17. KAPITEL

 

Dann kam der Tag, an dem morgens bei Arbeitsbeginn keine Karteikarten mehr auf Léons Schreibtisch lagen – keine alten, wasserbeschädigten und auch keine neuen, unbeschriebenen. Léon sah sich im ganzen Labor um, dann setzte er sich hin und wartete. Als nichts geschah, setzte er Kaffeewasser auf, ging hinaus auf den Flur und hielt Ausschau. Als das Wasser kochte, brühte er seinen Kaffee auf und schenkte eine Tasse ein, setzte sich wiederum hin und wartete.

Nach dem Kaffee kehrte er zurück auf den Flur. Schräg gegenüber stand eine Tür offen. Ein Kollege saß weit nach hinten gelehnt in seinem Stuhl, die Hände hatte er im Nacken verschränkt. Léon schaute ihn fragend an. Der Kollege verzog den Mund zu einem waagrechten, unlustigen Grinsen und sagte: »Es ist vorbei, Le Gall. Aus und vorbei.«

Léon nickte, drehte sich auf dem Absatz um und kehrte zurück ins Labor. Zu seiner eigenen Überraschung empfand er keine Erleichterung, sondern Scham. Er schämte sich für sich selbst und für die gesamte Police Judiciaire, die nun keine Gelegenheit mehr haben würde, die schändliche Strafarbeit, die ihr aufgezwungen worden war, niederzulegen.

Äußerlich kehrte eine Art Normalität in Léons Alltag zurück. Standartenführer Knochen und sein Adjutant ließen sich nicht mehr blicken, die Kaffeelieferungen blieben aus. Zwar war die Schublade noch immer reichlich mit Banknoten gefüllt, jedoch der Zwang zur ständigen Geldverteilung war vorbei. Eigentliche Laborarbeit fiel kaum an. Wohl kamen wieder deutlich mehr Menschen zu Tode als im sonderbar friedfertigen Sommer 1940, aber die meisten Opfer wiesen keine Vergiftungssymptome auf, sondern Schussverletzungen.

Léon beschloss, seine vor anderthalb Jahren unterbrochene informelle Doktorarbeit über Pariser Giftmorde wieder aufzunehmen. Allerdings musste er es vermeiden, Knochen zusätzlich zu reizen. Bevor er eigenmächtig undurchsichtige Schriftstücke verfasste, würde er ihn um eine formelle Bewilligung ersuchen und ihm die Harmlosigkeit seiner Untersuchung darlegen müssen. Léon schämte sich seiner vorauseilenden Unterwürfigkeit, und noch mehr schämte er sich, dass er keine Möglichkeit sah, weniger unterwürfig zu sein.

 

Anfang Februar 1942 tauchte in Léons Labor ein Jules Caron aus der Buchhaltung auf, der noch nie im vierten Stockwerk gesehen worden war. Er hatte Pockennarben auf den Wangen und trug eine Brille mit Schildpattgestell, und seine Nase war kurz und sein Mund ein einziger Strich. Léon kannte den Mann von gelegentlichen Begegnungen im Treppenhaus. Sie hatten einander jeweils kurz und sachlich gegrüßt, wie das zwischen Kollegen aus unterschiedlichen Abteilungen üblich ist, waren aber nie stehen geblieben und hatten nie miteinander geredet. Und jetzt stand er vor Léons Schreibtisch und rieb sich den Nasenrücken wie ein Schulbub, der zum Direktor zitiert worden ist.

»Hör zu, Le Gall. Wir kennen uns schon lange.«

»Ja.«

»Wenn auch nicht sehr gut.«

»Das stimmt.«

»Was machst du da gerade?«

»Ein bisschen Statistik. Todesfälle durch Vergiftung 1924 bis 1940.«

»Aha. Ich bin seit zwölf Jahren im Haus. Und du?«

»September 1918. Bald vierundzwanzig Jahre.«

»Gratuliere.«

»Na ja.«

»Die Zeit vergeht.«

»Ja.«

»Macht es dir etwas aus, wenn ich die Tür schließe?«

»Bitte sehr.« Léon hatte noch Filterkaffee in der Kanne. Er schenkte zwei Tassen ein.

»Du musst dich über meinen Besuch wundern, wir kennen uns ja eigentlich nicht.«

»Dienst ist Dienst.«

»Ich bin nicht dienstlich hier. Es geht, wie soll ich sagen …«

»Ich höre.«

»Ich wäre nicht hier, wenn ich die geringste Aussicht auf eine andere …«

»Ich bitte dich.«

»Ich bin hier … versteh mich nicht falsch. Die Leute reden.«

»Über mich?«

»Man hört so dies und das.«

»Was denn?«

»Na, einiges. Hör zu, Le Gall, mir ist egal, was du treibst, ich will es nicht wissen. Ich mach’s kurz: Willst du mein Boot kaufen?«

»Wie bitte?«

»Ich habe ein Boot, nicht weit von hier. Nichts Besonderes, eine hölzerne Pinasse, drei auf sieben Meter zwanzig mit Doppelkabine und Zwölf-PS-Dieselmotor. Achtzehn Jahre alt, aber gut in Schuss. Es liegt im Arsenal-Hafen.« Caron schaute beunruhigt um sich. »Kann ich hier reden, hört uns auch keiner zu?«

»Sei unbesorgt.«

»Du musst mir helfen, Le Gall. Ich muss verschwinden, in die freie Zone. Heute Abend noch, spätestens morgen früh.«

»Wieso?«

»Frag nicht, die Warnung war deutlich. Ich brauche Geld für mich und meine Familie. Wenn’s geht, auch für die Schwiegereltern. Wirst du mir helfen?«

»Wenn ich kann.«

»Die Leute sagen, du hast Geld.«

»Wer sagt das?«

»Stimmt’s?«

»Wie viel brauchst du?«

»Ich verkaufe dir meine Pinasse.«

»Ich will deine Pinasse nicht.«

»Und ich will kein Almosen.«

»Wie viel?«

»Fünftausend.«

»Wirst du schweigen?«

»Mich sieht hier keiner mehr, mein Zug fährt um halb drei.«

Léon nahm den Schlüssel aus der Bakelitschale und öffnete die Schublade, zählte fünftausend Franc ab und legte noch tausend Franc dazu. Während er das Bündel über den Tisch schob, streckte ihm Caron einen Schlüsselbund entgegen.

»Das Boot heißt Fleur de Miel. Hellblauer Rumpf, weiße Kabine, rotweiß karierte Vorhänge.«

»Ich will dein Boot nicht.«

»Es hat Dieselmotor, Holzofen und zwei Kojen.«

»Ich will es nicht.«

»Und elektrisches Licht. Nimm es als Pfand und halte es für mich in Schuss.«

»Steck den Schlüssel wieder ein.«

»Den Motor musst du alle zwei Wochen anwerfen, sonst bekommt er Standschäden. Falls ich in zwei oder drei Jahren noch nicht zurück sein sollte, musst du den Kahn aus dem Wasser nehmen und frisch streichen. Wenn der Krieg vorbei ist, hole ich ihn mir wieder und gebe dir das Geld zurück.«

»Vergiss das Geld«, sagte Léon

»Dann vergiss du, dass das Boot jemals mir gehörte.«

Caron stand auf, legte den Schlüssel auf den Tisch und hob zum Abschied die Hand.

 

Léon legte den Schlüssel zum Geld, sperrte die Schublade zu und beugte sich wieder über seine Statistiken. Nach ein paar Wochen aber stand er immer häufiger am Fenster und betrachtete die Schleppkähne, die nur noch selten und vereinzelt auf der Seine vorbeizogen; wenn eine Pinasse auftauchte, schaute er besonders aufmerksam hin. Er erkundigte sich in der Buchhaltung nach dem Kollegen Caron und erfuhr, dass dieser mit seiner ganzen Familie spurlos verschwunden war.

Mit der Zeit dachte er immer öfter an das Boot mit den rotweiß karierten Vorhängen und machte sich Sorgen um den Dieselmotor. Er dachte an rostende Simmenringe und korrodierende Stecker, zerbröselnde Dichtungen und blockierte Ventilfedern, und er dachte daran, dass die Möwen das Boot mit ihrem Kot verkrusten würden, wenn niemand nach dem Rechten sah. Die Clochards würden sich Zugang zur Kajüte verschaffen und die Tür offenstehen lassen, und dann würden Wind und Wetter und die Schulbuben das Werk der Zerstörung vollenden; gelegentlich dachte Léon auch an Caron, der sich irgendwo unter der Sonne des Südens nach dem milchigen Pariser Himmel sehnte und darauf hoffte, dass Le Gall sich um seine Fleur de Miel kümmerte.

An einem zaghaften Frühlingstag Ende des dritten Kriegswinters ging Léon mittags nicht nach Hause, sondern über die Île Saint-Louis und den Pont Sully zum Arsenal-Hafen.

Das braune Wasser im Hafenbecken kräuselte sich in der Frühlingsbrise. Drei winterdicht verpackte Ausflugskähne waren an ihren Pollern vertäut, zwei oder drei Dutzend Pinassen wiegten sich leise im Wind; manche waren grün und manche rot, einige waren hellblau, und mehrere hatten rotweiß karierte Vorhänge – aber Fleur de Miel hieß nur eine.

Léon blieb auf der Quaimauer stehen und betrachtete das Boot. Es war übersät mit Möwenkot, in den Ecken lag Laub und am Schiffsrumpf hatte sich unter der Wasserlinie ein zotteliger Pelz von Grünzeug festgesetzt; aber die Planken schienen in Ordnung und die Fugen frisch kalfatert, und der Lack war einwandfrei. Die rotweißen Vorhänge waren sorgfältig zugezogen und das Vorhängeschloss an der Kabinentür war unversehrt.

In dem Augenblick, da Léon den Schlüssel aus der Tasche nahm, fühlte er, wie das Boot in seinen Besitz überging. Endlich hatte er wieder ein Boot. Es fühlte sich genauso an wie damals in Cherbourg, als er mit Patrice und Joël jenes Wrack im Gebüsch versteckt hatte. Wie lange war das her – ein Vierteljahrhundert? Léon wunderte sich, dass er all die Jahre nie wieder den Wunsch nach einem eigenen Boot verspürt hatte. Einen Renault Torpedo oder eine Motobécane hatte er sich gewünscht, ein Landhaus an der Loire, eine Uhr von Bréguet, einen Billardtisch und ein Feuerzeug von Cartier – aber nie wieder ein Boot. Und jetzt lag es vor ihm.

Léon atmete tief durch und ging mit einem großen Schritt an Bord. In jener Sekunde war er sich ganz sicher, dass er dieses Boot niemals mehr hergeben und mit niemandem teilen würde; er würde keine unwillkommenen Gäste empfangen, und überhaupt würde er keiner Menschenseele die Existenz dieses Bootes verraten. Selbst seine Frau Yvonne, die ja ausdrücklich nichts zu tun haben wollte mit seinen Kaffee- und Geldgeschichten, würde er nicht ins Bild setzen, und ein Kinderspielplatz würde dieses Boot auch nicht werden. Es gehörte ihm ganz allein und niemandem sonst.

Léon war in feierlicher, gehobener Stimmung, als er das Boot vom Bug bis zum Heck abschritt. Das Vorhängeschloss sprang mit einem leichten Klacken auf. Die Tür war ein wenig verzogen und klemmte, drehte sich aber nach einem entschlossenen Ruck leicht und geräuschlos in den gut geschmierten Angeln. Im Innern duftete es gemütlich nach erloschenem Holzfeuer, gebohnerten Planken und Pfeifentabak, vielleicht auch nach Kaffee und Rotwein. In einer Ecke lag eine zur Seite gekippte Spielzeuglokomotive, in einem Bastkorb ein Knäuel Strickgarn, das von zwei Holznadeln durchbohrt war. Die Lokomotive würde er dem kleinen Philippe, das Strickgarn Madame Rossetos mitbringen. Zwischen zwei Bullaugen hingen die Sonnenblumen von van Gogh, auf einem Regal standen zwei oder drei Dutzend Bücher. Léon setzte sich in den rissigen Ledersessel beim Kohleofen und streckte die Beine, stopfte sich eine Pfeife und steckte sie an. Dann schloss er die Augen, stieß kleine Rauchwolken aus und lauschte dem Geplätscher an der Bootswand.

 

Médine,

Im Dauerregen

des Juli 1943

 

Mein lieber, alter Léon,

 

bist Du noch da? Ich bin noch hier, wo sollte ich schon hingehen. Ich ersaufe wieder mal im Wasser – Wasser von oben, Wasser von unten, Wasser von vorne und hinten, Wasser von der Seite. Das Wasser quillt aus den Erdlöchern und tropft von den Wänden, es fällt vom Himmel, verdampft auf dem heißen Boden und kehrt in den kalten Himmel zurück, um sofort wieder herunterzufallen und ein nervenzerfetzendes Stakkato auf den Blechdächern zu trommeln, und wo zwischen den Sturzfluten noch etwas Raum für Atemluft wäre, wabert ein Brodem von Schimmel und Moder, dass man sich hinlegen und sterben möchte. Keinen Schritt kann ich vors Haus tun, ohne knöcheltief, knietief im Schlamm zu versinken. Der Schlamm quillt zwischen meinen Zehen hervor und dringt mir unter die Nägel, ich habe schon Pilze und Flechten auf der Kopfhaut und Wahnvorstellungen von Maden und Würmern, und meine Füße haben vom roten Schlamm eine Tönung von Terrakotta angenommen, die ich auch mit noch so kräftigem Schrubben nicht mehr wegbringe. In einem verzweifelten Versuch, mich vor dem ewigen Schlamm zu schützen, habe ich kürzlich meine hübschen Pariser Kalbslederstiefel hervorgeholt, die ich am Tag meiner Ankunft in einer Truhe verstaut hatte – sie haben ringsum einen fingerdicken Pelz aus schneeweißem Schimmelpilz angesetzt. Es wird allmählich Zeit, in den kühlen Norden zurückzukehren. Bis es soweit ist, gehe ich barfuß.

Meinen Alltag hier kannst Du Dir nicht albern genug vorstellen. Ich habe zwar Kopfläuse und brüchige Fingernägel, und an all meinen Röcken ist der Saum ausgefranst – aber ich gebe noch immer tapfer die Tippmamsell. Jeden Morgen trete ich mit meiner tragbaren Schreibmaschine vors Haus, wo schon mein persönlicher Tirailleur mit meinem persönlichen Regenschirm wartet, und folge meinen drei Vorgesetzten und deren Tirailleurs sowie unserer persönlichen Eskorte, die aus zwanzig weiteren Tirailleurs besteht.

Als Erstes gehen wir zum Aussichtsturm, der einen Steinwurf von unserer Festung entfernt neben dem Gleis steht. Ein Tirailleur stellt eine Leiter an den Turm, mein Chef klettert hinauf zur Eingangstür, die sich in drei Metern Höhe befindet, und schaut nach, ob das Siegel noch intakt ist. Derweil stellt ein anderer Tirailleur einen Klapptisch für mich auf und spannt schützend einen großen Schirm darüber, und wenn mein Chef wieder festen Boden, das heißt: warmen Schlamm unter den Füßen hat, setze ich mich an meine Maschine und nehme das Protokoll auf. Im Gebüsch kauern regennasse Hyänen und beobachten uns mit geschürzten Lefzen. Nasse Hyänen sind ein unsagbar elender Anblick, lass Dir das gesagt sein. Schon in trockenem Zustand ist die Hyäne ein Sinnbild für die Unvollkommenheit der Kreatur, aber nass! zerreißt sie einem das Herz.

Sobald ich mit meinem Protokoll fertig bin, verfügen wir uns zur Bahnstation, wo unser Zug, der aus einer Lokomotive und zwei Waggons besteht, schon abfahrbereit unter Dampf steht. Wir steigen in den für uns reservierten Wagen erster Klasse, die Tirailleurs quetschen sich in den offenen Viehwagen zu den Bauern, die wie jeden Morgen mit ihrem Gemüse, ihrer Hirse und ihren Hühnern und Ziegen die zwölf Kilometer flussabwärts nach Kayes zum Markt fahren. Dann fährt der Zug an, und wir ruckeln los, erst über einen Bach, dann zwischen ein paar Hügeln hindurch in eine Schlucht, die in die Ebene von Kayes führt.

Unser Wagen sieht aus wie bei Micky Maus und die Lokomotive wurde wahrscheinlich von Pfadfindern gebaut, und überhaupt ist die Bahn eine Schmalspurbahn, und Schmalspurbahnen sind nun mal wie Männer mit kleinen Penissen: Es fällt schwer, sie richtig ernst zu nehmen. Man kann sich hundertmal selbst ermahnen, dass es auf Länge und Breite nicht ankommt und die wirklich wichtigen Qualitäten keine Frage des Metermaßes sind – es kommt eben doch drauf an, allein schon wegen des Aussehens. Gewisse Dinge sehen im Großformat einfach besser aus als in Miniatur, findest Du nicht?

Der Bahnhof von Kayes ist ein Puppenstubenbahnhof mit glänzenden Signalen, akkuraten Rasenflächen und unkrautfreien Schotterbetten. Die Bauern im Viehwagen müssen mit ihren Hühnern und Ziegen sitzen bleiben, so sind die Regeln, bis wir ausgestiegen und hinter der Absperrung angelangt sind. Im Schatten des Vordachs wimmelt es von Menschen. Nackte Kinder mit runden Bäuchen, Frauen mit toten Augen, denen der Schmerz über ihre rituelle Verstümmelung unauslöschlich ins Gesicht geschrieben steht, und ihre Männer, die uns anschauen in hoffnungslosem Trotz, verschlossenem Stolz oder hündisch wedelnder Unterwürfigkeit.

Unter ihren stummen Blicken gehen wir über die Straße, wo wie ein mauretanisches Märchenschloss die Verwaltung der Chemins de Fer du Soudan Français aus der staubigen Steppe ragt, in deren Keller wir – jetzt kann ich es Dir erzählen, nun ist es wirklich egal – achthundertsiebzig Tonnen Gold eingelagert haben. Weitere zweihundert Tonnen haben wir bei der Zollverwaltung unten am Fluss gebunkert, hundertzwanzig Tonnen im Keller des Kreiskommandanten und achtzig Tonnen in der Pulverkammer der Kaserne. Überall kontrollieren wir die Siegel, inspizieren die Wachen und vergewissern uns, dass nichts von unserem nutzlosen Weichmetall gestohlen wurde. Die Prozession dauert zwei Stunden, dann nehmen wir den Mittagszug zurück nach Médine.

Während des trockenen Halbjahrs wird alle zwei Monate Inventur gemacht, dann brauchen wir für jede Station einen ganzen Tag. Erst werden die Siegel entfernt und die Türen geöffnet, und dann schleppen die Tirailleurs sämtliche Kisten ans Tageslicht und legen sie in der Steppe in Zehnerreihen nebeneinander, und dann nimmt mein Chef den Bestand auf, indem er auf die erste Kiste steigt, mit großen Schritten zur nächsten, zur übernächsten, zur überübernächsten Kiste schreitet und mit lauter Stimme die Zählung vornimmt. »Zwei Zentner!« – Schritt – »vier Zentner!« – Schritt – »sechs Zentner!« – Schritt – »acht Zentner!« … und die Tippmamsell sitzt an ihrem Klapptisch und macht Striche, und zum Schluss schreibt sie einen ordentlichen Rapport. Wenn schließlich alle Kisten abgeschritten sind, die zur Tarnung noch immer mit dem Schriftzug »Explosif« versehen sind, verschwindet alles wieder im Keller, die Türen werden versiegelt, und wir kehren zurück in die Offiziersmesse, wo wir uns von den Anstrengungen des Arbeitstags erholen.

Gelegentlich landet ein Flieger in der Steppe und zeigt einen Wisch, auf dem steht, dass er zwei oder drei Kisten abholen soll. Dann fragen wir nicht lange, sondern sperren einen Keller auf. Früher kamen die Boten aus Vichy, seit einiger Zeit aus London. Das Gold der Belgier mussten wir vor einiger Zeit herausrücken, um die Deutschen zufriedenzustellen, und das polnische Gold ebenfalls. Man darf gespannt sein, wer ihnen das zurückerstattet, wenn der Krieg erst mal vorbei ist.

Es ist nun schon die dritte Regenzeit, die ich hier verbringe, die Zeit vergeht rasch. Drei Monate noch, dann trocknet die Welt wieder, und ich kann mein altes Herrenfahrrad hervornehmen, das ich vorletztes Jahr auf dem Markt in Kayes gekauft habe und das mir während der Trockenzeit die Illusion von Freiheit vermittelt. Dann besuche ich die umliegenden Dörfer oder fahre die paar Kilometer flussaufwärts zum Elektrizitätswerk von Félou und gehe an den Stromschnellen Tiere beobachten mit den Brüdern Bonvin, die hier in klösterlicher Abgeschiedenheit ihren Dienst als Ingenieure tun und längst zur Erkenntnis gelangt sind, dass die hiesige Fauna unendlich interessanter ist als ihr Kraftwerk mit seinen Kanälen, Schleusen und Turbinen, das ja, wenn man seine Funktionsweise erst mal begriffen hat, eine recht einfältige Sache ist. Bei meinem letzten Besuch habe ich von ihnen erfahren, dass das berühmte Gelächter der Hyänen ein Unterwerfungsritual rangniedriger Individuen ist; sie betteln damit um einen Anteil an der Beute oder um Aufnahme in die Meute. Da kannst Du mal sehen, Gelächter ist die Waffe der Machtlosen. Macht lacht nicht.

 

Übrigens bin ich ziemlich ergraut. Als ich vor drei Jahren hier ankam, hatte ich ein paar weiße Strähnen, jetzt sind nur zwei oder drei dunkle Strähnen übrig geblieben. Ein bisschen abgenommen habe ich wohl auch, ich habe Beine und Brüste wie eine Zwölfjährige. Rennen und Radfahren kann ich auch wie eine Zwölfjährige und jawohl, das Gebiss ist noch vollständig, danke der Nachfrage.

Wie oft hast Du mir in der Zwischenzeit geschrieben, Léon – zehnmal, hundertmal? Es ist nie ein Brief von Dir hier angekommen, ich hatte Dich ja gewarnt. Überhaupt kommt rein gar nichts jemals hier an. Wir bekommen keine Löhne und keine Anweisungen mehr, keine Verpflegung und keine Munition, keine Zeitungen und keine Kleider. Ab und an kommt wie gesagt ein Flieger vorbei und erzählt wirres Zeug, das man nicht recht glauben kann, und vor ein paar Monaten hat der Kommandant drei junge Burschen verhaften lassen, die aus dem Nichts aufgetaucht waren, verdammt schlecht Französisch sprachen, sich darüber hinaus verdächtig für unseren Aussichtsturm interessierten und sich schließlich als Deutsche herausstellten; aber sonst sind wir allein – die Welt hat uns vergessen.

Umgekehrt beginnen auch wir die Welt zu vergessen. Nach einer Weile gewöhnt man sich an die Hitze und vermisst den Winter nicht mehr. Man isst Couscous, als wären’s Pommes Dauphinoises, und eines Nachts vor nicht allzu langer Zeit hatte ich zum ersten Mal einen Traum nicht in französischer Sprache, sondern auf Bambara.

Vom Krieg bekommen wir hier gar nichts mit. Die Baobab sind die Baobab und die Kakerlaken die Kakerlaken; die Gewehre setzen Rost an, weil sie nie abgefeuert werden, und die Tirailleurs sterben nicht im Kampf, sondern an Typhus und Malaria. Vielleicht wüssten wir schon gar nicht mehr, weshalb wir überhaupt hier sind, wenn nicht unser Funker Galiani aus den Kadavern mehrerer elektrotechnischer Geräte ein Kurzwellenradio gebastelt hätte, mit dem wir ganz ordentlich BBC London empfangen.

Ob ich auch Dich vergessen habe? Na, ein wenig schon – es hat ja keinen Sinn, sich hier Tag für Tag vor Sehnsucht zu verzehren. Und doch habe ich Dich, daran ändert sich nichts, immer bei mir. Es ist sonderbar: An meinen Vater und meine Mutter habe ich nur noch vage Erinnerungen, von den Gefährten meiner Kindheit weiß ich kaum mehr die Vornamen – aber Dich habe ich ganz lebhaft vor mir.

Wenn der Wind durch die Bäume braust, höre ich Deine Stimme, die mir schöne Sachen ins Ohr flüstert, und wenn das Rhinozeros im Senegal-Fluss gähnt, sehe ich Deine Mundwinkel, die stets freundlich aufwärts gekrümmt sind, auch wenn Du gar nicht lächeln willst; der Himmel hat das Blau Deiner Augen, und das dürre Gras ist blond wie Dein Haar – ich werde schon wieder lyrisch.

Die Liebe ist doch eine Anmaßung, nicht wahr? Besonders wenn sie schon ein Vierteljahrhundert dauert. Möchte zu gern wissen, was das ist. Eine hormonelle Dysfunktion zwecks Reproduktion, wie die Biologen behaupten? Seelentrost für kleine Mädchen, die ihren Papa nicht heiraten durften? Daseinszweck für Ungläubige? Das alles zusammen, mag sein. Aber auch mehr, das weiß ich.

Da wir schon beim Thema sind, kann ich Dir mitteilen, dass der Funker Galiani seit gut einem Jahr, wie man so sagt, mein Liebhaber ist. Du lachst? Ich auch. Das ist wie im Theater, nicht wahr? Wenn im ersten Akt ein Italiener mit Schnurrbart auftritt, muss er im dritten Akt die junge Heldin küssen. Allerdings bin ich nun schon eine Weile keine junge Heldin mehr, und auch Galiani ist als romantischer Herzensbrecher nicht die bestmögliche Besetzung mit seiner Spuckerei, seinen lauten Sprüchen, seinen kurzen Gliedmaßen und dem dichten schwarzen Körperhaar, das ihm aus der Uniform quillt.

Eines aber zeichnet ihn aus: Er ist anders als Du. Gerade deshalb, weil er ein infantiler Rohling ist, der jedem Weiberrock hinterherguckt, gerade weil er groteske Komplimente verteilt, eine dicke Goldkette um den Hals trägt und dauernd auf das Grab seiner Mutter schwört, obwohl er gar nicht weiß, wo das Grab seiner Mutter sich befindet – gerade deshalb ist er der Richtige. Er muss anders sein als Du, verstehst Du?

Es begann eines Abends vor gut einem Jahr im Raucherzimmer der Offiziersmesse. Ich hatte einen Anfall von Schwermut, wie das jedem anständigen Menschen hin und wieder passiert, und verbarg ihn vor den anderen, indem ich Witze riss und besonders laut lachte. Da stand Giuliano Galiani auf und ging hinter meinem Sessel zur Kommode, um sich ein weiteres Glas unseres selbstgebrauten Hirsebiers einzuschenken, und im Vorbeigehen legte er mir beiläufig, absichtslos und halb unbewusst, wie mir schien, die Hand auf die Schulter aus instinktivem Mitgefühl. Dafür war ich dankbar.

Als nach Mitternacht alles schlief, bin ich in sein Zimmer gegangen und habe mich wortlos zu ihm ins Bett gelegt. Er hat nichts gesagt und nichts gefragt und ist zur Seite gerutscht, als hätte er mich seit Langem erwartet oder als wäre er es seit vielen Jahren gewöhnt, dass ich mich zu ihm ins Bett lege. Und dann hat er mich genommen, wie ein Mann das tun muss, ohne große Worte, aber lustvoll und sicher, sanft und zielstrebig.

Giuliano führt uns jedes Mal sicher und stark ans Ziel, und hernach macht er mir keine Schwüre und keine Anträge, sondern gibt mich frei und lässt mich zurückschleichen auf mein Zimmer, und anderntags lässt er sich nichts anmerken. Er zwinkert mir nicht zu und setzt mir nicht nach, leistet sich keine Vertraulichkeiten und drängt mich nicht zu weiteren Besuchen, sondern gibt sich im Gegenteil mir gegenüber, wenn wir in Gesellschaft sind, betont gleichgültig, manchmal sogar abweisend. Wenn ich dann aber nach ein paar Tagen oder Wochen wieder zu ihm unter die Decke schlüpfe, rutscht er zur Seite und nimmt mich in Empfang, als wäre ich nie weg gewesen.

Er ist ein Gentleman in der Schale eines Grobians, das gefällt mir. Von der gegenteiligen Sorte gibt es genug. Natürlich wird es zwischen uns aus sein, sobald der Krieg vorbei ist, denn bei Tageslicht halte ich ihn nicht aus. Nachts ist er ein lebenskluger, warmherziger Mann, tagsüber ein oral fixiertes Kleinkind. Wenn er den Mund aufmacht, prahlt er mit den Brüsten seiner Gattin, die ihn irgendwo bei Nizza erwartet, quatscht über Milan und Juventus sowie Bugatti, Ferrari und Maserati, und zwischendurch flucht er, dass ihm der Staat verdammt nochmal das Kreuz der Ehrenlegion und eine lebenslange Rente schulde und er sich von dem Geld ein Boot an der Riviera kaufen und jeden Tag hinaus aufs Meer zum Fischen fahren werde.

 

Allzu lang wird es ja nun nicht mehr dauern, bis der Krieg vorbei ist. Sogar wir hier draußen im Busch haben von Stalingrad gehört, und seit die Alliierten in Marokko und Algerien gelandet sind, will jeder Sergeant, jeder Zollbeamte und jeder Gelegenheitsganove, der vorbeikommt, schon immer ein kleiner Jean Moulin gewesen sein. Ein paar Wochen oder Monate noch, sagt unser Kommandant, dann tragen wir unsere Kisten zur Bahn und fahren über Dakar und Marseille heim nach Paris.

Was ich tun werde, wenn ich an der Gare de Lyon aus dem Zug steige, weiß ich genau: Ich werde im Taxi an die Rue des Écoles fahren und an Deiner Tür klingeln. Und wenn Du dann noch da bist, falls Du und Deine Frau und Deine Kinder alle überlebt habt, werde ich eintreten und Euch reihum küssen. Wir werden uns freuen, dass wir noch leben, und dann werden wir zusammen spazieren gehen oder meinetwegen Kohlsuppe essen. Alles andere wird doch dann egal sein, nicht wahr?

 

Sei am Leben, Léon, sei glücklich und gesund und zärtlich geküsst – auf sehr bald!

 

Deine Louise