Kapitel 3

Die Weinflasche war halb leer, bis ich genug Courage aufgebracht hatte – nein, es lag nicht an der Courage, die brauchte ich nicht, ich hatte ja keine Angst. Erst nach der halben Flasche Wein war es mir wichtig genug, meinem Leben zu antworten, und erst da konnte ich mich aufraffen, die Nummer auf dem Brief zu wählen. Während ich auf die Verbindung wartete, holte ich mir einen Schokoriegel und biss hinein. Schon nach dem ersten Klingeln ging jemand dran, und mir blieb keine Zeit mehr zu kauen, geschweige denn zu schlucken.
»Oh, sorry«, sagte ich mit vollem Mund. »Ich hab Schokolade im Mund.«
»Kein Problem, Liebes«, antwortete eine muntere ältere Frauenstimme mit einem weichen amerikanischen Südstaatenakzent. Ich kaute hastig, schluckte und spülte mit einem großen Schluck Wein nach. Und musste erst mal würgen.
Dann räusperte ich mich. »Fertig.«
»Welche Sorte war es denn?«
»Galaxy.«
»Karamell oder Bubble?«
»Bubble.«
»Mmm, die ess ich am liebsten. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich habe einen Brief bekommen, wegen einem Termin am Montag. Lucy Silchester ist mein Name.«
»Ja, MsSilchester, ich hab Sie hier im System. Passt Ihnen neun Uhr früh?«
»Hm, na ja, genau deswegen rufe ich an. Ich kann an dem Tag nicht, ich muss arbeiten.«
Ich wartete darauf, dass die Frau sagen würde: Ach, wie dumm von uns, Sie an einem ganz normalen Arbeitstag einzuladen. Dann blasen wir die Sache doch lieber ab. Aber nichts dergleichen.
»Aha. Nun, ich denke, wir kriegen das schon irgendwie hin. Wann haben Sie denn Feierabend?«
»Um sechs.«
»Wie wäre es dann mit neunzehn Uhr?«
»Das geht leider nicht. Meine Freundin hat Geburtstag, und wir gehen mit ihr essen.«
»Und in der Mittagspause? Ginge ein Treffen zum Lunch?«
»Da muss ich mein Auto in die Werkstatt bringen.«
»Zusammenfassend könnte man also sagen, dass Sie keinen Termin machen können, weil Sie tagsüber arbeiten, Ihr Auto in der Mittagspause in die Werkstatt bringen und abends mit Freunden essen gehen.«
»Ja, genau.« Ich runzelte die Stirn. »Schreiben Sie das auf?«, fragte ich dann, weil ich ziemlich sicher war, im Hintergrund Tippgeräusche zu hören. Das störte mich – schließlich hatten sie mich einbestellt, ich hatte nicht um ein Treffen gebeten. Es war ihre Aufgabe, einen Termin zu finden.
»Wissen Sie, Schätzchen«, sagte die Frau in ihrem gedehnten Südstaatensingsang – ich konnte fast vor mir sehen, wie die warme Apple Pie von ihren Lippen rutschte und zischend auf der Tastatur landete, die Feuer fing, so dass meine Vorladung ein für alle Mal aus dem System gelöscht war. »Sie sind offenbar nicht mit diesem Verfahren vertraut.« Die Frau holte tief Luft, und ich nutzte die Gelegenheit, ehe die heißen Äpfel das nächste Mal tropften, um zu fragen: »Sind das sonst alle?«
Anscheinend hatte ich ihren Gedankengang unterbrochen.
»Wie bitte?«
»Wenn Sie mit jemandem Kontakt aufnehmen, also, wenn das Leben jemanden auffordert, sich mit ihm zu treffen«, erläuterte ich, »sind die Betreffenden dann normalerweise mit dem Verfahren vertraut?«
»Naaa jaaa«, erwiderte sie gedehnt. »Teils, teils. Kommt darauf an. Aber für die, die nicht Bescheid wissen, bin ich ja da. Würde es Ihnen die Sache denn erleichtern, wenn wir es so arrangieren, dass er zu Ihnen kommt? Wenn ich ihn darum bitte, ist er bestimmt bereit dazu.«
Ich ließ mir die Frage durch den Kopf gehen, dann fiel mir plötzlich etwas auf. »Er?«
Die Frau lachte leise. »Das überrascht die Leute auch meistens.«
»Ist es denn immer ein Er?«
»Nein, nicht immer, manchmal ist es auch eine Sie.«
»Und wann sind es Männer? Nach welchen Kriterien richtet sich das?«
»Oh, reiner Zufall, Schätzchen, da gibt es keine Kriterien. Wie bei der Geburt. Ist das ein Problem für Sie?«
Ich dachte nach, konnte aber nicht erkennen, warum es das sein sollte. »Nein.«
»Wann würde es Ihnen denn passen, dass er Sie besucht?« Sie tippte wieder auf ihrer Tastatur herum.
»Mich besuchen? Nein!«, schrie ich ins Telefon. MrPan zuckte zusammen, öffnete die Augen, sah sich irritiert um und schloss die Augen wieder. »Entschuldigung, ich wollte nicht schreien.« Ich beruhigte mich wieder. »Er kann nicht hierherkommen.«
»Aber ich dachte, es wäre kein Problem für Sie.«
»Ich meinte, es ist kein Problem für mich, dass es ein Mann ist. Ich hab gedacht, das hätten Sie mich gefragt.«
Sie lachte. »Aber warum sollte ich denn so was fragen?«
»Keine Ahnung. Bei der Wellness wird man das manchmal gefragt, wissen Sie, wenn man zum Beispiel nicht von einem Mann massiert werden möchte …«
»Also, ich garantiere Ihnen, dass er keinen einzigen Körperteil von Ihnen massieren wird«, kicherte die Frau.
Aus ihrem Mund klang Körperteil irgendwie schmutzig. Ich schauderte.
»Na ja, sagen Sie ihm einfach, es tut mir leid, aber er kann nicht zu mir kommen.« Ich sah mich in meinem jämmerlichen Studio um, in dem ich mich immer recht wohlgefühlt hatte. Es war ein Platz für mich ganz allein, mein persönlicher Rückzugsort. Nicht für Gäste, Liebhaber, Nachbarn, Familienangehörige oder auch nur die Feuerwehr – ich dachte daran, wie der Teppich Feuer gefangen hatte –, sondern nur für mich. Und MrPan. Ich kauerte in der Couchecke, ein paar Schritte hinter mir begann bereits mein Doppelbett. Rechts befand sich die Küchentheke mit der Arbeitsplatte, links waren die Fenster, und neben dem Bett ging es ins Badezimmer. Das war so ziemlich alles. Nicht dass es mir zu klein war und ich mich deswegen schämte. Nein, es war eher der Zustand meiner Wohnung, der mir etwas ausmachte. Der Boden war mein Schrank geworden. Ich stellte mir meine überall verstreuten Habseligkeiten gern als Trittsteine vor, mein gelber Ziegelstein-Zauberweg, etwas in dieser Art. Der Inhalt des Kleiderschranks meiner schnieken Penthouse-Wohnung von damals brauchte mehr Platz, als das ganze neue Studioapartment zu bieten hatte, und deshalb hatten meine Schuhe, von denen ich ohnehin zu viele besaß, nun eine Heimat auf dem Fensterbrett gefunden, meine Mäntel und längeren Kleider hingen auf Bügeln rechts und links an der Vorhangstange, und ich schob sie, je nach dem Stand von Sonne oder Mond, hin und her wie richtige Vorhänge. Den Teppich habe ich bereits beschrieben, die Couch beanspruchte den gesamten Wohnbereich vom Fensterbrett bis zur Küchenarbeitsplatte, so dass man von hinten über die Lehne klettern musste, weil man nicht um sie herumgehen konnte. In diesem Chaos konnte mir mein Leben unmöglich einen Besuch abstatten. Die Absurdität dieser Situation war mir allerdings durchaus bewusst.
»Mein Teppich wird gerade gereinigt«, sagte ich und seufzte, als wären die damit verbundenen Unannehmlichkeiten kaum zu ertragen. Eigentlich war es nicht mal eine richtige Lüge. Mein Teppich musste wirklich gereinigt werden, dringend sogar.
»Also, da kann ich Ihnen die Magic Carpet Cleaners empfehlen«, sagte die Frau vergnügt, als hätte sie flugs zur Werbepause umgeschaltet. »Mein Mann hat die Angewohnheit, seine Stiefel im Wohnzimmer zu putzen, und die Magic Carpet Cleaners kriegen die schwarze Schuhcreme immer problemlos wieder raus, unglaublich. Mein Mann schnarcht, und wenn ich nicht vor ihm einschlafe, dann kann ich es ganz vergessen, und dann schaue ich mir immer diese Werbesendungen an, und eines Nachts habe ich einen Spot gesehen, in dem ein Mann seine Schuhe auf einem weißen Teppich putzt, genau wie meiner, und so bin ich auf die Magic Carpet Cleaners gekommen. Wie für mich gemacht. Sofort war der Fleck weg, und ich hab sie gleich beauftragt. Und die arbeiten einwandfrei. Magic Carpet Cleaners, schreiben Sie es sich auf.«
Sie erzählte das so eindringlich, dass ich auf einmal den Wunsch verspürte, schwarze Schuhcreme zu kaufen, um diese magischen Teppichreiniger aus der Werbung zu testen, und ich kramte tatsächlich nach einem Stift, der allerdings gemäß dem Stiftgesetz von anno dazumal nirgends in Sichtweite war, wie immer, wenn ich ihn brauchte. Immerhin lag ein Edding da, und ich schaute mich nach einem Zettel um, aber da ich keinen finden konnte, schrieb ich auf den Teppich, was mir ganz angemessen erschien.
»Warum sagen Sie mir nicht einfach, wann Sie Zeit für ein Treffen haben, dann können wir uns das ganze Hin und Her sparen.«
Meine Mutter hatte für Samstag ein Familientreffen anberaumt.
»Schauen Sie, ich weiß, wie wichtig es ist, dass ich von meinem Leben eingeladen worden bin, deshalb würde ich mich sehr gern am Samstag mit ihm verabreden, obwohl ich eigentlich zu einem Familientreffen muss.«
»O Schätzchen, ich mache mir sofort eine Notiz, dass Sie bereit waren, auf einen Tag mit Ihren Lieben zu verzichten, nur um sich mit Ihrem Leben treffen zu können, aber ich denke, Sie sollten sich die Zeit für Ihre Familie unbedingt nehmen, denn wer weiß, wie lange Sie alle noch vollzählig zusammen sein werden. Wir machen dann einfach einen Termin für den nächsten Tag. Sonntag. Ist das nicht eine gute Lösung?«
Ich stöhnte. Aber nicht laut, nur innerlich – ein langgezogener gequälter Laut, der von einem gequälten Ort tief in meinem Innern ausging. Und so wurde der Termin vereinbart. Am Sonntag würden wir uns treffen, unsere Wege würden sich kreuzen und die Dinge sich von Grund auf ändern. Jedenfalls hatte ich in einem Zeitschriften-Interview mit einer Frau, die ihrem Leben begegnet war, gelesen, dass man mit so etwas rechnen musste. Für ungebildete Leserinnen, die sich so etwas nicht vorstellen konnten, gab es zur Veranschaulichung Vorher-Nachher-Fotos. Interessanterweise hatte die Frau, bevor sie ihrem Leben begegnet war, die Haare nicht gestylt, danach aber schon; vorher hatte sie weder Make-up noch Selbstbräuner aufgelegt, aber danach. Vorher hatte sie sich in Leggins und einem Mickymaus-T-Shirt unter grellem Licht fotografieren lassen, danach präsentierte sie sich in einem weich fallenden asymmetrischen Kleid in einer perfekt ausgeleuchteten Studio-Küche, wo eine große Schale kunstvoll arrangierter Zitronen und Limetten darauf hinwies, dass das Leben ihre Vorliebe für Zitrusfrüchte unterstützte. Vor ihrem Treffen mit dem Leben hatte die Frau eine Brille getragen, danach trug sie Kontaktlinsen. Ich fragte mich, was sie mehr verändert hatte – die Zeitschrift oder das Leben.
Nicht mal eine Woche, bis ich mein Leben treffen würde. Und mein Leben war ein Mann. Aber warum ich? Mein Leben war doch ganz in Ordnung. Es ging mir gut. Alles lief prima.
Dann streckte ich mich auf der Couch aus und studierte die Vorhangstange, um zu entscheiden, was ich anziehen sollte.