12. KAPITEL
In den folgenden elf Jahren acht Monaten dreiundzwanzig Tagen vierzehn Stunden und achtzehn Minuten sahen und hörten Louise und Léon einander nicht wieder, und sie blieben ohne Nachricht voneinander. Léon Le Gall hielt sein verweigertes Versprechen und näherte sich nie, kein einziges Mal, der Banque de France, und er unternahm auch keine sinnlosen Métrofahrten und lungerte nicht unnötig auf dem Boulevard Saint-Michel herum.
Allerdings war es unumgänglich, dass er morgens zur Arbeit und abends wieder nach Hause ging, und unterwegs konnte er nicht die Augen zukneifen, sondern musste sie offen halten; so konnte es nicht ausbleiben, dass ihm gelegentlich, wenn er auf dem Boulevard Saint-Michel ein paar grüne Augen sah oder einen Nacken, über dem dunkles Haar von einem Ohr zum anderen abgesäbelt war, das Herz schneller schlug. Auch nach Jahren noch zuckte er zusammen, wenn ein Renault Torpedo um die Ecke bog oder wenn in der Métro eine weibliche Gestalt im Regenmantel Zigaretten rauchend in der Ecke stand.
Einmal verließ er während der Arbeitszeit das Labor, stieg hinauf unters Dach des Justizpalasts und fand im Gebälk, das schwarz war vom Staub der Jahrhunderte und weiß vom Gespinst der Spinnen, eine nach Nordwesten sich öffnende Luke. Er öffnete das blinde Fenster und stellte zu seiner Beruhigung fest, dass die Sicht in Richtung Banque de France über die Seine zwar frei, dann aber durch mehrere Häuserzeilen versperrt war.
Einmal, an einem Donnerstagabend auf dem Heimweg, war auf der Place Saint-Michel vor seinen Augen hinter dem kreisrunden Kiosk ein Schemen verschwunden, von dem er im Bruchteil einer Sekunde überzeugt gewesen war, dass es Louise sein musste. Er war zum Kiosk gelaufen und hatte ihn zweimal umrundet, hatte ringsum die vorübereilenden Menschen gemustert und dann den Kiosk in Gegenrichtung noch einmal umrundet – aber die Gestalt war auf rätselhafte Weise verschwunden geblieben, als sei sie in den Himmel entschwoben oder durch eine Geheimtür in den Untergrund versunken.
Nachts vor dem Einschlafen durchlebte Léon in Gedanken immer wieder die Autofahrten mit dem Torpedo, das Beisammensein mit Louise im Relais du midi und die letzten Stunden bis zum Morgengrauen an jenem Waldrand in Sichtweite des Eiffelturms. Verwundert stellte er fest, dass seine Erinnerungen im Lauf der Wochen, Monate und Jahre nicht verblassten, sondern im Gegenteil kräftiger und lebendiger wurden. Von Jahr zu Jahr heißer fühlte er ihre Lippen an seinem Hals, und immer stärker durchfuhr ihn der Schauer beim Gedanken daran, wie sie ihm »Fass mich da an, da« ins Ohr gewispert hatte; süßer als damals hatte er ihren Duft in der Nase, und in seinen Händen ganz gegenwärtig war die Empfindung ihres biegsamen, sehnigen, aber auch unnachgiebigen und fordernden Körpers, der so ganz anders war als die warme, weiche Nachgiebigkeit seiner Ehefrau; im Herzen bewahrte er die Empfindung, die er nur im Zusammensein mit Louise gehabt hatte – jenes Gefühl, ganz eins und im Reinen zu sein mit sich und der Welt und der Kürze der Zeit, die einem beschieden ist.
Tagsüber ging er gewissenhaft zur Arbeit, und abends scherzte er mit seiner Frau und war den Kindern ein zärtlicher Vater; aber im Grunde war er doch immer dann am lebendigsten, wenn er sich seinen Erinnerungen hingab wie ein alter Mann. Äußerlich hatte er sich nicht sehr verändert in den zwölf Jahren, die seit dem Ausflug mit Louise vergangen waren; er war nicht dicker und nicht dünner geworden, und obwohl er nun eine Stirnglatze hatte, war sein Körper mit vierzig Jahren kaum anders als zehn oder zwanzig Jahre zuvor.
Ein junger Mann aber, das fühlte er seit Kurzem, war er nun nicht mehr. Noch tat ihm nichts weh, noch neigte er nicht zur Schwermut und ließ sein Gedächtnis nicht nach, und noch wurde er unruhig beim Anblick schöner Frauenbeine. Trotzdem fühlte er, dass die Sonne ihren Höchststand überschritten hatte. Auch wollte er nicht mehr jung erscheinen und hatte nicht mehr das Bedürfnis, sich mit glänzenden Gamaschen und einer kecken Melone interessant zu machen; kürzlich hatte er erstmals einen klassischen Tweedanzug gekauft und bei der Anprobe verwundert und ein wenig amüsiert festgestellt, dass er darin dem Vater seiner Kindheit zum Verwechseln ähnlich sah.
Seine Frau Yvonne beklagte sich nicht. Als er an jenem Sonntagmorgen auf der Place Saint-Michel Louise ein letztes Mal geküsst hatte und aus dem Torpedo gestiegen war, um sich an die Rue des Écoles zu schleppen wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zum Schafott, hatte sie getan, als sei er nicht die ganze Nacht weggeblieben, sondern kehre nur von der Bäckerei zurück oder habe rasch seine Hemden zum Bügeln hinunter zu Madame Rossetos gebracht. Die Wohnungstür war offen gestanden, und aus der Küche hatte es nach Kaffee geduftet, und als er nach ihrer Hand greifen und zu einer Erklärung ansetzen wollte, hatte sie sich ihm entzogen und gesagt: »Lass gut sein, wir wissen beide Bescheid. Wir wollen nicht unnötig Worte verlieren.«
Zu Léons grenzenlosem Erstaunen verbrachten sie dann einen unaufgeregt angenehmen Sonntag wie die glücklichste aller Familien, spazierten im milchigen Novemberlicht durch den Jardin des Plantes und zeigten dem kleinen Michel die ausgestopften Mammuts und Säbelzahntiger im naturhistorischen Museum, aßen Zitroneneis in der Brasserie au Vieux Soldat und ließen ihr Söhnchen Motorrad fahren auf dem Karussell, das am Eingang des Jardin du Luxembourg stand, und die ganze Zeit hatte sich Yvonne bei ihm eingehängt und folgte mit ihrer trächtig weichen Hüfte katzenhaft anschmiegsam jeder seiner Bewegungen, als hätten sie beide seit jeher im Leben dieselben Ziele, dieselben Wünsche und dieselben Absichten gehabt.
Anfangs war Léon irritiert über das Ausbleiben des unvermeidlichen Dramas. Er wunderte sich über Yvonnes Großmut einerseits und andererseits darüber, dass er seiner Untreue so rasch hatte untreu werden können; aber dann verstand er, dass Yvonne ihn besiegt hatte, indem sie sich seine Eskapade zu eigen, zu einer Episode ihrer Ehe gemacht hatte. Seine Wiederbegegnung mit Louise würde künftig nicht trennend zwischen ihnen stehen, sondern sie als gemeinsame Erinnerung verbinden. Allerdings wurde ihm auch bewusst, dass diese Großzügigkeit letztlich auf grausamer Unerbittlichkeit beruhte: auf der Gewissheit nämlich, dass Yvonne auf Gedeih und Verderb auf ihn angewiesen war und dass es einem moralischen Menschen wie Léon in Zeiten von Krise und Inflation in einem katholischen Land wie Frankreich unmöglich sein würde, seinen erstgeborenen Sohn und seine ihm von Gott anvertraute, im fünften Monat schwangere Gattin zu verlassen aus dem einzigen Grund, dass er an der Seite einer anderen Frau sein Glück suchen wollte.
Tatsächlich war es für Léon so selbstverständlich, dass er bei Yvonne bleiben würde, dass es noch nicht mal eine Pflicht war; darüber brauchte er gar nicht nachzudenken. Sie würden zusammenbleiben und sich niemals scheiden lassen, weil es erstens ihnen beiden für die finale Katastrophe zwar nicht an Leidenschaftlichkeit, aber an jenem erforderlichen Quantum Skrupellosigkeit und Selbstbezogenheit fehlte, das den Ehedramen bei aller Hochherzigkeit der Gefühle doch immer auch eigen ist; zweitens war ihre Ehe bei aller Fremdheit und Distanz getragen von einem geschwisterlichen Gefühl von Zuneigung, Wohlwollen und Respekt, das sie aneinander nie verraten hatten; so kam es, dass sie drittens das wichtigste Band, das die meisten Paare am stärksten zusammenhält – die Furcht vor Hunger und Not in der Einsamkeit einer ungeheizten Dachkammer –, noch nie richtig wahrgenommen hatten.
Es war schon dunkel, als sie von ihrem Sonntagsausflug heimkehrten. Sie aßen in der Küche Schinken, Spiegeleier und Brot, legten den kleinen Michel schlafen und gingen dann ebenfalls zu Bett. Unter der Decke waren sie einander in traurigem Glück nahe wie lange nicht mehr, und Léon fühlte sich, so schwer ihm das Herz war, seiner Frau schicksalhaft verbunden. Als er aber noch näher zu ihr rückte und ihr den Saum des Nachthemds hochschob, sagte sie: »Nein, Léon. Das nicht. Das nun nicht mehr.«
Am nächsten Morgen ging er zur Arbeit wie an tausend Morgen zuvor. Auf dem Rasen im Park gegenüber lag Schneeflaum, die Straßen waren nass und die Platanen schwarz, und unter den Wurzeln der Bäume dröhnte die Métro. Zu Weihnachten 1928 kaufte er Yvonne in der Rue de Rennes unter Einsatz der gesamten Ersparnisse ein perlenbesetztes Armband, das sie in den vergangenen Monaten, ohne dass er es hätte merken sollen, mehrmals im Vorbeigehen mit hoffnungslos begehrlichen Blicken betrachtet hatte. Auf ein frühlingshaftes Silvester folgte der strenge Winter 1929; im April, als Yvonne einen gesunden Buben namens Yves zur Welt brachte, lag noch immer hart gefrorener, vom Kohlestaub geschwärzter Schnee in der Rue des Écoles.
Drei Monate später starb an einem Freitagmorgen unerwartet Léons Mutter, als sie auf dem Fischmarkt von Cherbourg Loup de Mer fürs Abendessen kaufen wollte. Sie hatte gerade den in Zeitungspapier gewickelten Fisch entgegengenommen, als in ihrem tüchtigen Gehirn, das achtundfünfzig Jahre einwandfrei funktioniert hatte, ein Blutgerinnsel eine äußerst wichtige Arterie verstopfte. Sie sagte »Au, was soll das!«, griff sich mit der linken Hand an die Schläfe und riss, während sie sich aufs nasse, nach fischigem Eiswasser riechende Pflaster setzte, einen Korb voll Austern hinunter. Als die Fischhändlerin, erschrocken über die leichenblasse Gesichtsfarbe ihrer Kundin, lauthals nach einem Arzt schrie, winkte sie ab und sagte in sachlichem Tonfall: »Lassen Sie mal, das wird nicht nötig sein. Rufen Sie besser die Polizei, die avisiert dann den Amtsarzt und das …« Darauf schloss sie Augen und Mund, als sei nun alles gesehen und gesagt, legte sich seitlich nieder und war tot.
Die Beerdigung fand an einem stürmischen Frühlingsmorgen statt, an dem Kirschblütenblätter wie Schneeflocken durch die Luft wirbelten. Léon stand am offenen Grab und wunderte sich, wie reibungslos das Ritual ablief – wie geradezu beleidigend einfach es war, einen Menschen, der doch immerhin zeitlebens geliebt, gehasst oder zumindest benötigt worden war, schlicht und einfach zu beerdigen, ad acta zu legen und ohne weitere Umstände aus dem Alltag zu entfernen.
Tags darauf reiste Léon ab, obwohl erst Samstag war und er noch hätte bleiben können. Er wunderte sich über sich selbst, dass er es so eilig hatte, nach Paris zurückzukehren, und ärgerte sich, dass er dem Vater stotternde Erklärungen gab wie ein sechzehnjähriger Schulschwänzer; erst später sollte ihm klar werden, dass mit dem Tod der Mutter seine Jugend ihren endgültigen Abschluss gefunden hatte und dass den Mann, der er nun war, nichts mehr mit Cherbourg verband.
Yvonne blieb mit den Buben für ein paar Wochen in Cherbourg, um dem verwitweten Schwiegervater zur Hand zu gehen bei der Auflösung des Hausstands und dem Umzug in eine kleinere Wohnung in der Nähe des Hafens.
Bei der Rückkehr nach Paris brachte sie eine neue Gewohnheit mit, die Léon anfangs verunsicherte. Diese bestand aus einem schwarzen Wachstuchheft mit rot linierten Seiten, in dem sie frühmorgens vor dem Aufstehen ihre Träume niederschrieb. Léon argwöhnte, dass das Wachstuchheft ein Vorzeichen sei für neue eheliche Turbulenzen; als diese ausblieben, deutete er sie als Spätfolge des Kindbetts oder als Nachbeben seines außerehelichen Abenteuers.
Yvonne ihrerseits machte kein Geheimnis, aber auch kein Aufsehen aus dem Heft, das immer offen auf ihrem Nachttisch lag; eine Weile vermutete Léon deshalb, es enthalte an ihn gerichtete Botschaften. So nahm er es zur Hand, wenn Yvonne gerade außer Haus war, und blätterte darin. »Nächtliche Eisenbahnfahrt durch verschneite Winterlandschaft«, hieß es da etwa, »irgendwas mit einem Pferd, dann Papa auf dem Sofa.« Dann unter einem anderen Datum: »Léon macht Schießübungen im Garten – was für ein Garten, woher die Pistole, und worauf schießt er?« Oder: »Ich und die Kleinen in der Métro. Loch im Strumpf, Yves brüllt wie am Spieß. Böse Blicke. Furchtbar peinlich. Der Zug fährt endlos weiter durch den schwarzen Tunnel, will und will nicht anhalten. Zurück in den Schoß von Mutter Erde?«
So oder ähnlich klangen die Bruchstücke, die Yvonnes Gedächtnis in den Wachzustand hinüberrettete. An manchen Tagen stand da auch nur: »Nichts, gar nichts. Kann es sein, dass die ganze Nacht einfach nur dunkel war?« Léon bemühte sich redlich, Interesse zu entwickeln für die nächtlichen Seelengänge seiner Gattin, und anfangs unternahm er es auch, die Symbole und Metaphern, deren Bedeutung meist von bestürzender Offensichtlichkeit war, zu interpretieren und Rückschlüsse zu ziehen auf Yvonnes seelisches Wohlbefinden, den Zustand ihrer Ehe sowie auf das Bild, das sich Yvonne von ihm machte. Da er aber nie etwas wirklich Neues erfuhr, kam er mit der Zeit zum Schluss, dass Träume nichts weiter waren als Ausscheidungsprodukte des seelischen Stoffwechsels, die neugierig zu beäugen für ein sehr junges Mädchen eine Weile unterhaltsam sein mochte; dass aber seine Yvonne als erwachsene Frau sich derart obsessiv mit ihren Nachtgespinsten befassen konnte, befremdete ihn sehr.
Im Juli 1931 artikulierte der kleine Yves, der weit über seinen zweiten Geburtstag hinaus kein Wort über die Lippen gebracht hatte – und zwar wirklich kein Wort, noch nicht mal »Mama« oder »Papa«, weshalb der Hausarzt schon sorgenvoll die Stirn in Falten legte –, endlich laut und deutlich, mit lang gezogenen Vokalen und eindeutig pariserisch kehligem R das schöne Wort »Roquefort«.
In jenem Sommer war es zudem, dass die Weltwirtschaftskrise mit einiger Verspätung auch in Frankreich zu wüten begann und die Police Judiciaire auf ministeriellen Sparbefehl zwanzig Prozent ihres Personalbestands abbauen musste; Léon entging der Entlassung, weil er zwei Kinder zu versorgen hatte, und seine Frau, die ihre Verweigerung im Ehebett aus natürlicher Gutmütigkeit, Freude am Verzeihen und auch aus Eigennutz nicht lange hatte aufrechterhalten können, im dritten Monat schwanger war.
Im April 1932 kam der dritte Sohn zur Welt, der auf den Namen Robert getauft wurde, und als am zweiten Juliwochenende die großen Sommerferien begannen, ging in Cherbourg Léons Vater in Pension, nach exakt vierzig Jahren Schuldienst im selben Klassenzimmer, auf demselben Stuhl hinter demselben Lehrerpult. Zehn Tage später machte er seinem einsamen Witwerleben auf geradezu aggressiv rücksichtsvolle Weise ein Ende, indem er sich diskret einen Sarg in passender Größe beschaffte und diesen in seiner Stube aufstellte. Er streifte sich ein weißes Nachthemd über und nahm einen kräftigen Schluck Rizinusöl zu sich, und nachdem er sich auf der Toilette gründlich entleert hatte, schluckte er ausreichend Barbiturate und legte sich in den Sarg. Dann zog den er den Deckel über sich zu, schloss die Augen und faltete die Hände. Die Hausmeisterin fand ihn am nächsten Morgen. Auf dem Sarg lag ein an sie adressierter Zettel zusammen mit einem Fünffrancstück, das sie für den Schrecken entschädigen sollte, sowie ein notariell beglaubigtes Testament, das die Erbschaftsangelegenheiten regelte und alle Einzelheiten des bereits organisierten und bezahlten Begräbnisses aufführte.
Yvonne verbrachte wiederum den Sommer mit den Kindern in Cherbourg, um die Wohnung des Schwiegervaters als Ferienwohnung in Besitz zu nehmen und das Erbe anzutreten, das sich als recht ergiebig herausstellte; nach Abzug aller Kosten resultierte für Léon und Yvonne ein hübsches finanzielles Polster bei der Société Générale in der Höhe von einigen Monatslöhnen, das ihnen, weil sie klug damit wirtschafteten, quer durch die Jahrzehnte mit geringfügigen Schwankungen erhalten bleiben und auf bescheidenem Niveau ein finanziell sorgenfreies Leben ermöglichen sollte.
Kurz vor der Rückkehr nach Paris machte Yvonne während eines Strandspaziergangs die Bekanntschaft eines schwarzäugigen Schönlings namens Raoul, der keiner geregelten Arbeit nachging, sie nach wenigen Minuten um Geld anging und die Kühnheit hatte, sie abends, als die Kinder schliefen, in der fast leeren Wohnung des verstorbenen Schwiegervaters aufzusuchen. Sie schlief noch am selben Abend mit ihm, ebenso an den zwei Abenden danach und machte dabei Dinge, die sie im Ehebett mit ihrem Léon niemals getan hätte.
Auf der Heimfahrt nach Paris machte sie sich bittere Vorwürfe und fragte sich, ob sie den Ehebruch aus Rache für Léons Affäre mit der kleinen Louise begangen hatte oder aus weiblicher Eitelkeit und Furcht vor dem Altwerden; denn aus Gründen purer Lust, das hätte sie spätestens nach dem ersten Mal wissen müssen, wäre es die Mühe nicht wert gewesen. Noch bei der Einfahrt in die Gare Saint-Lazaire war sie überzeugt, dass sie Léon alles würde beichten müssen; als er dann aber so arglos auf dem Bahnsteig stand mit seinen blauen Augen und seinem von zweimonatigem Strohwitwertum zerknitterten Anzug, brachte sie es nicht über sich, sondern stürzte auf ihn zu und rettete sich in eine Umarmung, deren Länge und Innigkeit Léon hätte stutzig machen müssen. Es sollte fast dreißig Jahre dauern, bis sie, den Tod vor Augen, ihm ihren Fehltritt, welcher der einzige bleiben sollte, gestand.
Im Mai 1936 gewann der Front Populaire die Wahlen, Léon erhielt erstmals bezahlte Ferien. Er fuhr mit den Buben und mit Yvonne, die kurz zuvor von einem Mädchen namens Muriel entbunden worden war, für zwei Wochen nach Cherbourg, wo er zwar die Freunde seiner Jugend nicht mehr wiederfand, hingegen eine Segeljolle mietete und mit seiner Familie Ausflüge zu den Kanalinseln unternahm; Yvonne war während der ganzen zwei Wochen in heimlicher Sorge, dass irgendwann der schöne Raoul auftauchen könnte, und atmete erst auf, als sie wieder im Zug nach Paris saßen.
Eines Abends im April 1937 herrschte große Aufregung in der Rue des Écoles. Es war früher Abend kurz vor der Essenszeit, als Madame Rossetos schreiend durchs Haus rannte auf der Suche nach ihren zwei Töchtern, die vierzehn- und siebzehnjährig spurlos verschwunden waren unter Mitnahme ihrer Bettwäsche, ihrer Kleider und der Ersparnisse der Mutter, welche diese seit vielen Jahren in einer Zuckerdose im Küchenschrank verwahrt hatte.
Im Januar 1938 wurde Léon Le Gall zum stellvertretenden Laborleiter des Wissenschaftlichen Dienstes der Police Judiciaire ernannt, und am 1. September 1939, am Tag, an dem Deutschland Polen überfiel, musste er sich in der Salpêtrière einer Hämorrhoidenoperation unterziehen.
Der Tag, an dem ihm Louise erstmals wieder ein Lebenszeichen schicken sollte, begann als einer der bizarrsten Tage in der Geschichte Frankreichs. Es war Freitag, der 14. Juni 1940. Jener erste Frühling nach Ausbruch des Krieges, der sich in Paris bisher erst wenig bemerkbar gemacht hatte, war von nie dagewesener Schönheit und Lebenslust gewesen. Den ganzen Monat April hatten die Frauen, während im Osten schon wieder Hunderttausende von jungen Männern verreckten, unter tiefblauem Himmel kurze geblümte Röcke getragen und das Haar frei über den Rücken fallen lassen, und die Straßencafés waren bis spät in die Nacht voll besetzt gewesen, weil die Boulevards glühten von der Wärme gespeicherten Sonnenlichts, als verberge sich unter dem Kopfsteinpflaster ein gigantisches warmblütiges Wesen mit unspürbar sanfter Atmung.
Aus den Lautsprechern der Radios sang Lucienne Delyle sehnsüchtig ihre Sérénade sans Espoir, in den Galeries Lafayette und in der Samaritaine riss sich die Kundschaft um weiße Leinenanzüge und Strandpyjamas; überall in der Luft hing der betörende Duft teurer Parfums aus winzigen Flacons, und bei Anbruch der Dunkelheit verschmolzen in den Parks die Schatten der Liebenden mit den Schatten blühender Platanen und Kastanienbäume. Gewiss gingen die Gedanken hin und wieder zwischen zwei Küssen oder zwei Gläsern zu der Schlächterei im Osten; aber hätte man deswegen nur ein Glas weniger trinken, einen Kuss weniger verschenken, einen Tanz weniger tanzen sollen? Wäre damit irgendwem geholfen gewesen?
Der süße Traum dieses Frühlings nahm ein abruptes Ende, als sich herausstellte, dass die Maginot-Linie die Hunnen diesmal nicht würde aufhalten können. Nach dem 10. Mai flohen die Belgier und Luxemburger zu Zehntausenden vor den stählernen Riesenlibellen der Luftwaffe und den Sauriern der deutschen Panzerbrigaden, die in grauenhaftem Tempo und mit ohrenbetäubendem Kreischen wie prähistorische Plagen übers Land herfielen und ihr bleiernes Gift über die Flüchtlingsströme verspritzten; als die Panzerkolonnen auch bei Sedan die Sperren durchbrachen, setzte in Paris ein allgemeines Rette-sich-wer-kann ein, das angeführt wurde von der Regierung und ihren Generälen und Ministern und den Industriellen, die sich mit den Löhnen der Arbeiter davonmachten, gefolgt von den Parlamentariern und Beamten und Speichelleckern, den Diplomaten und Geschäftsleuten und Arschkriechern sowie den Trümmern der Armee, dann auch der schönen Welt der Journalisten, Künstler und Gelehrten, die sich zum Wohle der Humanität und im Interesse der Zukunft ebenfalls verpflichtet fühlten, mit allen Mitteln und in allerhöchster Priorität ihre eigene Haut zu retten.
Mit ihnen flohen Frauen, Kinder und Greise zu Hunderttausenden südwärts, in überfüllten Zügen und auf verstopften Straßen, zu Fuß und auf Fahrrädern, im Taxi und in Autos, die mangels Treibstoff von Ochsengespannen gezogen wurden, Stoßstange an Stoßstange mit Matratzen, Fahrrädern und Ledersesseln auf den Dächern, auf Pferdefuhrwerken, Lastwagenbrücken und Schubkarren, auf denen sich das Inventar ganzer Handwerkerbuden, Krämerläden und Haushaltungen türmte.
Nach drei Wochen versiegte der Flüchtlingsstrom, Paris war zu zwei Dritteln entvölkert. Zurückgeblieben waren die Reichsten der Reichen und die Ärmsten der Armen sowie jene, denen Fahnenflucht aus beruflichen Gründen von Gesetzes wegen verboten war: Die Angestellten der Krankenhäuser und der Finanz- und Steuerverwaltung, die Beamten von Post, Telegrafenamt und Métro, das Personal der Elektrizitäts- und Gaswerke sowie der Feuerwehr und die zwanzigtausend Polizeibeamten.
So ging Léon weiter Tag für Tag ins Labor, als ob nichts wäre, während die Zeitungen den Rückzug nach Dünkirchen vermeldeten, den Zusammenbruch des Eisenbahnverkehrs, die Kapitulation der belgischen Regierung. Aus dem Kommissariat wurde ihm dieselbe Arbeit zugeführt wie zu Friedenszeiten – mit Blausäure versetzte Mandeltorte, Champagner mit Rattengift, Knollenblätterpilz im Steinpilzrisotto. Zu seiner Verwunderung gab es, obwohl Paris zu zwei Dritteln entvölkert war, nicht etwa weniger Verdachtsfälle auf Gift, sondern erheblich mehr; wie es schien, war in den Stunden von Chaos und Massenpanik manche Giftmischerin zur Tat geschritten, der es in stabileren Zeiten am erforderlichen Mut gefehlt hatte.
Am Montag, dem 10. Juni 1940, aber wurde die berufliche Routine meines Großvaters abrupt unterbrochen. Als er wie gewohnt um Viertel nach acht zur Arbeit erschien, war der Quai des Orfèvres schwarz von Beamten der Police Judiciaire; uniformierte Gendarmen, zivile Inspektoren, Polizeichemiker, Gerichtsmediziner und Büroangestellte standen missmutig in der Morgensonne auf dem Kopfsteinpflaster und rauchten, steckten in kleinen Gruppen die Köpfe zusammen oder lasen Zeitung im Schatten von Hauseingängen oder Vordächern. Die Türen waren verschlossen, im Innern des Gebäudes brannte Licht.
»Was ist los, wieso geht keiner rein?«, fragte Léon einen jungen Kollegen, den er vom Kaffeetrinken flüchtig kannte.
»Keine Ahnung. Angeblich soll Büro 205 geräumt werden.«
»Das Ministerium der Schande?«
»Scheint so.«
»Wird es geschlossen?«
»Nein, nur das Archiv wird evakuiert.«
»Die ganzen Ausländerkarteien?«
»Wird ein schönes Stück Arbeit. Da sollen wir mit anpacken.«
»Dann packt ihr mal an. Ich habe im Labor eine Menge zu tun.«
»Deine Arbeit fällt heute wohl aus. Notbefehl. Sämtliche Abteilungen sind vom ordentlichen Dienst suspendiert und müssen mit anpacken.«
»Auch gut. Immerhin überlassen wir das Archiv nicht den Nazis. Ein Akt der Menschlichkeit.«
»Menschlichkeit, am Arsch!«, sagte der junge Kollege und schnippte seinen Zigarettenstummel in die Seine. »Die wollen nur ihre Kartei in Sicherheit bringen, das ist alles.«
»Vor den Nazis?«
»Weil sie Angst haben, dass die Deutschen die schöne Ordnung in Büro 205 durcheinanderbringen könnten. Wo die doch nicht mal Französisch können.«
»Sag bloß.«
»Ja.«
»Da kannst du mal sehen.«
»Büro 205 ist noch ordnungsliebender als die Deutschen.«
Der Service des Etrangers in Büro 205, die Abteilung zur Kontrolle von Ausländern und Flüchtlingen, hatte weit über die Landesgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt als das Ministerium der Schande. Sie bestand aus einer Hundertschaft kleiner Beamter, deren ausschließliche Aufgabe es war, sämtliche Flüchtlinge und Vertriebenen, die im Land der Menschenrechte Zuflucht suchten, zu bespitzeln, zu kontrollieren und zu drangsalieren und ihnen den Weg zur dauerhaften Aufenthaltsbewilligung möglichst schwer zu machen. Ins Leben gerufen mit edlen Motiven als Hilfsorganisation für das menschliche Strandgut des Ersten Weltkriegs, war der Service des Etrangers im Herzen der Police Judiciaire scheinbar selbsttätig und ohne jemandes Zutun über die Jahre herangewachsen zu einem Moloch, der sich vom Blut derer nährte, die er eigentlich beschützen sollte, und dessen oberstes Ziel es war, jederzeit alles über jeden zu wissen, der kein lupenreiner Franko-Franzose war.
Die prächtigsten Hotels von Paris und die schäbigsten Pensionen der Banlieue hatten täglich ihre Meldescheine in Büro 205 abzugeben, jedes Arbeitsamt musste seine Ausländer melden, jede Gerichtsbehörde sachdienliche Meldungen machen, und jeder anonyme Denunziant fand hier ein offenes Ohr bei gewissenhaften Beamten, die jede Verleumdung sorgfältig auf eine Karteikarte übertrugen und für alle Zeit in einem Register ablegten.
Es gab Millionen rote Karteikarten für die Registrierung der ausländischen Population nach Straßenzügen, Millionen graue Karteikarten für die Erfassung nach Nationalitäten, Millionen gelbe Karteikarten für politische Informationen; Juden, Kommunisten und Freimaurer wurden in separaten Karteien geführt. So zahlreich waren die Karteien, dass sie in zentralen Registern zusammengefasst werden mussten, welche wiederum in einem großen, allumfassenden Register zusammenliefen, und alle diese Karteien und Register wurden in Büro 205 in hölzernen Kästen und Hängeregistraturen methodisch abgelegt auf himmelhohen Regalen, die sämtliche Wände der weitläufigen Bürohalle bedeckten.
Draußen vor der Tür von Büro 205 standen lange Wartebänke, die blankgescheuert waren von den Hosenböden Hunderttausender polnischer Juden, deutscher Kommunisten und italienischer Antifaschisten, die hier über die Jahre viele Stunden, Tage und Wochen verbracht hatten in der zitternden Hoffnung, dass endlich ihr Name aufgerufen würde und man sie einlasse in Büro 205, wo ein kleiner Beamter hinter einem Schreibtisch sie misstrauisch über seinen Brillenrand hinweg mustern, rote und graue Karteikarten konsultieren, nach langem Stirnrunzeln hoffentlich gnädig seinen Stempel zücken und bitte, bitte die Aufenthaltsbewilligung um eine weitere Woche, einen weiteren Monat verlängern würde.
Die Glocken von Notre-Dame hatten gerade halb neun geschlagen, als auf dem Quai des Orfèvres ein schwarzer Citroën Traction Avant vorfuhr. Die Beifahrertür ging auf, und Roger Langeron, der Polizeipräfekt von Paris, stieg aus. Er wandte sich mit einem Megaphon übers Autodach an das Heer der wartenden Männer.
»MESSIEURS, ICH BITTE UM IHRE AUFMERKSAMKEIT. SONDEREINSATZ SÄMTLICHER BEAMTER DER POLICE JUDICIAIRE NACH KRIEGSRECHT. ALLE MANN ÜBER TREPPE F IN DIE ERSTE ETAGE, BEREITHALTEN IM FLUR VOR BÜRO 205! BEEILUNG, WENN ICH BITTEN DARF, DIE ZEIT DRÄNGT. DIE DEUTSCHEN STEHEN SCHON VOR COMPIÈGNE!«
Léon stieg an der Seite seines jungen Kollegen über Treppe F in die erste Etage und setzte sich im Flur auf die Wartebank. Die Tür zu Büro 205 stand offen. Im Saal, der sonst berühmt war für seine klösterliche Stille und die geradezu maschinelle Präzision der Arbeitsabläufe, herrschte ein brummendes Gewimmel wie auf dem Flohmarkt. Auf hohen Leitern standen Männer mit Ärmelschonern und zogen Karteikästen aus den Regalen, die sie hinunterreichten an andere Männer mit Ärmelschonern, welche sie zu einem großen Schreibtisch in der Mitte des Saales trugen, hinter dem der Polizeipräfekt persönlich Platz genommen hatte. Er prüfte jeden einzelnen Karteikasten und schob ihn dann entweder ans linke oder ans rechte Ende seines Schreibtischs. Was nach links ging, war zur sofortigen Vernichtung bestimmt, nach rechts gingen die Kästen, die in Sicherheit gebracht werden sollten.
An beiden Enden des Schreibtischs bildeten sich zwei Menschenketten, über welche die Karteien abtransportiert wurden. Sie führten parallel zueinander hinaus in den Flur zur Treppe F und hinunter ins Erdgeschoss, dann durchs Hauptportal ins Freie und über den Quai des Orfèvres ans Ufer der Seine. Die zur Vernichtung bestimmten Akten wurden ein paar Schritte flussabwärts ins Wasser geworfen, wo sich die einzelnen Blätter voneinander lösten und in der Strömung davontrieben wie übergroßes Herbstlaub; das zur Aufbewahrung bestimmte Material wurde weiter oben in zwei eigens requirierte Lastkähne verladen.
Léon reihte sich in jener Kette ein, welche die Karteikarten der Vernichtung zuführte. Acht Stunden stand er auf der Treppe und reichte Tausende von Kisten, Kästen und Ordnern weiter, in denen millionenfache Zeugnisse von Menschenleben lagen, die im trüben Wasser der Seine davontreiben, zerfleddern, zerfließen und auf den Grund des Flusses sinken würden, wo schlammfressende Weichtiere sie aufnehmen, verdauen und aufs Neue dem Kreislauf des Lebens zuführen würden.
Geredet wurde wenig, die Vorgesetzten trieben zur Eile. Am Abend des zweiten Tages war Büro 205 leer, in der Nacht wurden die letzten Bestände aus den Kellern gehoben. Um halb neun am nächsten Morgen, genau achtundvierzig Stunden nach Beginn der Aktion, legten die Lastkähne ab und verschwanden flussaufwärts unter dem Pont Saint-Michel, um über Flüsse und Kanäle ins freie Südfrankreich zu fliehen.
Drei Tage später, am Freitag, dem 14. Juni – am Tag also, an dem Louise ihm ein Lebenszeichen schickte –, erwachte Léon wie üblich lang vor dem Morgengrauen. Er lauschte dem Ticken des Weckers und dem gleichmäßigen Atem seiner Frau, und als das Morgenlicht auf den gebleichten Leinenvorhängen von hellblau auf orange und rosa wechselte, stahl er sich aus dem Bett, schlich mit seinem Kleiderbündel hinaus auf den Flur und machte dabei Lärm, weil ihm Kleingeld aus der Hose fiel. In der Küche zündete er das Gas an und setzte Wasser auf, dann rasierte und wusch er sich am Spülbecken. Als er vor der Tür den Aurore holen wollte, wunderte er sich, dass dieser nicht auf dem Schuhabstreifer lag. Das war noch nie vorgekommen.
Léon nahm ersatzweise die Zeitungen der letzten drei Tage von der Hutablage und kehrte zurück an den Küchentisch, schlug die erste Zeitung auf und las einen Artikel über Schafzucht auf den Äußeren Hebriden, den er am Vortag übersprungen hatte. Kurz vor sieben Uhr strich er wie gewohnt zehn Butterbrote für die ganze Familie. Als Erster tauchte mit vom Schlaf verklebten Augen sein ältester Sohn Michel auf, der nun ein Gymnasiast von sechzehn Jahren war. Während Léon zwei Tassen Kaffee einschenkte, wankte der zweitgeborene Yves zur Toilette.
Léon stellte einen Topf mit Milch zum Wärmen auf den Herd. Als wenig später Yvonne in die Küche kam mit der vierjährigen Muriel auf dem Arm und dem achtjährigen Robert an der Hand, wurde es ihm zwischen Kochherd und Spülbecken zu eng. Er küsste seine Frau auf den Mundwinkel und die Kleinen auf den Scheitel, dann verzog er sich mit seiner zweiten Tasse Kaffee zum Lesesessel am Wohnzimmerfenster, von dem aus er einen schönen Blick hinunter auf die Rue des Écoles und hinüber zur École Polytechnique hatte.
Kaum hatte er sich hingesetzt, fiel ihm im kleinen Park gegenüber ein Soldat ins Auge, der breitbeinig auf einer Bank saß, in die Morgensonne blinzelte und einen Apfel und ein großes Stück Brot aß. Die Stiefel hatte er weit von sich gestreckt, sein Helm lag neben ihm auf der Bank, das Gewehr hatte er mit dem Kolben nach unten auf den Kiesweg gestellt. An seinem Hals hing ein würfelförmiger Fotoapparat, am Gürtel eine absurd große Pistolentasche.
»Yvonne!«, rief Léon, während er sich hinter die Gardine zurückzog, damit er von außen nicht mehr gesehen werden konnte. »Komm bitte her und schau dir das an.«
»Was denn?«
»Den Soldaten dort drüben.«
»Sonderbar.«
»Bleib nicht am Fenster stehen.«
»Woher der wohl den Apfel hat?«
»Was ist mit dem Apfel?«
»Um die Jahreszeit findet man in ganz Paris keine Äpfel mehr. Die neue Ernte kommt erst Ende Juli.«
»Ich meine den Helm und die Uniform.«
»Schau, jetzt nimmt er einen zweiten Apfel hervor. Und verfüttert Brot an die Tauben. Womöglich richtiges Brot aus Weizenmehl.«
»Die Uniform, Yvonne.«
»Wir fressen Sägemehlpappe, die man kaum als Brot bezeichnen kann, und der Kerl verfüttert gutes Brot an die Tauben. Und wenn wir Fleisch wollen, müssen wir Jagd auf die Eichhörnchen im Jardin du Luxembourg machen.«
»Die Eichhörnchen sind schon ausgerottet, habe ich gehört.«
»Umso besser.«
»Vergiss die Äpfel und die Eichhörnchen, Yvonne. Schau dir die Uniform an.«
»Was ist damit?«
»Die ist grau. Unsere sind khakibraun.«
»Das – das ist doch unmöglich.«
»Ich laufe zur Bäckerei und schaue mich um.«
Die zwei nächstgelegenen Bäckereien waren geschlossen, aber nach einem Rundgang durchs Quartier Latin wusste Léon Bescheid. Tatsächlich war die Wehrmacht in jener Frühsommernacht auf Zehenspitzen nach Paris geschlichen. Kein Schuss war gefallen, kein Befehl gebrüllt worden, keine Bombe explodiert. Im Morgengrauen waren die Deutschen einfach da gewesen wie ein alljährlich wiederkehrendes jahreszeitliches Ereignis, wie die Schwalben etwa, die im Mai aus Afrika einfliegen, oder wie der Beaujolais Nouveau, mit dem die Wirte im Herbst die Touristen übers Ohr hauen, oder wie der neue Roman von Georges Simenon.
Sie hatten sich ganz selbstverständlich eingefügt ins Straßenbild der leer gefegten Stadt und standen nun mit ihren Stahlhelmen und ihren Mauser-Pistolen wie die Touristen Schlange vor dem Eiffelturm, saßen in der Métro und lasen Baedeker-Reiseführer, und um ihre Hälse hingen Agfa-Fotoapparate in braunen Lederetuis, und sie stellten sich einzeln und in Gruppen vor der Notre-Dame und der Sacré-Cœur auf, um einander in die Kameras zu grinsen.
Kampferprobte Panzersoldaten halfen älteren Damen galant beim Einsteigen in den Bus, bierselige Infanteristen aßen Steak Frites in den Straßenrestaurants, lobten den Koch und gaben den Kellnern, während sie ihre Koppel lockerten, großzügig Trinkgeld. Schneidige Luftwaffenoffiziere, denen man genausogut Tomatensaft hätte vorsetzen können, tranken die letzten Bestände Chateauneuf-du-Pape leer, und viele sprachen, weil sie Österreicher waren, erstaunlich gut Französisch. Unangenehm fiel die Besatzungsmacht nur dadurch auf, dass sie ausgerechnet auf den Champs-Élysées jeden Mittag pünktlich um halb eins eine große Truppenparade abhalten musste.
»Sie sind überall«, flüsterte Léon zu Yvonne, als er mit zwei Baguettes zurückkehrte. Er wandte den Kindern, um sie nicht zu beunruhigen, den Rücken zu. »Zwei sitzen vorn an der Place Champollion im Auto, an der Rue Valette trinkt einer Kaffee auf der Terrasse. Am Panthéon und an der Sorbonne hängen riesige Hakenkreuzfahnen. Auf dem Rückweg bin ich an einer Ecke sogar mit einem zusammengestoßen, so richtig Schulter an Schulter, und weißt du was? Der Kerl hat sich entschuldigt. Auf Französisch.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Yvonne.
Léon zuckte mit den Schultern. »Ich muss ins Labor, die Kinder gehen zur Schule.«
»Du gehst zur Arbeit?«
»Ich muss zum Dienst, Yvonne. Das haben wir doch besprochen.«
»Wir könnten fliehen.«
»Wohin, nach Cherbourg? Erstens werden die Deutschen bald überall sein, falls sie es nicht schon sind, und zweitens würde mich die Polizei sofort verhaften – die französische Polizei übrigens, nicht mal die deutsche. Und drittens würdest du, wenn ich erst mal im Gefängnis wäre, mit den Kleinen binnen eines Monats auf der Straße sitzen und hungern.«
»Wir könnten uns hier in der Wohnung verstecken.«
»Unter dem Sofa?«
»Léon …«
»Was?«
»Lass uns nochmal drüber nachdenken.«
»Worüber willst du nachdenken? Es gibt nichts nachzudenken. Nachdenken kann man nur, wenn man Informationen hat. Wir aber wissen nichts. Wir sehen nichts, wir hören nichts, wir haben keine Ahnung, was los ist. Wir wissen nicht, was gestern geschehen ist, und noch viel weniger können wir wissen, was morgen passieren wird.«
»Ein bisschen was sehen wir schon«, sagte Yvonne und deutete aus dem Fenster.
»Was, den Soldaten? Einen Wehrmachtsoldaten, der zwei Äpfel hintereinander isst und die Sonne genießt? Na gut. Was können wir daraus lernen?«
»Dass die Deutschen hier sind.«
»Jawohl. Und weiter können wir vermuten, dass der Kerl Dünnschiss bekommt, wenn er noch einen dritten Apfel isst. Aber darüber hinaus sagt uns das gar nichts. Wir wissen nicht, wie zahlreich sie sind und was sie vorhaben, ob sie bleiben oder weiterziehen, ob die Briten uns doch noch zu Hilfe kommen oder im Gegenteil die Deutschen schon in England gelandet sind, ob Paris dem Erdboden gleichgemacht oder verschont wird – wir wissen nichts. Die Ereignisse übersteigen unseren Horizont, sie sind zu hoch für uns. Es hat keinen Zweck, zu überlegen und zu diskutieren.«
»Es könnte aber hier gefährlich werden. Für uns und die Kinder.«
»Das könnte es. Aber wenn wir blind irgendwo hinlaufen, ist das mit großer Wahrscheinlichkeit das Gefährlichste, was wir überhaupt tun können. Deshalb müssen die Kleinen jetzt die Zähne putzen und das Gesicht waschen. Ich gehe schon mal los, im Labor wartet viel Arbeit.«
In diesem Augenblick fuhr unten auf der Straße ein Lautsprecherwagen vorbei, welcher der Bevölkerung namens der deutschen Besatzungsbehörde kundtat, dass sie ab sofort aus Sicherheitsgründen für achtundvierzig Stunden in ihren Wohnungen zu bleiben habe und dass von nun an in Frankreich die deutsche Uhrzeit gelte, weshalb sämtliche Uhren um eine Stunde vorzustellen seien.