5. KAPITEL
Zu Pfingsten 1918 hatte Léon erstmals zwei Tage in Folge dienstfrei. Entgegen seiner Gewohnheit erwachte er schon am frühen Morgen und beobachtete, wie in seinem Fenster das Dunkel der Nacht fahlem Morgenlicht und dann dem Glanz des Sonnenaufgangs wich. Er wusch sich am Brunnen auf der Rückseite des Güterschuppens, dann legte er sich wieder aufs Bett, lauschte dem Gezwitscher der Amseln und dem Knacken des Gebälks und wartete, bis es endlich acht Uhr wurde und Zeit, ins Büro zu gehen und unter Madame Josiannes überschwänglich-zärtlicher Fürsorge Milchkaffee zu trinken.
Nach dem Frühstück fuhr er mit dem Rad in die Stadt. In der Nacht war ein Gewitter übers Land gezogen und hatte die Maisfelder zerzaust, die letzten dürren Blätter des Vorjahrs von den Platanen gerissen und die Kanäle und Straßengräben mit Regenwasser gefüllt. Léon drehte eine Runde durch die sonntäglich stille Stadt mit ihren glänzenden Hausdächern, nassen Straßen und gurgelnden Kanalisationsschächten. Ein sanfter Sommerwind trug den Duft von blühenden Jasminsträuchern aus den Gärten in die Gassen, und die Sonne machte sich daran, alles wieder trockenzulegen, bevor die Bürger blinzelnd aus ihren Häusern traten und zur Messe gingen.
Auf der Place de la République hielt Léon an, lehnte sein Rad gegen eine Litfaßsäule und setzte sich auf eine schon halbwegs trockene Bank. Er musste nicht lange warten. Ein paar Tauben näherten sich ihm vorsichtig mit ruckelnden Köpfen und tippelten, als er keine Brotkrumen verstreute, zögerlich wieder davon. Irgendwo johlte eine rollige Katze. Ein alter Mann mit bordeauxrotem Morgenmantel, braungelb karierten Hausschuhen und Baguette unter dem Arm schlurfte vorbei und verschwand in der Gasse zwischen Rathaus und Ersparniskasse. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und gab sie wieder frei. Da zerriss hinter Léons Rücken – Rrii-Rring, Rrii-Rring! – das Klingeln einer Fahrradglocke die morgendliche Stille, und eine Sekunde später stand Louise vor ihm.
»Ich habe jetzt eine Glocke am Fahrrad«, sagte sie. »Schulde ich dir dafür etwas?«
»Aber nein.«
»Ich habe dich nicht drum gebeten. Trotzdem vielen Dank. Wann hast du’s getan?«
»Gestern Abend, nach der Kneipe.«
»Da hattest du zufällig eine Glocke und einen Schraubenzieher dabei.«
»Und den passenden Vierkantschlüssel.«
Louise lehnte ihr Fahrrad gegen die Litfaßsäule, setzte sich neben ihn auf die Bank und steckte sich eine Zigarette an.
»Was hast du da wieder für komisches Zeug auf dem Gepäckträger?«
»Vier Wolldecken und einen Kochtopf«, sagte Léon. »Und eine Tasche mit Brot und Käse.«
»Wieder alles am Straßenrand gefunden?«
»Ich mache einen Ausflug ans Meer«, sagte er. »Heute hin, morgen zurück.«
»Einfach so?«
»Ich will wieder mal den Ozean sehen. Achtzig Kilometer, in fünf Stunden bin ich dort.«
»Und dann?«
»Ich gehe über den Klippen spazieren, sammle am Strand komisches Zeug ein und suche mir ein trockenes Plätzchen zum Schlafen.«
»Und dafür brauchst du vier Decken?«
»Zwei würden reichen.«
»Soll ich mitkommen?«
»Das wäre schön.«
»Wenn ich mitkomme, willst du mir an die Wäsche.«
»Nein«, sagte er.
»Wofür hältst du mich, für eine Idiotin? Jeder Mann will einem Mädchen an die Wäsche, wenn er allein mit ihm in den Dünen ist.«
»Das stimmt«, gab Léon zu. »Aber ich tu’s nicht.«
»Ach nein?«
»Nein. Was man will und was man tut, ist nicht dasselbe.« Léon stand auf und ging zu seinem Rad. »Übrigens gibt es in Le Tréport keine Dünen.«
»Ach nein?« Louise lachte.
»Nur Klippen. Und einen Kieselstrand. Im Ernst, ich tu’s nicht. Nicht, solange du es nicht tust.«
»Ehrlich?«
»Ich schwör’s.«
»Wie lang gilt dein Schwur normalerweise?«
»Mein ganzes Leben lang. Ich mein’s ernst.«
Louise legte die Stirn in Falten und schürzte die Lippen, dann stieß sie durch die Nase Luft aus. »Warte eine Minute. Ich hole meine Zigaretten.«
Sie fuhren nebeneinander hinaus aus der Stadt und westwärts dem Ozean entgegen auf der breiten, schnurgeraden und menschenleeren Straße durch die anmutige Weidelandschaft der Haute Normandie, die seit Menschengedenken ihre Bewohner so großzügig mit allem Lebensnotwendigen versorgt. Der Himmel stand hoch, und der Horizont war weit, und links und rechts flogen fahlgrüne Kriegsweizenfelder vorbei, die spärlich und fleckig wuchsen wie Jünglingsbärte, weil sie von unerfahrenen Frauen- und Kinderhänden angesät worden waren; später im Hügelland, weitab von den Dörfern, gab es abschüssige, jahrelang nicht mehr gepflügte Äcker, auf denen schon Birkenwälder wuchsen.
Louise fuhr schnell, und Léon hielt sich, da er ausgeruht und bei Kräften war, mit Leichtigkeit neben ihr. Sie schauten geradeaus auf die Straße, ihre Beine traten die Pedale rund und gleichmäßig, und weil ihre Gedanken ganz mit Unterwegssein und Weiterkommen und Ankommen beschäftigt waren, redeten sie nicht viel; sie waren glücklich. Gelegentlich warf er Louise aus dem Augenwinkel einen Blick zu, und sie tat, als bemerke sie es nicht. Einmal gaben sie einander in voller Fahrt die Hände und fuhren eine Weile so nebeneinander her, dann wieder betätigte sie aus reinem Glück die Fahrradglocke.
Nachmittags um halb drei erreichten sie ihr Ziel, unvermittelt und früher als erwartet. Der Ozean hatte sein Nahen nicht angekündigt – die Luft war nicht salziger, der Himmel nicht weiter, die Flora nicht karger, der Boden nicht sandiger geworden; irgendwann war die normannische Landschaft mit ihren fetten Äckern und saftigen Wiesen einfach abgebrochen und hatte hundert Meter tiefer am Fuß der Kreidefelsen in der grauen Brandung der Nordsee ihre Fortsetzung gefunden. Sie fuhren vorbei am kanadischen Militärhospital, das sich über den Klippen in einem Meer von weißen Zelten einquartiert hatte, dann dem Fluss entlang hinein nach Le Tréport.
Der Ort war früher ein Fischerdorf gewesen. Seit die Eisenbahn aus der Hauptstadt bis hierher fuhr, verdingten sich die Eingeborenen hauptberuflich den Pariser Sommerfrischlern, die am Fuß der Klippen prächtige Herrenhäuser mit Meeresblick gebaut hatten. Léon und Louise stellten ihre Räder am Quai François 1er ab und spazierten am Hafen entlang. Sie beobachteten die Fischer auf den Booten, die kalte, halbgerauchte Zigaretten in den Mundwinkeln hatten und mit knotigen Händen ihre Netze in Ordnung brachten, Segel ausbesserten, Taue aufrollten und das Deck fegten, und sie musterten die flanierenden Feriengäste mit ihren rosa Bottinen und gleißenden Gamaschen, ihren weißen Matrosenkostümen und durchscheinenden Leinenröcken, ihren Panamahüten, kunstvoll blondierten Haarzöpfen und ihrem zur Schau getragenen Pariser Akzent. Plötzlich fühlte Léon, dass Louise sich bei ihm einhakte; das hatte sie noch nie getan.
»Schau dir die gezuckerten Arschgesichter mit ihren Sonnenschirmen an«, sagte sie. »Solltest du mich jemals mit so einem Schirmchen erwischen, musst du mich erschießen.«
»Nein.«
»Ich befehle es dir.«
»Nein.«
»Ich habe sonst niemanden.«
»Na gut.«
Dann gingen sie wieder schweigend nebeneinander, als ob sie ein lange vertrautes Paar wären, das sich nichts mehr zu beweisen hat. Als sie noch auf ihren Rädern gesessen und in die Pedale getreten hatten, waren sie frei und unbefangen gewesen, weil das Ziel noch in der Zukunft gelegen hatte und die Gegenwart nicht das Eigentliche gewesen war; jetzt gab es keinen Hinderungsgrund und keine Ausflucht mehr – was nun war, zählte. Aber auch jetzt, da sie so über den Hafen spazierten, gab es zwischen ihnen keine Vorsicht und kein Unbehagen, nur die Schwierigkeit, sich in Worten auszudrücken.
Was Léon betraf, so reichte schon die Wärme ihrer Hand an seinem Arm, ihn wunschlos glücklich zu machen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er so nah an der Seite eines Mädchens spazieren durfte; dass er, wenn er nur den Kopf ein wenig zur Seite neigte, den Duft ihres sonnenbeschienenen Haars schnuppern konnte, war schon fast mehr, als er ertragen konnte.
Sie gingen über die Hafenmole zum Leuchtturm hinaus, der den Eingang des Hafens markierte, setzten sich auf die Mauer und betrachteten die ein- und ausfahrenden Dampfschiffe und Segelboote. Als die Sonne sich dem Ozean näherte, kehrten sie ins Städtchen zurück, stiegen die Rue de Paris hinauf und besichtigten die Eglise Saint-Jacques, das Wahrzeichen der Stadt.
Gleich rechts neben dem Eingang gab es eine Madonnenstatue, vor der sie lange stehen blieben; es war eine einfach gefertigte Gipsfigur mit flachem Gesicht, rot bemalten Wangen und schwarzen Knopfaugen. Ihr Gewand bestand aus blauem, goldbesticktem Samt und war über und über bedeckt mit mehrfach gefalteten und gerollten Zetteln. Sie waren mit Stecknadeln am Kleid befestigt, aber auch zwischen den Fingern und am Kopftuch der Muttergottes steckten Zettel, auf ihrem Heiligenschein und auf ihren Füßen lagen Zettel, sogar zwischen ihren Lippen und in ihren Ohren steckten Zettel in allen Größen und Farben.
»Was sind das für Zettel?«, fragte Louise.
»Die Matrosenfrauen bitten die Muttergottes um Schutz für ihre Ehemänner«, sagte Léon. »Ich kenne das von zu Hause. Sie zeichnen ihr Fischerboot auf einen Zettel und hoffen, dass es unter dem Schutz der Heiligen Jungfrau heil wiederkehrt. Andere legen eine Haarlocke ihres schwindsüchtigen Kindes in den Zettel und bitten die Jungfrau, es gesund zu machen. In letzter Zeit hat’s auch Fotos von Soldaten dabei.«
»Wollen wir ein paar anschauen?«
»Das bringt Unheil«, sagte Léon. »Das Schiff sinkt. Das Kind stirbt. Der Soldat wird von einer Granate in Stücke gerissen. Und dir faulen die Finger ab, wenn du auch nur einen Zettel anfasst.«
»Dann lassen wir’s. Wollen wir gehen?«
»Nur eine Minute noch.« Léon nahm sein Notizbuch und einen Bleistift aus der Brusttasche.
»Du schreibst einen Zettel?« Louise lachte. »Wie ein Matrosenweib?«
Léon riss die Seite aus dem Notizbuch, rollte sie zu einem Röhrchen und steckte sie der Muttergottes unter die rechte Achsel. »Lass uns gehen, es ist bald Ebbe. Ich hole uns fürs Abendbrot Muscheln aus den Felsen.«
In einem Spezereiladen in der Rue de Paris kaufte Léon zwei Baguettes sowie Karotten, Lauch, Zwiebeln, Thymian und eine Flasche Muscadet, dann holten sie ihre Fahrräder und schoben sie im Sonnenuntergang hinunter zum Casino; von dort führte ein breiter Gehweg aus Eichenbohlen über den Kieselstrand an einer langen Reihe weiß getünchter Badehäuschen vorbei. Dahinter erhoben sich stolze Villen mit ringsum laufenden Veranden und weißen Gardinen, die sich in der Meeresbrise leicht und lautlos blähten, erschlafften und blähten, als würden sie atmen.
Léon hatte vom Leuchtturm aus gesehen, dass sich weit hinter den Villen, in den Felsen am südlichen Ende des Strands, ziemlich viel Treibgut verfangen hatte; das wollte er als Brennholz benutzen. Es war kühl geworden, die letzten Badenden waren heimgekehrt, um sich das Meersalz vom Leib zu spülen und sich fein zu machen fürs Abendessen. Léon und Louise fanden am Fuß der Kreidefelsen zwischen zwei mächtigen Felsblöcken ein trockenes, windgeschütztes Plätzchen. Sie räumten die Kiesel weg, bis der Sand zum Vorschein kam, dann breiteten sie eine Decke aus, und Léon machte Feuer aus trockenem Seetang und Treibholz. Louise saß währenddessen auf der Decke, schlang die Arme um ihre Knie und schaute hinaus aufs orange-lila Wellenspiel des Ozeans, als wäre es das dramatischste Märchenspiel.
»Lass uns die Miesmuscheln holen«, sagte er, krempelte seine Hose über die Knie und nahm den Kochtopf vom Fahrrad. »Dort vorn in den Felsen, wo die Möwen in den Tümpeln umherstaksen, müsste es welche geben. Die Touristen holen nie welche, die kaufen sie lieber im Laden. Crevetten hat’s da wahrscheinlich auch, aber ohne Netz erwischen wir die nicht.«
Die Möwen kreischten ärgerlich und breiteten widerwillig ihre Flügel aus, machten ein paar Hüpfer und erhoben sich mit zwei, drei Schlägen in die Luft, ließen sich von den Aufwinden erfassen und segelten an der Felswand hoch hinauf bis zu den grünen Wiesen, um sofort wieder in die Tiefe zu stürzen mit ihren spitzen, bedrohlich abwärtsgerichteten Schnäbeln, kurz vor dem Aufprall wieder in Gleitflug überzugehen und wiederum in die Höhe zu segeln.
In den Tümpeln gab es reichlich Muscheln, der Topf war rasch voll. Léon nahm zwei Messer aus der Tasche und zeigte Louise, wie man Algen und Bärte von den Muscheln schabte. Dann kehrten sie zurück an ihren Platz zwischen den Felsbrocken. Er ließ sich auf die Wolldecke fallen und seufzte; dieser Tag war perfekt, sein Glück war vollkommen. Louise aber blieb stehen, machte unschlüssig ein paar Schritte hin und her und steckte sich eine Zigarette an.
»Komm her, mach es dir bequem«, sagte er. »Ich tu dir nichts.«
»Sei du froh, dass ich dir nichts tue.«
»Ist dir kalt?«
»Nein.«
»Möchtest du noch etwas unternehmen, bevor es dunkel wird? Wollen wir einen Spaziergang hinauf zu den Klippen machen?«
»Ich habe Hunger.«
»Ich koche gleich.«
»Soll ich etwas einkaufen?«
»Wir haben alles«, sagte Léon. »Ich muss nur noch die Karotten, die Zwiebeln und den Knoblauch schneiden und das Ganze ein paar Minuten kochen.«
»Soll ich etwas Süßes für den Nachtisch holen? Zwei Eclairs au Chocolat?«
»Es ist halb zehn«, sagte Léon. »Sollte mich wundern, wenn die Konditorei noch offen wäre.«
»Ich versuch’s.«
Nach einer halben Stunde war sie wieder da. In der Zwischenzeit hatte die Erde sich in die Dunkelheit gedreht. Am Himmel blinkten die ersten Sterne, der Mond war noch nicht aufgegangen. Ein paar schwarze Wolken trieben so niedrig über die Bucht, dass sie vom Blinksignal des Leuchtturms gestreift wurden.
Léon nahm den Topf vom Feuer. Er konnte hinter sich das Knirschen der Kiesel unter Louises Schritten hören. Er drehte sich nicht nach ihr um.
»Das Essen ist fertig. Hast du die Eclairs?«
Sie gab keine Antwort.
Léon rührte im Kochtopf, fischte ein Stück Seegras und eine leere Schale heraus. Ihre Schritte wurden langsamer und verstummten. Dann konnte er fühlen, wie Louise von hinten an ihn herantrat und ihre Hände auf seine Schultern legte. Ihr Haar streifte seinen Hals, ihr Atem strich an seinem rechten Ohr vorbei.
»Du hast mich reingelegt.« Ihre rechte Hand löste sich von seiner Schulter, glitt unter seiner Achsel hindurch und kniff ihn in die Nase. »Du hast es absichtlich eingefädelt und mich vorgeführt wie einen Tanzbären.«
»Dir werden heute Nacht die Finger abfaulen.«
»Stimmt das, was auf dem Zettel steht?«
»Ganz sicher. Auf immer und ewig.«
Léon befreite seine Nase aus Louises Griff, drehte sich um und schaute ihr in die grünen Augen, die im Licht des Feuers leuchteten. Und dann küssten sie sich.