlich rot. Vielleicht war eine Mücke hineingeflogen oder eine Fliege.«
Das Mädchen lachte. »Ein Maikäfer war’s, groß wie ein Hühnerei. Daran erinnerst du dich?«
»Und Ihr Fahrrad hat gequietscht.«
»Das quietscht immer noch«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette an, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt wie ein Straßenjunge. »Und du? Stehst dir hier jeden Abend die Beine in den Bauch?«
Oh, dachte Léon. Das Mädchen weiß, dass ich hier jeden Abend rumstehe. Oh, oh. Das bedeutet doch wohl, dass es meine Existenz bereits zur Kenntnis genommen hat, und zwar verschiedentlich. Oh, oh, oh. Und jetzt kommt es her und lügt und tut, als ob es mich nicht wiedererkennen würde. Oh, oh, oh, oh.
»So ist es, Mademoiselle. Sie finden mich hier, wann immer Sie wollen.«
»Wieso?«
»Weil ich nicht weiß, wo ich mir sonst die Beine in den Bauch stehen soll.«
»Ein großer Bursche wie du? Sonderbar«, sagte sie, verstaute die Zigarettenschachteln in der Tasche und wandte sich zum Gehen. »Ich habe immer gedacht, Eisenbahner seien regsame Leute, vielleicht sogar mit Fernweh. Da habe ich mich wohl getäuscht.«
»Ich wollte gerade gehen«, sagte er. »Darf ich Sie ein Stück begleiten?«
»Wohin denn?«
»Wohin Sie wollen.«
»Lieber nicht. Mein Heimweg führt durch eine dunkle Gasse. Dort würdest du mir womöglich etwas über Geschwisterseelen erzählen. Oder versuchen, mir die Zukunft aus der Hand zu lesen.«
Und weg war sie.