13. KAPITEL
Léon empfand es nicht als unangenehm, dass es frühmorgens, wenn seine innere Uhr ihn weckte, schon eine Stunde später war als gewohnt. Da der Aurore auch am zweiten Morgen nicht vor der Tür lag, wäre ihm die Zeit am Küchentisch ohnehin lang geworden; es fühlte sich gut an, für einmal nicht wie ein Untoter durch die Nacht zu wandeln, sondern in der ungewohnten Stille, die sich über die Stadt gelegt hatte, ebenso lang im Bett zu bleiben wie seine Frau und die Kinder. Zudem waren die zwei Tage Hausarrest, die ihnen die Besatzungsmacht verordnet hatte, auch so noch lang genug. Die Familie Le Gall verbrachte sie lesend, essend und beim Kartenspiel. Der älteste Sohn Michel, der nun auf geradezu lächerliche Weise dem Burschen ähnelte, der Léon zu Zeiten seiner Segeltouren auf dem Ärmelkanal gewesen war, hantierte stundenlang am Frequenzregler des Radiogeräts und suchte nach Nachrichten, während sämtliche Sender nur noch Radiomusik spielten. Léon und Yvonne versuchten ihre Besorgnis hinter übertriebenem Frohsinn zu verbergen und weckten den Argwohn der Kinder, indem sie sie in den unpassendsten Momenten zu küssen versuchten.
Wenn Léon ans Fenster trat, ließ Michel vom Radiogerät ab und trat schweigend neben seinen Vater, verschränkte wie er die Hände hinter dem Rücken, kaute wie er auf der Unterlippe und schaute wie er hinunter aufs Kopfsteinpflaster, wo ab und an ein deutscher Armeelastwagen vorbeifuhr, manchmal eine Ambulanz, ein Leichen- oder Polizeiwagen, einmal sogar ein Jauchewagen, der seiner unaufschiebbaren Pflicht nachging.
So still war es draußen, dass man, wenn auf der Straße eine Patrouille vorüberging, durch die geschlossenen Fenster das Trampeln ihrer Soldatenstiefel hören konnte. Und weil sich nach zwei Monaten fast unablässigen Sonnenscheins an jenem Morgen der Himmel mit Schleierwolken bedeckt hatte, waren die Vögel verstummt, als würden auch sie sich den Befehlen der Deutschen fügen.
Alle zwei oder drei Stunden schlich Léon aus der Enge der Wohnung die Treppe hinunter und wagte einen Schritt aufs Trottoir, um nach links und rechts zu spähen, in die Stille zu lauschen und zu schnuppern; aber nie gab es etwas zu sehen, zu hören oder zu riechen, was ihm den geringsten Hinweis auf den Stand der Dinge in der Welt gegeben hätte.
Am dritten Morgen war der Hausarrest vorbei, Paris wachte wieder auf. In der Morgendämmerung überlegte Léon, ob es klüger sei, vorschriftsgemäß zur Arbeit zu gehen oder noch einen Tag im Schutz der Wohnung zu verbringen. Von der Straße her war dünner Motorenlärm und gelegentliches Hufgetrappel zu hören. Léon schlich, um Yvonne nicht zu wecken, auf Zehenspitzen ans Fenster und schob den Vorhang beiseite; ein Taxi fuhr vorbei, dann ein Léclanché-Lastwagen und eine Frau auf einem Fahrrad; ein behaarter Bursche mit ärmellosem Unterhemd stieß einen fahrbaren Gemüsestand übers Kopfsteinpflaster.
Vom Krieg aber war noch immer keine Spur zu sehen – am Himmel hingen keine schwarzen Rauchwolken, in der Rue des Écoles stand keinerlei Kriegsgerät, im Park gegenüber blühten die Magnolien, es gab keine Schützengräben, und nirgends war ein Soldat oder ein Zeichen von Kampf und Zerstörung zu sehen.
»Die Deutschen machen sich unsichtbar«, dachte Léon, »oder sie sind schon wieder weg. Richtig gefährlich sieht es draußen jedenfalls nicht aus.«
Er beschloss, zur Arbeit zu gehen; wahrscheinlich wäre es für ihn gefährlicher gewesen, zu Hause zu bleiben und ein Verfahren wegen Dienstpflichtverletzung nach Kriegsrecht zu riskieren. Léon rasierte sich an jenem Morgen etwas sorgfältiger als gewöhnlich, zog frische Unterwäsche und seinen neuen Tweedanzug an; falls ihm etwas zustoßen sollte, wollte er im Krankenhaus, im Gefängnis oder in der Leichenhalle eine gute Figur abgeben. Während er in der Küche seinen Kaffee trank, schrieb er einen Zettel für Yvonne, nahm Hut und Mantel von der Garderobe und zog leise die Wohnungstür hinter sich zu.
Im Erdgeschoss fiel ihm auf, dass Madame Rossetos’ Glastür einen Spalt offen stand. Er blieb stehen und lauschte. Da er nichts hörte, trat er näher und rief die Concierge beim Namen. Dann klopfte er und stieß die Tür auf. Die Loge lag im Dämmerlicht und war leergeräumt. In einer Ecke stand ein Besen, daneben ein Eimer, darüber ein zum Trocknen ausgebreiteter Bodenlappen. An der Stelle, an der das Portrait des verstorbenen Sergeanten Rossetos gehangen hatte, prangte ein helles Rechteck auf der geblümten Tapete. In der Luft lag der Geruch von gedünsteten Zwiebeln und scharfen Putzmitteln, an einem Haken hinter der Tür hing Madame Rossetos’ ewige Schürze. Auf dem erkalteten Kohleofen lag ein Schlüsselbund mit vielen Schlüsseln, daneben ein Zettel:
Allenfalls eingehende Post bitte ungelesen vernichten, ich zähle auf Ihre Diskretion. Ihr könnt mich jetzt endlich alle am Arsch lecken, Ihr aufgeblasenen Korinthenkacker und Sesselfurzer. Wollen Sie bitte, Madame, Monsieur, die Versicherung meiner uneingeschränkten Hochachtung entgegennehmen.
Josianne Rossetos,
Concierge im Wohnhaus 14, Rue des Écoles
vom 23. Oktober 1917 bis zum 16. Juni 1940
um sechs Uhr morgens.
Am Quai des Orfèvres hingen keine Hakenkreuzfahnen, in den Fluren lümmelten keine SS-Männer. Im Labor herrschte die übliche, arbeitsame Stille, und die Kollegen waren vollzählig an der Arbeit.
Zu Léons Erstaunen war der Kühlraum überfüllt mit Gewebeproben, was in seinen vierzehn Dienstjahren noch nie vorgekommen war; als er einen Kollegen darauf ansprach, zuckte dieser mit den Schultern und wies darauf hin, dass man zusätzlich in einem Kleiderschrank einen improvisierten Kühlraum habe einrichten müssen, der ebenfalls schon überfüllt sei.
Die Sache war die, dass die Pariser Amtsärzte in den zwei Tagen seit dem deutschen Einmarsch bei dreihundertvierundachtzig Todesfällen Anzeichen von Vergiftung ohne Fremdeinwirkung festgestellt hatten; all diesen Toten, von denen zu vermuten stand, dass sie aus eigenem Antrieb vom Tisch des Lebens aufgestanden waren, um dem bitteren Nachtisch von Demütigung, Erniedrigung und Qual zu entgehen, hatten die Ärzte ein hühnereigroßes Stück Fleisch aus der Leber geschnitten und dieses in einem Konservierungsglas dem Wissenschaftlichen Dienst der Police Judiciaire geschickt. Léon Le Gall und seine Kollegen sollten drei Wochen damit beschäftigt sein, diesen Pendenzenberg aus menschlichem Gewebe abzutragen und dreihundertzwölfmal Zyankali, dreiundzwanzigmal Strichnin, achtunddreißigmal Rattengift und dreimal Curare nachzuweisen; nur bei einer Probe blieb bis zuletzt rätselhaft, womit sich der Verzweifelte ums Leben gebracht hatte, und keine einzige ergab ein negatives Resultat.
Nach einem arbeitsreichen, aber ereignislosen Tag im Labor machte Léon sich auf den Heimweg. Auf den Straßen fuhren ungewöhnlich wenig Autos, als ob es ein Sonntag und kein Werktag wäre, auf den Trottoirs war der Strom der heimkehrenden Männer weniger dicht als üblich, und die Omnibusse waren halbleer; die Bouqinisten hatten ihre Kästen verschlossen, vor den Cafés waren Stühle und Tische weggeräumt und die Gitter heruntergelassen; die Buchhändler und die Flaneure, die Wirte, Kellner und Gäste – alle waren verschwunden; hingegen waren weit und breit keine Straßensperren, keine Panzer und keine Maschinengewehre zu sehen, das Leben schien seinen althergebrachten, gut französischen Lauf zu nehmen – mit dem kleinen Unterschied, dass auf den Parkbänken und in den Ausflugsbooten nun deutsche Soldaten saßen.
Das hölzerne, eisenbeschlagene Tor zum Musée Cluny war ebenfalls versperrt. Auf der Schwelle saß wie üblich Léons persönlicher Clochard, dem er am Morgen schon die gewohnte Münze in den Hut gelegt hatte. Léon hob grüßend die Hand und wollte vorbeilaufen, da rief der Clochard: »Monsieur Le Gall! Bitte sehr, Monsieur Le Gall!«
Léon wunderte sich. Es war unüblich und gegen die Spielregeln, dass der Mann seinen Namen kannte; dass er ihn ansprach und ihm auch noch hinterherrief, war geradezu ungehörig. Unwillig machte er auf dem Absatz kehrt und trat auf ihn zu. Der Clochard rappelte sich auf und riss sich die Mütze vom Kopf.
»Bitte verzeihen Sie die Belästigung, Monsieur Le Gall, es dauert nur eine Minute.«
»Worum geht es?«
»Ich bin unverschämt, aber in der Not …«
»Ich habe Ihnen doch heute Morgen schon etwas gegeben, erinnern Sie sich?«
»Das ist es ja gerade, Monsieur, deshalb bitte ich Sie um Nachsicht und erlaube mir, mich höflich bei Ihnen zu erkundigen …«
»Was wollen Sie denn, sprechen Sie geradeheraus, wir wollen keine Zeit verlieren.«
»Sie haben recht, Monsieur, die Zeit drängt. Kurzum, ich wollte Sie fragen: Werden Sie mir morgen früh auch wieder fünfzig Centimes geben?«
»Was für eine Frage!«
»Und übermorgen?«
»Sie sind mir ja einer, Sie werden ja richtig keck! Sind Sie vielleicht besoffen?«
»Und nächste Woche, Monsieur? Werde ich auch nächste Woche und in einem Monat täglich fünfzig Centimes von Ihnen bekommen?«
»Jetzt reicht’s aber, was erlauben Sie sich!« Léon fühlte sich in seiner zuverlässigen Gutmütigkeit verhöhnt und wandte sich zum Gehen.
»Monsieur Le Gall, bitte nur noch eine Sekunde! Ich bin mir meiner Unverschämtheit bewusst, aber die Not zwingt mich dazu.«
»Was ist denn los, Mann, nun sprechen Sie schon.«
»Na ja, die Nazis sind doch jetzt hier.«
»Das habe ich gesehen.«
»Dann haben Sie bestimmt auch erfahren, was die mit unsereinem in Deutschland gemacht haben.«
Léon nickte.
»Sehen Sie, Monsieur Le Gall, deswegen muss ich fort und kann nicht bleiben.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Zum Busbahnhof Jaurès, da fahren Busse nach Marseille und Bordeaux.«
»Und?«
»Falls Sie mir ein Darlehen geben wollten auf die Münzen, die Sie mir in nächster Zeit geben würden …«
»Das ist ja … wie lange werden Sie denn wegbleiben?«
»Wer weiß? Ich fürchte, der Krieg wird lange dauern. Drei Jahre, vielleicht vier.«
»Und für die ganze Zeit willst du deine täglichen fünfzig Centimes?«
Der Clochard lächelte und hob, um Nachsicht bittend, die Schultern.
»Vier Jahre zu zweihundert Arbeitstagen, das gibt achthundertmal fünfzig Centimes.«
»Ganz wie Sie sagen, Monsieur Le Gall. Natürlich würde mir auch schon eine wesentlich kleinere Summe aus der Patsche helfen.«
Léon rieb sich den Nacken, schürzte die Lippen und betrachtete ausgiebig seine Schuhspitzen. Dann sprach er wie zu sich selbst: »Wenn ich es mir so überlege, sehe ich keinen Grund, dir nichts zu geben.«
»Monsieur …«
Der Clochard hatte abwartend den Blick niedergeschlagen und knetete demütig seine Mütze. Léon nahm ebenfalls den Hut ab und schaute nach links und nach rechts, als ob er auf jemanden wartete, der ihm in dieser Sache raten konnte. Schließlich setzte er den Hut wieder auf und sagte:
»Schau zu, dass du morgen kurz vor Mittag hier bist. Dann bringe ich dir das Geld.«
»Ich danke Ihnen, Monsieur Le Gall. Und Sie selbst? Was werden Sie tun?«
»Wir werden sehen, fahr du nur schon mal nach Jaurès. Ich heiße übrigens Léon, so nennen mich meine Freunde – so nannten mich meine Freunde, als ich noch welche hatte. Und du?«
»Mein Name ist Martin.«
»Freut mich, Martin.«
Die zwei Männer schüttelten einander die Hand.
»Bis morgen dann, pass auf dich auf!«
»Du auch, Léon, bis morgen!«
Und dann – hinterher wusste keiner zu sagen, wie das hatte geschehen können – machten sie beide einen Schritt aufeinander zu und umarmten sich.
Beim Nachhausekommen staunte Léon, wie sehr sich Madame Rossetos’ Abwesenheit bereits bemerkbar machte. Vor der Haustür lagen Zigarettenstummel, Taubenfedern und Pferdekot, in der Eingangshalle stand ein stinkender Mülleimer. Fünf Gasflaschen versperrten den Weg ins Treppenhaus. Die Post des Tages lag, weil niemand mehr sie vor die Wohnungstüren verteilte und die meisten Mieter in den Süden geflohen waren, auf dem großen Heizkörper neben dem Hinterausgang, der in den Hof führte.
Im Hafen von Lorient,
an Bord des Hilfskreuzers
»Victor Schoelcher«
14. Juni 1940
Mein geliebter Léon!
Ich bin’s, Deine Louise, die Dir schreibt. Wunderst Du Dich? Ich wundere mich. Ich habe mich sehr über mich gewundert, wie dringend ich Dir schreiben wollte, kaum dass ich sicher wusste, dass ich Paris verlassen und für lange Zeit sehr weit wegbleiben würde. Seit einer Woche verbringe ich jede freie Minute damit, wirres Zeug für Dich aufzuschreiben; das hier ist die hoffentlich einigermaßen geordnete Reinschrift, die morgen oder übermorgen zur Post soll.
Es ist nicht so, dass ich die vergangenen zwölf Jahre unablässig an Dich gedacht hätte, weißt Du? Man kann schließlich nicht länger als ein paar Monate in diesem Zustand bleiben, irgendwann stößt man an seine Leistungsgrenze. Dann kommt ganz unerwartet jener Augenblick – beispielsweise bei der Mittagspause während des Verdauungsprozesses –, da man tief durchatmet und es dann mal gut sein lässt, und von da an lebt man so vor sich hin und hat so seine Freuden, geht samstags ins Kino und fährt sonntags übers Land und bestellt in diesem oder jenem Landgasthof eine Andouillette.
Wie ich seither lebe? Eine Weile hatte ich einen Kater namens Stalin, der aber auf dem vereisten Fenstersims ausglitt und vier Stockwerke tiefer von einer schmiedeeisernen Zaunspitze aufgespießt wurde; im Musée de l’Homme gibt es einen sehr jungen Mann mit dem Gesichtsausdruck eines magenkranken Affen, der wie ein Sturzbach redet, mich für eine Dame hält und mir an kalten Wintertagen mit heißem Tee nachstellt. Gelegentlich schreibt er mir höfliche, niemals zu lange Liebesbriefe, und wenn mich Zweifel beschleichen am Sinn des Lebens, an meiner femininen Anziehungskraft oder an der gesamten Menschheit, geht er mit mir spazieren und füttert mich mit Schokolade.
Ich lebe ganz gut, Du fehlst mir nicht, verstehst Du? Du bist nur eine der vielen Leerstellen, die ich durch mein Leben trage; schließlich bin ich auch nicht Autorennfahrerin oder Balletttänzerin geworden, kann nicht so gut zeichnen und singen, wie ich mir das gewünscht hatte, und werde niemals Tschechow auf Russisch lesen. Ich finde es längst nicht mehr allzu schlimm, dass sich im richtigen Leben nicht jeder Traum verwirklicht; das könnte ja sonst rasch ein bisschen viel werden.
Man gewöhnt sich an seine Leerstellen und lebt mit ihnen, sie gehören zu einem, und man möchte sie nicht missen; wenn ich mich jemandem beschreiben müsste, so würde mir als Erstes einfallen, dass ich die russische Sprache nicht beherrsche und keine Pirouetten drehen kann. So werden die Leerstellen allmählich zu Wesensmerkmalen und füllen sich gleichsam mit sich selber auf. Auch Du, die Sehnsucht nach Dir – oder auch nur das Wissen um Dich – füllt mich noch immer aus.
Wieso? Keine Ahnung. Man gewöhnt sich daran, es ist einfach so.
Umso mehr habe ich mich gewundert, als ich im Taxi unterwegs zum Bahnhof Montparnasse plötzlich den dringenden Wunsch verspürte, Dir zu schreiben, und aufgeregt war wie ein Backfisch vor dem ersten Rendezvous. Und noch viel mehr habe ich mich gewundert, als ich auf dem Rücksitz leise Deinen Namen aussprach, während ich mich aufmachte, weit weg von Dir zu fahren. Eine dumme Gans habe ich mich gescholten und doch Briefpapier und Füllfederhalter hervorgenommen, und später auf der endlosen Zugfahrt in einem überfüllten und überhitzten Abteil hierher an den Hafen von Lorient habe ich aufzuschreiben versucht, was mir für Dich so eingefallen ist.
Jetzt sitze ich auf der Bettkante meiner Kabine in brütender Hitze hinter sorgfältig verriegelter Tür mit dem Schreibblock auf den Knien und weiß noch immer nicht, was ich Dir sagen will. Oder doch: alles und nichts, nicht mehr und nicht weniger. Eines aber weiß ich: Abschicken werde ich diesen Brief erst im letzten Augenblick, wenn der Postbote von Bord geht und die Maschine unter Dampf steht, die Leinen losgemacht werden und ich sicher sein kann, dass wir in See stechen und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass man mich noch an Land und zurück nach Paris schafft.
Wahrscheinlich stehst Du, wenn Du diese Zeilen liest, auf der Matte vor Deiner Wohnungstür und kratzt Dich an Deinem flachen Hinterkopf. Ich stelle mir vor, dass die Concierge Dir den Brief mit verschwörerischem Stirnrunzeln in die Hand gedrückt hat und dass Du auf der Treppe ungläubig den Absender liest und mit dem rechten Zeigefinger den Umschlag aufreißt. Gleich wird Yvonne im Türspalt auftauchen und fragen, ob Du nicht hineinkommen willst. Bestimmt beunruhigt es sie, wie Du so dastehst mit einem Umschlag in der Hand, vielleicht fürchtet sie eine Todesnachricht oder einen Marschbefehl oder dass man Dir die Wohnung oder die Stelle gekündigt hat. Also streckst Du ihr den Brief entgegen, und zwar wortlos, wie ich vermute, dann folgst Du ihr in den Flur und machst hinter Euch die Wohnungstür zu.
(Hallo, Yvonne, ich bin’s, die kleine Louise aus Saint-Luc-sur-Marne, kein Grund zur Sorge. Ich schreibe von weit weg und absichtlich an die Rue des Écoles, um jede Geheimniskrämerei auszuschließen.)
Weißt Du, Léon, ich bewundere Deine Frau für ihre diplomatische Klugheit, aber auch für den Mut, mit dem sie Dein diszipliniertes Wohlverhalten hinnimmt. Ich an ihrer Stelle hätte Dich, gewiss sehr zu meinem eigenen Schaden, längst zum Teufel gejagt; Deine Artigkeit hätte ich nicht lange ertragen.
Denn wohlverhalten hast Du Dich in den vergangenen zwölf Jahren tatsächlich, das muss man Dir lassen. Du hast mir nie aufgelauert und mir nie nachzustellen versucht, hast nie mit der Banque de France telefoniert und mir keine kleinen Briefchen ins Büro geschickt; dabei hast Du doch genauso gelitten wie ich, das weiß ich bestimmt.
Natürlich wäre es kindisch gewesen, im Veborgenen all die kleinen Rituale der Verliebten durchzuspielen, es hätte nichts geholfen und wäre schmerzhaft für uns alle gewesen, und ich hätte es Dir übel genommen, wenn Du nicht hättest an Dich halten können; andrerseits habe ich mich manches Mal gefragt, ob ich Dir nicht auch ein wenig böse sein sollte, dass Du Dich so glatt und schlank und ohne Verfehlung an die von mir befohlene Funkstille gehalten hast.
Ich bin übrigens nicht so brav gewesen wie Du. Vom kleinen Park bei der École Polytechnique aus hat man einen schönen Blick in Dein Wohnzimmer, weißt Du das? Vierzehnmal in den letzten zwölf Jahren habe ich es mir gestattet, nachts dort zu stehen und in Deine erleuchteten Fenster zu schauen wie ins Innere einer Puppenstube; das erste Mal gleich am Abend nach unserem gemeinsamen Ausflug, das zweite Mal am Sonntag darauf und dann in unregelmäßigen Abständen etwa einmal pro Jahr. Es war immer im Winter, weil ich den Schutz der Dunkelheit brauchte, ich weiß die Daten auswendig; die letzten acht Male hatte ich ein Fernglas dabei.
Ein wenig albern fühlte es sich schon an, so hinter einem Baumstamm versteckt, Detektiv zu spielen, aber dank der Gläser habe ich alles sehen können: die Soldatenspiele Deiner drei Buben in der Stube, die Zahnlücken Deiner kleinen Muriel, einmal sogar die schönen Brüste Deiner Frau; dann auch die neue Bücherwand und dass Du jetzt eine Brille trägst, wenn Du an Deinem komischen Zeug bastelst. Du und Dein komisches Zeug, Léon! Ich glaube, ich habe mich damals auch ein wenig deswegen in Dich verliebt. Eine rostige Mistgabel, ein morsches Fensterkreuz und ein halbvoller Kanister Petroleum … das muss Dir erst mal einer nachmachen.
Übrigens habe ich immer nur für eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten hinter meinem Baum gestanden, mehr war nicht möglich; irgendwie schien sich jedes Mal die Nachricht, dass eine Frau allein in einem dunklen Park steht, in Windeseile bei allen Einsamen und Wüstlingen des Quartier Latin herumzusprechen. Einmal musste ich einem Gendarmen erklären, was ich zu nachtschlafender Stunde mit einem Fernglas im Park verloren hätte; ich habe mich auf die Ornithologie herausgeredet und irgendeinen Quatsch darüber erzählt, dass die Spatzen im Winter nachts in den Bäumen dicht beisammen schlafen, um einander warm zu halten, und dass immer abwechslungsweise einer Wache hält.
Jedenfalls war es schön, Dich im Kreis der Familie zu sehen. Es war jedes Mal ein Ausflug in eine andere Dimension, ein Blick in ein paralleles Universum oder in das Leben, das ich vielleicht geführt hätte, wenn damals nicht jener Bombentrichter auf der Straße gewesen wäre oder der Bürgermeister von Saint-Luc sich nicht in meinen unvergleichlich eleganten Schwanenhals vergafft hätte; Deine Familie ist für mich die fleischgewordene Möglichkeitsform, ein dreidimensionaler Konjunktiv Irrealis, ein säkulares Krippenspiel, eine lebendige, lebensgroße Puppenstube – die den einzigen Nachteil hat, dass ich nicht mit ihr spielen darf.
Versteh mich nicht falsch, ich bin mit meinem Leben zufrieden und suche kein anderes; auch wüsste ich nicht zu sagen, wofür ich mich entscheiden würde, wenn ich die Wahl zwischen Indikativ und Konjunktiv hätte. Und sowieso erübrigt sich die Frage, weil diese Wahl niemand hat.
Du hast eine schöne Familie und bist ein schöner Mann, Léon, das Altern steht Dir gut. Deine Ernsthaftigkeit hätte man früher, als Du noch jünger warst, vielleicht ein bisschen fad finden können, aber jetzt schmückt sie Dich ausgezeichnet. Hast Du ein wenig mit dem Trinken angefangen? Es scheint mir, als hättest Du meist ein Glas Ricard in der Hand. Oder ist’s Pernod? Dazu, dass Du seit letztem Winter Pfeife rauchst, will ich nichts sagen. Ein bisschen gar alt macht Dich das schon. Wenn Du mein Mann wärst, würde ich es Dir verbieten, zumindest in der Wohnung. Ich rauche übrigens immer noch Turmac; mal sehen, ob es die da, wo ich hinfahre, auch zu kaufen gibt. Wenn nicht, wirst Du mir welche schicken müssen.
Es ist sonderbar: Erst jetzt, da uns so vieles trennen wird – ein Ozean, ein Krieg, vielleicht ein Erdteil oder zwei, nicht zu vergessen die Jahre, die schon vergangen sind und noch vergehen werden –, kann ich Dir wieder nahe sein. Erst jetzt, da ein paar tausend Kilometer Distanz uns vor Heimlichkeiten, Lügen und Niedertracht bewahren und wir einander mit großer Sicherheit lange Zeit nicht sehen werden, erst jetzt fühle ich mich Dir wieder ganz nah. Nur weit weg von Dir bin ich ganz bei mir, nur fern von Dir kann ich es wagen, mich Dir zu öffnen, ohne mich zu verlieren, verstehst Du? Selbstverständlich verstehst Du das, Du bist ein kluger Junge, auch wenn Deinem Männerherzen solche weiblichen Dilemmata und Paradoxa fremd sind.
Ich weiß, Du siehst das alles geradliniger. Du tust, was Du tun musst, und was Du bleiben lassen sollst, lässt Du eben bleiben. Und wenn Du ausnahmsweise etwas tust, was Du nicht tun solltest, so bist Du trotzdem mit Dir im Reinen, weil man als Mann gelegentlich im Leben halt etwas tun muss, was man nicht tun sollte. Dann stehst Du dafür gerade, übernimmst die Verantwortung und siehst zu, dass das Leben weitergeht.
Übrigens ist es nicht wahr, dass Du mich nie gesehen hast in all den Jahren; ich glaube bestimmt, dass Du mich damals erkannt hast auf der Place Saint-Michel, als Du mich um den Kiosk im Kreis herum verfolgt hast. Ich bin einfach rascher gelaufen als Du – ich war schon immer die Schnellere von uns beiden, nicht wahr? –, bis ich dann Dich verfolgt habe und nicht mehr Du mich. Als Du stehen bliebst und die Place Saint-Michel absuchtest, stand ich direkt hinter Dir; ich hätte Dir die Augen zuhalten und Kuckuck rufen können. Und als Du Dich umgedreht hast, habe ich mich hinter Deinem Rücken mit Dir gedreht. Es war wie in einem Chaplin-Film, die Leute haben gelacht. Nur Du hast nichts gemerkt.
Jetzt fahre ich also nach Übersee. Ich habe keinen blassen Schimmer, wohin die Reise geht, weiß nicht, ob’s gefährlich wird und wann und ob ich überhaupt zurückkehren werde, und man hat mir auch noch nicht erklärt, was man von mir erwartet; na ja, die Tippmamsell werde ich irgendwo geben müssen, was sonst.
Letzten Samstag noch bin ich wie gewohnt zur Arbeit gefahren mit meinem Torpedo, der ein bisschen in die Jahre gekommen ist; die Radlager und das Getriebe sind hinüber, die Zylinderkopfdichtung ist wieder mal fällig und die Hinterachse hat sich verschoben. Gleich am Hauptportal hat mich Monsieur Touvier abgefangen, unser Generaldirektor. Er ist der Gott unter den Halbgöttern aus der Belle Étage der Banque de France, niederes Getier wie eine Tippmamsell aus dem Erdgeschoss nimmt er gewöhnlich gar nicht wahr. Diesmal aber hat er mich nicht nur am Arm gefasst, sondern auch sein Titanenhaupt zu mir hinuntergeneigt und mir mit seiner leisen, befehlsgewohnten Stimme ins Ohr gemurmelt:
»Sie sind Mademoiselle Janvier, nicht wahr? Sie fahren sofort nach Hause und machen sich reisefertig. Nehmen Sie ein Taxi, Ihr Auto lassen Sie stehen.«
»Jawohl, Monsieur. Jetzt gleich?«
»Auf der Stelle. Sie haben eine Stunde Zeit. Leichtes Gepäck für eine lange Reise.«
»Wie lange?«
»Eine sehr lange Reise. Ihre Wohnung ist bereits gekündigt, um Ihre Möbel kümmern wir uns.«
»Und mein Auto?«
»Wir werden Sie entschädigen, machen Sie sich darum keine Gedanken. Jetzt rasch, Sie werden in einer Stunde an der Gare Montparnasse erwartet.«
Das war kein Befehl, sondern einfach eine Feststellung. So bin ich nach Hause zurückgekehrt, habe ein paar Kleider und einige Bücher eingepackt und mich von meinen weltlichen Gütern getrennt. Gerade viel habe ich ja nicht zurückgelassen, ein ordentliches Nussbaumbett mit Rosshaarmatratze und Daunendecke, dazu eine Kommode, einen Ledersessel und ein paar Küchengeräte; hingegen kein gebrochenes Herz, falls Dich das interessiert, und keine treu wartende Seele.
Wohl habe ich über die Jahre ein paar Romanzen und Affären gehabt, man will sich im Leben schließlich nicht langweilen; leider sind sie immer recht rasch schal und fad geworden. Und mit der Zeit ist mir dann klar geworden, dass ich mich mit mir allein doch weniger langweile als in Gesellschaft eines Herrn, der mir nicht rundum gefällt.
So bin ich also noch immer ungebunden, wie man so sagt; zweifellos auch deshalb, weil ich durch ein Wunder der Natur nie schwanger geworden bin. Im Übrigen ist es schon erstaunlich, wie leicht man zehn oder zwanzig Jahre in Paris unter vier Millionen Menschen leben kann, ohne jemanden kennenzulernen außer dem Gemüsehändler an der Ecke und dem Schuhmacher, der dir zweimal jährlich neue Absätze an die Schuhe nagelt.
Und irgendwie, ich weiß nicht, weshalb, mein lieber Léon, hast immer nur Du mir gefallen. Verstehst Du das? Ich nicht. Und was meinst Du: Ob es mit uns beiden geklappt hätte, wenn wir mehr Zeit miteinander gehabt hätten? Mein Kopf sagt Nein, das Herz sagt Ja. Du empfindest genauso, nicht wahr? Ich weiß es.
Auf dem Weg zum Bahnhof waren alle Straßen verstopft von Flüchtlingen. So viele Menschen in heller Panik! Ich weiß gar nicht, wo die alle hinwollen. So viele Schiffe kann es gar nicht geben, dass die alle einen Platz finden, und so ferne Ufer, dass der Krieg sie nicht einholt. Der Bahnhof und sämtliche Züge waren überfüllt, und unterwegs nach Lorient ist unser Zug nur deshalb einigermaßen vorangekommen, weil er als Sondertransport der Banque de France auf dem gesamten Schienennetz erste Priorität hatte.
Während ich in meiner Kabine sitze und schreibe, entladen Soldaten unseren Güterzug. Du wirst es nicht glauben, in meinem Gepäck findet sich ein Großteil der Goldreserven der Französischen Nationalbank, darüber hinaus dreißig Tonnen der polnischen und zweihundert Tonnen der belgischen Nationalbank, die wir vor ein paar Monaten zur Aufbewahrung erhalten haben. Zwei- bis dreitausend Tonnen Gold insgesamt, würde ich schätzen; wir sollen alles vor den Deutschen in Sicherheit bringen.
Unser Schiff, die Victor Schoelcher, ist ein Bananendampfer, den die Kriegsmarine requiriert und zum Hilfskreuzer umfunktioniert hat. Für ein Kriegsschiff sieht er noch immer ziemlich karibisch aus mit viel grüner, gelber und roter Ölfarbe überall; das einzig Marinegraue ist eine alberne kleine Kanone vorne auf der Back. Meine Kabine befindet sich, weil ich die einzige Dame an Bord bin, vorn bei der Brücke gleich hinter jener des Kapitäns.
Es ist stickig heiß hier drin, als wären wir schon im Kongo oder in Gouadeloupe. An den lindgrün lackierten Stahlwänden kondensiert die Luftfeuchtigkeit, und auf dem roten Stahlboden sammeln sich die Rinnsale zu lila oszillierenden Pfützen. Aus dem Abfluss des Waschbeckens kriechen im Zehnsekundentakt außereuropäisch fette Kakerlaken, die ich mit meinem rechten Schuh totzuschlagen versuche, und die Beschreibung der Toilette, die ich mit dem Kapitän teile, erspare ich Dir. Wie ich höre, gibt es im Unterdeck eine zweite Toilette für die fünfundachtzig Mann Besatzung; gebe Gott, dass ich nie in die Lage gerate, mich dieser auch nur nähern zu müssen.
Diese Nacht noch, spätestens morgen früh sollen wir auslaufen, alle sind in größter Eile. Die deutschen Panzer sind angeblich schon in Rennes, vor ein paar Stunden sind Messerschmitts und Stukas über unsere Köpfe geflogen und haben Minen in die Hafenausfahrt abgeworfen, um uns am Auslaufen zu hindern. Der Kapitän will die Flut um vier Uhr dreißig abwarten und im Morgengrauen am äußersten Rand der Fahrrinne zwischen den Minen und den Schlammbänken hinaus aufs offene Meer gelangen.
Natürlich ist das alles hochgradig geheim, ich dürfte Dir nichts davon verraten; aber sag selbst, wen auf Gottes weitem Erdenrund kann es kümmern, was in einem Brief steht, den eine Tippmamsell einem kleinen Pariser Polizeibeamten schreibt? Was immer ich dir sage, ist mit großer Wahrscheinlichkeit heute schon falsch und deshalb unwichtig, und morgen wird es garantiert vorbei und vergessen und ohne jeden Belang sein. Kommt hinzu, dass von dem, was ich sehe, sowieso nichts geheim bleiben kann. Oder hältst Du es für möglich, die Existenz von zwölf Millionen Flüchtlingen zu verheimlichen? Können zweitausend Tonnen Gold unbeachtet bleiben? Können Messerschmitts und Stukas, die mit ohrenzerfetzendem Geheul vom Himmel stürzen, ein Geheimnis sein? Was soll die Geheimniskrämerei, wenn jeder alles sieht und keiner etwas versteht? Die Glocke ruft zum Essen, ich muss rennen!
Unterdessen ist die Nacht hereingebrochen. Ich habe in der Offiziersmesse mit dem Kapitän, den Offizieren und meinen drei Vorgesetzten von der Bank einen Happen gegessen. Es gab Meerbarsch und Bratkartoffeln, die Unterhaltung drehte sich um die Truppenstärke der Wehrmacht, die sich anscheinend in großer Eile auf uns zubewegt und spätestens morgen Nachmittag hier erwartet wird; zudem habe ich erfahren, dass der Namenspatron der Victor Schoelcher jener Mann ist, der 1848 die Sklaverei in Frankreich und in den französischen Kolonien abgeschafft hat. Ist das nicht hübsch? Beim Kaffee haben mir die Herren dann freundlicherweise ein wenig den Hof gemacht, wenn auch für meinen Geschmack etwas zu routiniert und gelangweilt und ohne rechten Elan.
Danach bin ich in die Stadt gegangen, um Notvorrat für die große Fahrt zu besorgen; man weiß ja nie, was einem bevorsteht. Ich musste eine ganze Weile laufen durch dunkle Straßen mit blau gestrichenen Straßenlampen und schwarz verhängten Fenstern, bis ich einen Lebensmittelladen fand. Ich fragte den Händler ohne große Hoffnung nach Kondensmilch. Er wies auf ein gut gefülltes Regal und fragte, wie viele Dosen ich haben wollte. Zwölf Stück, sagte ich aus einer Laune heraus, und weißt Du was? Der Mann gab sie mir, ohne mit der Wimper zu zucken. Da nahm ich auch noch Schokolade, Brot und eine Wurst, und der Mann hat nicht mal nach Marken gefragt. Da kannst Du’s sehen, nichts gilt mehr, alles ist wahr, und keiner weiß, was morgen sein wird. Wozu also Geheimnisse?
Jetzt sitze ich draußen auf der Gangway, wo eine kühle Abendbrise weht, und schaue auf den Pier hinunter, auf dem ein unübersichtliches Gewusel von Soldaten damit beschäftigt ist, schwere Holzkisten aufeinanderzustapeln. Jeweils vier Mann holen an den offenen Schiebetüren der Güterwagen eine Kiste und schleppen sie hinüber zum Lagerplatz. Ich bin gespannt, wie viele Kisten es sein werden. Gleich wird man mich rufen, dann muss ich hinunter zur Ladebrücke und meinen Nachtdienst antreten. Tippmamsell zählt Goldkisten. Die ganze Nacht werde ich an einem kleinen Tisch sitzen und für jede Kiste, die im Laderaum der Victor Schoelcher verschwindet, mit scharf gespitztem Bleistift einen Strich auf einem Formular machen, das ich persönlich zu diesem Zweck entworfen und angefertigt habe.
Hinter dem Güterbahnhof auf der Umfassungsmauer sitzen Buben mit Schiebermützen und kurzen Hosen und schauen zu. Ihre Gesichter sind leer, sie rühren sich nicht – schwer zu sagen, ob sie ahnen, welche Reichtümer vor ihren Nasen liegen.
Offiziell enthalten die Kisten Artilleriemunition, aber das glaubt hier keiner. In diesem Augenblick stehen hinter mir zwei Zigaretten rauchende Schiffsjungen, die voreinander prahlen, dass dies der größte Goldschatz sei, der je auf den Atlantischen Ozean hinausgefahren wurde. Vielleicht haben sie sogar recht; ich kann mir nicht vorstellen, dass die alten Spanier jemals zweitausend Tonnen Gold auf einem Haufen liegen hatten. Und falls doch, hätten sie mit ihren Holzschiffchen ein paar Dutzend Mal hin- und herfahren müssen, um das alles über den Ozean zu transportieren.
Das Radio in der Offiziersmesse dudelt Radiomusik, Nachrichten gibt es keine mehr. Einzig der Funker kann BBC hören. Er heißt Galiani und rollt das R, dass man Lust auf Bouillabaisse bekommt, und er hat dichtes schwarzes Körperhaar, das ihm überall aus der Uniform quillt. In seiner Freizeit genießt er es, übers Deck zu stolzieren als bestinformierter Mann an Bord. Er schlendert hinter meinem Rücken vorbei und sagt: »Schon gehörrrt, Mademoiselle? Norrrrwegen hat kapituliert.« Dann verzieht er das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, schiebt seine Gauloise in den rechten Mundwinkel und spuckt durch den freien Mundwinkel aus. Auf diese Weise hat er mich in den letzten Tagen zuverlässig über den Lauf der Weltgeschichte auf dem Laufenden gehalten. »Schon gehörrt? Hitlerrr bombarrdierrt London.« Und ausspucken. »Schon gehörrt? Die Wehrrrmacht ist in Parris einmarrschierrt.« Und ausspucken. »Schon gehörrt? Rrroosevelt will neutrral bleiben.« Und ausspucken. Und jedes Mal macht er seine angewiderte Grimasse und erwartet von mir Bewunderung, die ich ihm in überreichem Maß zuteil werden lasse. Und weil er zwar ein Aufschneider, aber auch ein feinfühliger Südländer ist, durchschaut er mich jedes Mal und geht beleidigt seines Wegs.
Man ruft mich zum Dienst, ich muss aufhören! Das ist vielleicht meine letzte freie Minute vor dem Abschied. Morgen früh übergebe ich diesen Brief dem Boten, und dann geht’s los. Sonderbar, mir ist gegen alle Vernunft ganz weit und klar ums Herz. Gerade weil ich keine Ahnung habe, wohin dieses Schiff mich tragen wird, habe ich die trügerische Empfindung, dass mir die Welt offenstehe, was natürlich ein Irrtum ist; in Wahrheit ist mir die ganze Welt verschlossen mit Ausnahme jenes einen Schreibtischs da oder dort auf diesem oder jenem Kontinent, an den mich zu schicken die Banque de France beschlossen hat. Was auch immer kommen mag: Schlimmer als sterben kann’s nicht werden.
Ich liebe Dich und bin in großer Sorge um Dich, mein Léon, das habe ich noch gar nicht gesagt; hoffentlich, hoffentlich tun Dir die Nazis nichts an. Pass auf Dich und die Deinen auf und halt Dich von allen Gefahren fern, sei vorsichtig und so glücklich als möglich, spiel nicht den Helden und bleib gesund und vergiss mich nicht!
Für immer
Deine Louise
P.S.: Sechs Stunden später: Es ist 4.20 Uhr morgens, nach einer langen Nacht der Bleistiftstriche sind sämtliche Kisten an Bord. Tausendzweihundertacht Stück, Netto-, Brutto- und Taragewicht wegen schierer Größe in der Eile nicht messbar und deshalb unbekannt. Die Maschine steht seit zwei Stunden unter Dampf, der Postbote lehnt an der Gangway und trommelt mit den Fingern aufs Geländer. Im Osten wird es schon hell, oder täusche ich mich? Ich muss meinen Brief endgültig beschließen, jetzt gleich, sofort, sonst gelangt er nicht zu Dir. Hinein in den Umschlag, ablecken und zukleben. Adieu, Geliebter, adieu!