ERSTES KAPITEL
Wir saßen in der Kathedrale von Notre-Dame und warteten auf den Pfarrer. Buntes Sonnenlicht fiel durch die Fensterrose auf den offenen Sarg, der blumengeschmückt vor dem Hauptaltar auf einem roten Teppich stand. Im Chorumgang kniete ein Kapuzinermönch vor der Pietà, im linken Seitenschiff stand ein Maurer auf einem Gerüst und machte mit seiner Kelle schabende Geräusche, die im achthundertjährigen Gemäuer widerhallten. Ansonsten herrschte Ruhe. Es war neun Uhr morgens, die Touristen waren noch in ihren Hotels beim Frühstück.
Unsere Trauergemeinde war klein, der Verstorbene hatte lange gelebt; die meisten, die ihn gekannt hatten, waren vor ihm gestorben. Auf der vordersten Bank saßen in der Mitte seine vier Söhne, die Tochter und die Schwiegertöchter, daneben die zwölf Enkel, von denen sechs noch ledig, vier verheiratet und zwei geschieden waren; ganz außen die vier der insgesamt dreiundzwanzig Urenkel, die an jenem 16. April 1986 schon geboren waren. Hinter uns erstreckten sich im Dämmerlicht zum Ausgang hin achtundfünfzig leere Bankreihen – ein Meer von leeren Bänken, in dem wohl Platz genug gewesen wäre für alle unsere Ahnen bis zurück ins zwölfte Jahrhundert.
Wir waren ein lächerlich kleines Häuflein, die Kirche war viel zu groß; dass wir hier saßen, war ein letzter Scherz meines Großvaters, der Polizeichemiker am Quai des Orfèvres und ein großer Pfaffenverächter gewesen war. Falls er jemals sterben sollte, hatte er in den letzten Jahren oft verkündet, wünsche er sich eine Totenmesse in Notre-Dame. Wenn man dann zu bedenken gab, dass ihm als Ungläubigem die Wahl des Gotteshauses doch gleichgültig sein müsste und für unsere kleine Familie die Quartierkirche gleich um die Ecke angemessener wäre, entgegnete er: »Die Eglise Saint-Nicolas du Chardonnet? Aber nein, Kinder, besorgt mir Notre-Dame. Das ist ein paar hundert Meter weiter und wird etwas kosten, aber ihr schafft das. Übrigens hätte ich gern eine lateinische Messe, keine französische. Nach alter Liturgie, bitte, mit viel Weihrauch, langen Rezitativen und gregorianischem Choral.« Und dann schmunzelte er unter seinem Schnurrbart bei der Vorstellung, dass seine Nachkommen sich auf den harten Bänken zweieinhalb Stunden lang die Knie wundscheuern würden. So gut gefiel ihm sein Scherz, dass er ihn ins Repertoire seiner festen Redewendungen aufnahm. »Falls ich bis dahin nicht einen Abstecher nach Notre-Dame mache«, sagte er etwa, wenn er sich beim Friseur anmeldete, oder: »Frohe Ostern und auf Wiedersehen in Notre-Dame!« Mit der Zeit wurde der Scherz zur Prophezeiung, und als meines Großvaters Stunde tatsächlich geschlagen hatte, war uns allen klar gewesen, was zu tun war.
So lag er nun also mit wächserner Nase und verwundert hochgezogenen Brauen exakt an der Stelle, an der Napoleon Bonaparte sich zum Kaiser der Franzosen gekrönt hatte, und wir saßen auf jenen Bänken, auf denen hundertzweiundachtzig Jahre vor uns dessen Brüder, Schwestern und Generäle gesessen hatten. Die Zeit verging, der Pfarrer ließ auf sich warten. Die Sonnenstrahlen fielen schon nicht mehr auf den Sarg, sondern rechts daneben auf die schwarzweißen Steinplatten. Aus der Dunkelheit tauchte der Kirchendiener auf, steckte ein paar Kerzen an und kehrte in die Dunkelheit zurück. Die Kinder rutschten auf den Bänken umher, die Männer rieben sich den Nacken, die Frauen hielten den Rücken gerade. Mein Cousin Nicolas nahm seine Marionetten aus der Manteltasche und machte eine Vorstellung für die Kinder, die im Wesentlichen darin bestand, dass der stoppelbärtige Räuber mit seinem Knüppel auf Guignols Zipfelmütze eindrosch.
Da ging weit hinter uns neben dem Eingangsportal mit leisem Kreischen eine kleine Seitentür auf. Wir drehten uns um. Durch den breiter werdenden Spalt strömte das warme Licht des Frühlingsmorgens und der Lärm der Rue de la Cité ins Halbdunkel. Eine kleine graue Gestalt mit einem leuchtend roten Foulard schlüpfte ins Kirchenschiff.
»Wer ist das?«
»Gehört die Frau zu uns?«
»Still, man kann euch hören.«
»Gehört die zur Familie?«
»Oder ist das vielleicht …?«
»Glaubst du?«
»Ach woher.«
»Bist du ihr nicht einmal im Treppenhaus …«
»Ja, aber da war’s ziemlich dunkel.«
»Hört auf zu gaffen.«
»Wo nur der Pfarrer bleibt?«
»Kennt die jemand?«
»Ist es …«
»… vielleicht …«
»Meinst du?«
»Würdet ihr jetzt bitte alle still sein?«
Es war mir auf den ersten Blick klar, dass die Frau nicht zur Familie gehörte. Diese kleinen, energischen Schritte und die harten Absätze, die auf den Steinplatten klangen wie Händeklatschen; dieses schwarze Hütchen mit dem schwarzen Schleier, darunter das stolz gereckte spitze Kinn; diese flinke Bekreuzigung am Weihwasserstein und der elegante kleine Knicks – das konnte keine Le Gall sein. Zumindest keine gebürtige.
Schwarze Hütchen und flinke Bekreuzigungen liegen uns nicht. Wir Le Galls sind großgewachsene, schwerblütige Leute normannischer Herkunft, die sich mit langen, bedächtigen Schritten fortbewegen, und vor allem sind wir eine Familie von Männern. Natürlich gibt es auch Frauen – die Frauen, die wir geheiratet haben –, aber wenn ein Kind zur Welt kommt, ist es meistens ein Junge. Ich selbst habe vier Söhne, aber keine Tochter; mein Vater hat drei Söhne und eine Tochter, und dessen Vater – der verstorbene Léon Le Gall, der an jenem Morgen im Sarg lag – hatte ebenfalls vier Jungen und ein Mädchen gezeugt. Wir haben starke Hände, breite Stirnen und breite Schultern, tragen keinerlei Schmuck außer Armbanduhr und Ehering und haben einen Hang zu einfacher Kleidung ohne Rüschen und Kokarden; mit geschlossenen Augen wüssten wir kaum zu sagen, welche Farbe das Hemd hat, das wir gerade auf dem Leib tragen. Wir haben niemals Kopf- oder Bauchschmerzen, und wenn doch, verschweigen wir das schamhaft, weil nach unserer Konzeption von Männlichkeit weder unsere Köpfe noch unsere Bäuche – schon gar nicht die Bäuche! – schmerzempfindliche Weichteile enthalten.
Vor allem aber haben wir auffällig flache Hinterköpfe, über die sich unsere angeheirateten Frauen gern lustig machen. Wird in der Familie eine Geburt vermeldet, fragen wir als Erstes nicht nach Gewicht, Körperlänge oder Haarfarbe, sondern nach dem Hinterkopf. »Wie ist er – flach? Ist es ein echter Le Gall?« Und wenn wir einen von uns zu Grabe tragen, trösten wir uns mit dem Gedanken, dass der Schädel eines Le Gall beim Transport niemals im Sarg umherkullert, sondern immer schön flach auf dem Sargboden aufliegt.
Ich teile den morbiden Humor und die fröhliche Melancholie meiner Brüder, Väter und Großväter, und ich bin gern ein Le Gall. Obwohl manche von uns eine Schwäche für Alkohol und Tabak haben, erfreuen wir uns einer guten Aussicht auf Langlebigkeit, und wie viele Familien glauben wir fest daran, dass wir zwar nichts Besonderes, aber doch immerhin einzigartig seien.
Diese Illusion ist durch nichts zu begründen und entbehrt jeder Grundlage, denn noch nie hat, soweit ich es überblicke, ein Le Gall etwas vollbracht, woran die Menschheit sich erinnern müsste. Das liegt erstens am Fehlen ausgeprägter Begabungen und zweitens an mangelndem Fleiß; drittens entwickeln die meisten von uns während der Adoleszenz eine hochmütige Verachtung gegenüber den Initiationsritualen einer ordentlichen Ausbildung, und viertens vererbt sich vom Vater auf den Sohn fast immer eine schwere Aversion gegen Kirche, Polizei und intellektuelle Autorität.
Deshalb enden unsere akademischen Karrieren meist schon am Gymnasium, spätestens aber im dritten oder vierten Semester an der Hochschule. Nur alle paar Jahrzehnte schafft es ein Le Gall, sein Studium regulär abzuschließen und sich mit einer weltlichen oder geistlichen Autorität auszusöhnen. Der wird dann Jurist, Arzt oder Pfarrer und erntet in der Familie Respekt, aber auch einiges Misstrauen.
Zu ein wenig Nachruhm gelangte immerhin mein Ururgroßonkel Serge Le Gall, der kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg wegen Opiumkonsums vom Gymnasium flog und Gefängniswärter im Zuchthaus von Caen wurde. Er ging in die Geschichte ein, weil er eine Gefangenenrevolte friedlich und ohne das übliche Massaker zu beenden versuchte, wofür ihm ein Häftling zum Dank mit einer Axt den Schädel spaltete. Ein anderer Vorfahr zeichnete sich dadurch aus, dass er eine Briefmarke für die vietnamesische Post entwarf, und mein Vater baute als junger Mann Erdölpipelines in der algerischen Sahara. Ansonsten aber verdienen wir Le Galls unser Brot als Tauchlehrer, Staplerfahrer oder Verwaltungsbeamte. Wir verkaufen Palmen in der Bretagne und deutsche Motorräder an die Straßenpolizei von Nigeria, und einer meiner Cousins fahndet halbtags als Detektiv für die Société Générale nach flüchtigen Kreditnehmern.
Wenn die meisten von uns trotzdem ganz ordentlich durchs Leben kommen, so verdanken wir das zur Hauptsache unseren Frauen. Alle meine Schwägerinnen, Tanten und Großmütter väterlicherseits sind starke, lebenstüchtige und warmherzige Frauen, die ein diskretes, aber unbestrittenes Matriarchat ausüben. Sie sind beruflich oft erfolgreicher als ihre Männer und verdienen mehr Geld, und sie kümmern sich um die Steuererklärung und schlagen sich mit den Schulbehörden herum. Die Männer ihrerseits danken es ihnen mit Verlässlichkeit und Sanftmut.
Wir sind, glaube ich, eher friedfertige Ehemänner. Wir lügen nicht und geben uns Mühe, nicht in gesundheitsschädigendem Maß zu trinken; wir halten uns von anderen Frauen fern und sind willige Heimwerker, und ganz gewiss sind wir überdurchschnittlich kinderlieb. Bei unseren Familienzusammenkünften ist es guter Brauch, dass die Männer sich nachmittags im Garten um die Säuglinge und Kleinkinder kümmern, während die Frauen an den Strand oder zum Einkaufen fahren. Unsere Frauen wissen es zu schätzen, dass wir für unser Lebensglück keine teuren Autos brauchen und nicht zum Golfspielen nach Barbados fliegen müssen, und sie sehen es uns milde nach, dass wir zwanghaft auf Flohmärkte gehen und sonderbares Zeug nach Hause schleppen – fremder Leute Fotoalben, mechanische Apfelschäler, ausgediente Lichtbildprojektoren, für die es längst keine Lichtbilder im richtigen Format mehr gibt, echte Ferngläser der Kriegsmarine, durch die man alles verkehrt herum sieht, chirurgische Sägen, rostige Revolver, wurmstichige Grammophone und elektrische Gitarren, denen jeder zweite Bund fehlt – wir schleppen gern sonderbares Zeug nach Hause, das wir dann monatelang polieren und putzen und instand zu setzen versuchen, bevor wir es verschenken, zurück zum Flohmarkt tragen oder auf den Müll werfen. Wir tun das zur Erholung unseres vegetativen Nervensystems; Hunde essen Gras, höhere Töchter hören Chopin, Hochschulprofessoren gucken Fußball, und wir basteln an altem Zeug rum. Erstaunlich viele von uns fertigen übrigens abends, wenn die Kinder schlafen, im Keller kleinformatige Ölbilder an. Und einer schreibt, das weiß ich aus erster Hand, heimlich Gedichte. Nur leider nicht sehr gute.
Die vorderste Sitzbank von Notre-Dame vibrierte vor tapfer unterdrückter Aufregung. War das wirklich Mademoiselle Janvier, die da gekommen war, hatte sie es gewagt? Die Frauen blickten wieder starr nach vorn und machten gerade Rücken, als gelte ihre Aufmerksamkeit ausschließlich dem Sarg und dem Ewigen Licht über dem Hauptaltar; wir Männer aber, die wir unsere Frauen kannten, wussten, dass sie gespannt dem klackenden Stakkato der kleinen Schritte lauschten, die sich seitlich zum Mittelgang hin bewegten, dann rechtwinklig abbogen und ohne das geringste Zögern, ohne jedes Ritardando oder Accelerando mit dem regelmäßigen Taktschlag eines Metronoms nach vorne eilten. Dann konnte, wer zur Mitte schielte, in den Augenwinkeln die kleine Gestalt sehen, wie sie leichtfüßig wie ein junges Mädchen über den roten Teppich die zwei Stufen hinauf zum Fußende des Sargs lief, die rechte Hand auf die Sargwand legte und lautlosen Schrittes daran entlangfuhr bis zum Kopfteil, wo sie endlich stehen blieb und ein paar Sekunden in nahezu soldatisch strammer Haltung verharrte. Sie hob den Schleier über den Hut und beugte sich vor, breitete die Arme aus und legte sie auf die Sargwand, küsste meinen Großvater auf die Stirn und legte ihre Wange an sein wächsernes Haupt, als wollte sie eine Weile ruhen; dabei wandte sie ihr Gesicht nicht schützend dem Hauptaltar zu, sondern bot es uns offen dar. So konnten wir sehen, dass sie die Augen geschlossen hielt und dass ihr rot geschminkter Mund sich zu einem Lächeln verzog, das breit und immer breiter wurde, bis ihre Lippen sich zu einem lautlosen kleinen Lachen öffneten.
Schließlich löste sie sich vom Toten und kehrte in ihre aufrechte Haltung zurück, nahm die Handtasche aus der Armbeuge, öffnete sie und holte mit raschem Griff einen faustgroßen, runden, matt schimmernden Gegenstand hervor. Es war, wie wir wenig später feststellen sollten, eine alte Fahrradklingel mit halbkugelförmiger Glocke, deren Chromschicht von Haarrissen durchzogen und an einigen Stellen abgeblättert war. Sie verschloss die Handtasche und hängte sie zurück in ihre Armbeuge, und dann betätigte sie die Klingel zwei Mal. Rrii-Rring, Rrii-Rring. Während das Klingeln im Kirchenschiff widerhallte, legte sie die Klingel in den Sarg, drehte sich nach uns um und sah uns einem nach dem anderen gerade in die Augen. Sie begann links außen, wo die kleinsten Kinder mit ihren Vätern saßen, ging die ganze Reihe durch und verharrte bei jedem einzelnen für vielleicht eine Sekunde, und als sie rechts außen angelangt war, schenkte sie uns ein sieghaftes Lächeln, setzte sich in Bewegung und eilte klackenden Schrittes an der Familie vorbei durch den Mittelgang, dem Ausgang entgegen.