Kapitel 24

Aus dem Augenwinkel sah ich Jenna in den Container zurückhuschen. Möglicherweise war dies der glücklichste Augenblick meines Lebens, und wenn es nicht so lächerlich traurig gewesen wäre, hätte ich am liebsten triumphierend die Faust in die Luft gereckt. Blake sagte den anderen, sie könnten noch einen Moment lang plaudern, dann kam er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ich ließ mich in seine Umarmung sinken, mein Kopf schmiegte sich wie selbstverständlich mit der rechten Wange an seine Brust, er drückte mich an sich und küsste mich zärtlich auf den Kopf. Es war genau wie früher, genau wie immer, wir passten zueinander wie zwei Puzzleteile. Zwei Jahre, elf Monate und einundzwanzig Tage waren vergangen, seit er mir gesagt hatte, dass er mich verlassen wollte – nachdem wir uns noch in der Nacht davor geliebt hatten.

Auf einmal wurde ich wütend, denn ich erinnerte mich daran, wie er mir das Frühstück ans Bett gebracht, sich ans Fußende gesetzt und mir sein ganzes kompliziertes, turbulentes Inneres erklärt hatte. So verlegen war er gewesen, hatte sich so offensichtlich unwohl gefühlt und mir nicht in die Augen schauen können, dass ich einen Moment dachte, er wollte mir einen Heiratsantrag machen. Ich befürchtete, dass er mir einen Antrag machen würde, aber als er dann fertig war, hätte ich alles darum gegeben, wenn es so gewesen wäre. Und während ich dann im Bett saß, das schwere Tablett mit Kaffee und Brötchen auf den Beinen, hatte er vor dem Schrank gestanden, sich am Kopf gekratzt und überlegt, welche Klamotten er für sein neues Leben als Single einpacken sollte. Wenn es denn wirklich ein Leben als Single war, das er anstrebte, und er sich nicht hinter meinem Rücken schon in den ersten Drehwochen der Reisesendung mit Jenna getroffen hatte. Später an dem Tag, an dem mein Freund mich verlassen hatte, trank ich zu viel Wein, verlor meine Arbeitsstelle, meinen Führerschein und kurz darauf, als wir die Wohnung verkauften, auch mein Zuhause.

Und nun, zwei Jahre, elf Monate und einundzwanzig Tage später, drückte er mich an sich, und plötzlich war all die Liebe, die ich seither an jedem einzelnen Tag für ihn empfunden hatte, mit einem Schlag verflogen, und an ihre Stelle trat eine große Wut. Ich schlug die Augen auf und sah, dass mein Leben mich beobachtete, lächelte und sich allem Anschein nach über unsere Umarmung freute. Verwirrt über meinen plötzlichen Gefühlsumschwung machte ich mich von Blake los.

»Ich kann noch gar nicht glauben, dass du wirklich hier bist«, sagte er und hielt mich an den Oberarmen fest. »Du siehst toll aus, schön, dass du gekommen bist.« Er lachte, meine Wut ließ nach, und ich entspannte mich etwas unter seinem Blick.

»Blake, ich möchte dir einen speziellen Freund von mir vorstellen.«

Langsam und offenbar etwas verdutzt wandte er sich von mir ab. »Ja, klar. Hey, wie geht’s?« Er schüttelte meinem Leben eilig die Hand, als würde er es nur aus Gefälligkeit tun, und wandte sich dann rasch wieder mir zu. »Ich freue mich so, dass du da bist.«

»Ich auch«, lachte ich.

»Wie lange bleibst du denn?«

»Ich wollte nur kurz vorbeischauen und sehen, wie du den Traum verwirklicht hast.«

»Bleib doch und mach einen Absprung mit uns.«

»Okay, wir bleiben gern.«

Erneut verwirrte ihn das Wir, er schaute kurz zu meinem Leben, wieder zu mir und meinte: »Na klar, sicher.« Dann ging er zu seinem Platz zurück, stellte sich vor die Gruppe und begann, die Körperhaltung im freien Fall zu erklären. Wofür ich inzwischen Expertin war.

»Tut mir leid«, sagte ich zu meinem Leben, während ich ihm zuschaute, wie er die Positionen auf dem Boden nachmachte.

»Kein Problem«, erwiderte er. »Er scheint sich echt gefreut zu haben, dich zu sehen. Das ist doch großartig, Lucy.«

»Ja«, antwortete ich nervös. »Willst du wirklich springen?«

»Nein«, antwortete er und krümmte sich in die nächste Position. »Aber die Aussicht von hier gefällt mir.«

Erst jetzt bemerkte ich, dass direkt vor ihm die süße Blonde den Hintern in die Luft streckte, und verdrehte die Augen. »Komm doch wenigstens mit ins Flugzeug.«

»Auf gar keinen Fall.«

»Hast du auch Angst vorm Fliegen?«

»Nein, ich finde es nur schrecklich, mit astronomischer Geschwindigkeit auf die Erde herunterzurasen.«

»Du musst ja nicht springen. Ehrlich, komm mit uns rauf, ich möchte, dass du wenigstens mal zuschaust. Der Flug dauert nur zwanzig Minuten, die Aussicht ist toll, und dann kannst du auf traditionelle Weise zusammen mit dem Piloten wieder landen.«

Er blickte zum Himmel empor. »Na schön«, sagte er schließlich entschlossen.

Ich folgte Blake in die Flugzeughalle, um die Gerätschaften zu holen.

»Springt deine Freundin auch mit?«, fragte ich ihn und gab mir Mühe, möglichst locker und nicht neugierig zu klingen, obwohl in Wirklichkeit meine geistige Gesundheit und mein Lebensglück von der Antwort abhingen.

»Meine Freundin?« Er sah mich verwundert an. »Welche Freundin denn?«

Um ein Haar hätte ich einen Freudentanz aufgeführt. »Die Frau, die im anderen Container den Papierkram erledigt«, sagte ich. Ihren Namen wollte ich nicht aussprechen, weil ich Angst hatte, dass er mich für eine Stalkerin halten könnte – obwohl sie und ich uns gerade erst unterhalten hatten. »Die Frau, die mit dir arbeitet. Oh, da ist sie ja.«

Wir blickten auf und sahen, dass Jenna dabei war, die Gruppe an eine andere Stelle zu führen. Sie lächelte, sagte etwas, worauf alle, einschließlich meines Lebens, laut lachten. Irgendwie störte mich das.

»Ach, sie. Das ist Jen.«

Jen, nicht Jenna. Jetzt hasste ich sie noch mehr.

»Warum hast du gedacht, sie wäre meine Freundin?«

»Keine Ahnung. Sie kam mir vor wie dein Typ.«

»Jen? Meinst du?« Nachdenklich musterte er sie, was mir gar nicht gefiel, und ich beschloss, seine Aufmerksamkeit lieber wieder auf mich zu ziehen. Leider fiel mir keine Methode ein, außer mit den Fingern zu schnippen, und das wollte ich nicht. Schließlich stellte ich mich so vor ihn, dass ich ihm die Sicht auf Jenna versperrte, was immerhin so weit funktionierte, dass er wegsah und sich wieder der Ausrüstung widmete. Wir schwiegen. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht an Jenna dachte, und zerbrach mir verzweifelt den Kopf, womit ich ihn auf andere Gedanken bringen könnte, aber er kam mir zuvor.

»Ist er dein Freund?«

»Er? Nein!« Ich lachte. »Aber es ist eine echt seltsame Geschichte.« Ich musste ihm die Wahrheit sagen, ich freute mich darauf, ihm die Wahrheit zu sagen. »Eine Geschichte genau nach deinem Geschmack, du wirst sie mögen. Vor ein paar Wochen hab ich einen Brief von der Lebensagentur bekommen. Hast du schon mal davon gehört?«

»Ja.« Er hielt in der Arbeit inne und sah mich an. »Beim Zahnarzt hab ich mal einen Artikel über eine Frau gelesen, die sich mit ihrem Leben getroffen hat.«

»War da ein Bild von ihr, wie sie neben einer Schale mit Zitronen und Limetten steht?«, fragte ich aufgeregt.

»Weiß ich nicht mehr.«

»Na, wie auch immer – er ist mein Leben. Ist das nicht cool?«

Ich rechnete fest damit, dass er beeindruckt sein würde, weil er sich immer so für derartige Dinge interessiert und ein Buch nach dem anderen gelesen hatte, das sich mit der persönlichen Entwicklung, mit Selbstverwirklichung und der Suche nach dem eigenen Ich beschäftigte. Ständig hatte er über verschiedene religiöse Theorien geredet, über Reinkarnation, über das Leben nach dem Tod und über alle möglichen Methoden, mit denen man der menschlichen Seele auf die Spur kommen wollte, und ich war sicher, das hier würde ihn ultimativ interessieren. Das eigene Leben in Fleisch und Blut zu treffen – garantiert hätte er mir ein solch einschneidendes Erlebnis nie zugetraut. Ich hatte mit Leidenschaft in der Stimme gesprochen, um ihm klarzumachen, dass sein größtes Interesse jetzt auch meines war, dass ich eine ungeahnte Gedankentiefe erreicht hatte und dass er mich jetzt lieben konnte.

»Er ist dein Leben?«

»Ja.«

»Und warum ist er hier?«

Seinen Fragen nach zu urteilen, hätte man denken können, dass er sich zumindest ansatzweise für meine Geschichte interessierte, aber glaubt mir, das stimmte nicht. Es hörte sich viel eher an wie: »Dieser Kerl ist dein Leben?« Und: »Dann erklär mir bitte noch mal genau, was er hier zu suchen hat.«

Ich schluckte und wollte sofort zurückrudern, aber es ging nicht, ich hätte es respektlos gefunden, mein Leben nicht angemessen zu verteidigen. Immerhin hatte mein Leben mich hierhergefahren und sich auf mein »Ich will zurück zu Blake«-Abenteuer eingelassen! »Die Idee ist, dass wir Zeit zusammen verbringen und uns besser kennenlernen«, begann ich zu erklären. »Wenn Leute mit ihrer Arbeit und ihren Freunden und anderen Ablenkungen zu beschäftigt sind, dann verlieren sie manchmal den Blick für die wichtigen Dinge. Anscheinend war das bei mir der Fall.« Ich zuckte die Achseln. »Aber jetzt nicht mehr. Er ist immer da, wenn ich mich umdrehe. Und er ist sehr lustig. Du wirst ihn mögen.«

Blake nickte kurz und wandte sich wieder der Ausrüstung zu. »Weißt du, dass ich ein Kochbuch rausbringen werde?«

Ein abrupter Themenwechsel, aber ich machte mit. »Echt? Das ist ja toll.«

»Ja«, strahlte er. »Das hat sich aus meiner Sendung ergeben – hast du sie eigentlich gesehen? Lucy, das ist der Wahnsinn, das Beste, was ich je gemacht habe. Wir haben so viel von der Welt gesehen, sind mit so vielen Kulturen in Kontakt gekommen, und allein die Geschmäcker und Gerüche und Geräusche waren so inspirierend, dass ich sie jedes Mal, wenn ich heimgekommen bin, sofort nachmachen wollte.«

»Großartig, du hast schon immer gern gekocht.«

»Ja, und ich koche sie nicht nur nach, ich gebe ihnen dazu noch meine ganz persönliche Note, und genau das ist die Idee des Kochbuchs. Die Blake-Note, der Blake-Geschmack, so was in der Art. Ich glaube, das wird der Titel. Der Blake-Geschmack. Der Verlag ist begeistert und meint, man könnte es vielleicht sogar fürs Fernsehen aufbereiten, dann hätte ich noch eine Sendung neben Ich wollte, du wärst hier, einfach auf der Grundlage dessen, was ich esse, wenn ich reise.« Sein Gesicht leuchtete, er redete wie ein Wasserfall, er war so begeistert, dass die Worte sich beinahe überstürzten. Ich beobachtete ihn und war hingerissen, dass ich ihn vor mir hatte, dass er sich kein bisschen verändert hatte, dass er noch genauso leidenschaftlich, dynamisch und schön war wie immer. »Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn du ein paar von meinen Rezepten ausprobieren würdest, Lucy.«

»Wow, danke, das würde ich natürlich gern«, strahlte ich.

»Ehrlich?«

»Na klar, Blake, und wie. Ich würde selbst gern wieder öfter kochen. Irgendwie hab ich damit aufgehört, hab’s mir wohl abgewöhnt. Ich bin in eine kleinere Wohnung umgezogen, und da ist die Küche nicht so toll wie die, die wir …«

»O Mann, unsere Küche!« Er schüttelte den Kopf. »Die war nicht schlecht, aber du solltest mal die Küche sehen, die ich jetzt habe. Ich benutze diesen super Herd, mit Multifunktions-Edelstahl-PyroKlean-Ofen. Der hat vierzig verschiedene Programme für frische und tiefgefrorene Lebensmittel – man gibt einfach das Gewicht der Sachen ein, und der Herd wählt automatisch die beste Einstellung und kontrolliert dann …«

»… die Garzeit und stellt sich automatisch ab, wenn alles fertig ist, wobei er die Restwärme nutzt, um Energie zu sparen«, fiel ich ihm ins Wort.

Ihm blieb der Mund offen stehen. »Woher weißt du das?«

»Weil ich es geschrieben habe«, antwortete ich stolz.

»Das verstehe ich nicht – du hast es geschrieben?«

»Ja, die Gebrauchsanweisung. Ich hab einen Job bei Mantic, das heißt, bis gestern hab ich da gearbeitet und die Anweisungen übersetzt.«

Er starrte mich weiter an, mit einem seltsamen Blick, den ich nicht von ihm kannte, und ich drehte mich sicherheitshalber um, weil ich mich vergewissern wollte, ob er nicht jemand ganz anderen ansah.

»Was ist los?«

»Was ist mit Quinn & Downing passiert?«

»Da arbeite ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr«, antwortete ich lachend und fügte etwas ernster, aber möglichst locker hinzu: »Hat Adam dir denn nichts von mir erzählt?« Es war mein Ernst – ich war immer sicher gewesen, Blake würde alles erfahren, was ich machte. Die ganze Zeit hatte ich in dem Bewusstsein meine Entscheidungen getroffen und meine Lügen erfunden, dass sie irgendwie bei Blake landeten, und nun wusste er nicht mal das, was gleich am ersten Tag passiert war, an dem Tag, als er mich verlassen und ich meinen Job verloren hatte.

»Adam? Nein«, sagte er verwirrt, aber dann lächelte er, und sein Gesicht hellte sich auf. »Aber ich erzähl dir jetzt mal von dieser marokkanischen Pastete …«

»Adam glaubt, dass ich dich betrogen habe«, unterbrach ich ihn. So kompliziert ich auch manchmal dachte und so detailliert ich alles plante – das zu sagen, hatte ich ehrlich nicht vorgehabt, es kam einfach so aus meinem Mund.

»Was?« Er hatte über Safran reden wollen, und ich hatte ihm eine ganze Ladung Sand ins Getriebe gestreut.

»Das glauben alle.« Ich bemühte mich, das Zittern in meiner Stimme zu verscheuchen, kein nervöses Zittern, sondern ein wütendes, denn die Wut baute sich wieder auf, und ich musste mich anstrengen, sie zu unterdrücken.

»Blake«, ertönte in diesem Moment eine Stimme, und ein Mann streckte den Kopf zur Tür herein. »Wir müssen los.«

»Ich komme«, sagte Blake und packte rasch die Ausrüstung zusammen. »Gehen wir.« Er grinste, meine Wut verpuffte, und ich merkte, wie sich ein verstrahltes Lächeln auf meinem Gesicht breitmachte.

 

 

Im Flugzeug war Platz für sechs Personen, also drei Tandems. Harry war an Blake geschnallt und die fruchtbare junge Dame, die Babys von Blake bekommen wollte, an Jeremy, den zweiten Tandem-Master, dessen rechtzeitiges Auftauchen mich davor bewahrt hatte, Blake im Ausrüstungsraum an die Gurgel zu gehen. Sie starrte Harry eifersüchtig an, weil sie die Niete gezogen hatte. Mein Leben trug einen orangefarbenen Overall und eine Schutzbrille, saß mit dem Rücken zu mir zwischen meinen Beinen auf dem Boden, drehte ab und an den Kopf und warf mir so ärgerliche wie ängstliche Blicke zu.

Als wir starteten, zischte er: »›Die Aussicht ist toll.‹«

»Ja, wunderschön«, gab ich mit einem ruhigen Lächeln zurück.

»›Und du kannst mit dem Piloten landen‹«, zitierte er mich wütend weiter. »Du hast mich reingelegt. Du hast mich angelogen. Alles nur Lüge«, fügte er giftig hinzu.

»Du musst nicht abspringen«, wiederholte ich mein Versprechen und versuchte, ganz entspannt zu bleiben. Aber in Wirklichkeit machte ich mir Sorgen. Ich konnte es mir nicht leisten, dass mein Leben jetzt irgendeine gigantische Wahrheit offenbarte. Nicht hier, nicht jetzt, nicht solange Blake so nahe war, dass unsere Füße sich berührten.

»Warum bin ich dann mit einer Nabelschnur an dir festgebunden?«

»Du kannst nachher so tun, als hättest du eine Panikattacke. Dann bleiben wir einfach im Flugzeug. Ich wollte das hier doch nur so gern noch einmal mit ihm machen.«

»So tun, als hätte ich eine Panikattacke? Die krieg ich in echt«, entgegnete er, schaute wieder nach vorn und ignorierte mich den Rest des Flugs. Harry sah völlig verschreckt aus, er war grün im Gesicht und zitterte. Unsere Blicke begegneten sich.

»Es wird dir gefallen. Stell dir einfach Declan ohne Augenbrauen vor.« Er lächelte, schloss die Augen und atmete tief. Als wir starteten und uns in den Himmel emporschwangen, sahen Blake und ich uns an. Wir konnten das Lächeln nicht unterdrücken, und er schüttelte immer wieder den Kopf, fassungslos, dass ich wirklich da war. Wir gingen in den zwanzigminütigen Steigflug auf 4000 Meter, dann waren wir endlich bereit. Als Blake die Tür öffnete, fegte ein heftiger Windstoß herein, und auf einmal sahen wir wie einen Flickenteppich die Landschaft unter uns liegen.

Mein Leben stieß einen Schwall von Wörtern aus, die ich nicht wiederholen möchte.

»Ladys first«, rief Blake und trat zur Seite, um mein Leben und mich vorzulassen.

»Nein, nein, macht ruhig«, entgegnete ich fest. »Wir springen als Letzte.« Ich versuchte, Blake Zeichen zu geben, dass mein Leben Angst hatte, aber mein Leben hatte sich wieder zu mir umgedreht und ließ mich nicht aus den Augen.

»Nein, ich bestehe darauf«, sagte Blake. »Wie in alten Zeiten.«

»Ich würde ja gern, aber … er ist ein bisschen nervös. Ich glaube, es wäre besser, wenn wir den anderen erst mal zuschauen. Okay?«

Mein Leben kochte vor Wut. »Ich bin überhaupt nicht nervös. Komm, lass uns springen.« Und schon rutschte er auf dem Hintern in Richtung Tür und zog mich mit sich. Ich war total entgeistert, wollte aber nicht mit ihm diskutieren, also kontrollierte ich kurz, ob Tandemgurt und Fallschirm ordentlich befestigt waren, und folgte ihm. Unglaublich, dass mein Leben auf einmal so entschlossen war; ich hatte fest damit gerechnet, dass wir im Flugzeug bleiben und mit dem Piloten landen würden. Ich war enttäuscht gewesen, aber jetzt war ich bereit zu springen, und das Adrenalin strömte durch meine Adern.

»Fertig?«, rief ich.

»Ich hasse dich!«, antwortete er mit schriller Stimme.

Ich machte den Countdown. Bei drei waren wir draußen, und dann stürzten wir im freien Fall durch die Luft, wobei wir in gerade mal zehn Sekunden eine Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern erreichten. Mein Leben schrie auf, ein langer lauter Schreckensschrei, aber ich fühlte mich auf einmal unglaublich lebendig, jauchzte und jubelte über ihm und hoffte, das würde ihm zeigen, dass alles nach Plan lief und dass es normal war, wenn wir hier herumwirbelten wie Schneeflocken, ohne zu wissen, wohin wir unterwegs waren. Dann kamen wir in die Position für den freien Fall und segelten und fielen insgesamt fünfundzwanzig Sekunden wie im Rausch, den Wind in den Ohren, in den Haaren, überall, laut und kalt und wunderbar angsterregend. Als wir eine Höhe von 1500 Metern erreichten, löste ich den Hauptfallschirm, und als er sich geöffnet hatte, war plötzlich Schluss mit dem Wahnsinn und dem Sausen des Winds in den Ohren. Alles wurde still und war einfach nur noch herrlich und wunderbar.

»O mein Gott«, sagte mein Leben, atemlos und heiser nach seinem Geschrei.

»Alles okay bei dir?«

»Okay? Ich hätte fast eine Herzattacke gekriegt. Aber das jetzt« – er schaute sich um –, »das ist sensationell.«

»Siehst du«, sagte ich, überglücklich, diesen Augenblick mit meinem Leben teilen zu können. Ich war so glücklich, dass ich fast das Gefühl hatte zu platzen. Zu zweit schwebten wir durch die Luft, die freiesten Seelen des Universums.

»Ich hab es nicht ernst gemeint, dass ich dich hasse.«

»Gut. Weil ich dich nämlich liebe«, sagte ich, ohne zu wissen, woher diese Erkenntnis plötzlich kam.

Er drehte sich zu mir um. »Ich liebe dich auch, Lucy«, strahlte er. »Aber jetzt halt den Mund, du verdirbst mir sonst alles.«

Ich lachte. »Möchtest du steuern?«

Mein Leben übernahm die Kontrolle, lenkte den Fallschirm, und wir segelten über den Himmel wie Vögel, nahmen die Welt in uns auf, glücklich, lebendig, vereint und vollkommen. Ein perfekter Glücksmoment. Vier Minuten dauerte der Flug, und zum Schluss übernahm ich wieder das Steuer für die Landung. Wir nahmen unsere Position ein, Beine und Füße nach oben, Knie geschlossen. Ich bremste den Fallschirm, und schon landeten wir sanft auf der Erde.

Mein Leben ließ sich auf den Boden fallen und lachte laut vor Glück.

Als ich ihn vom Fallschirm und von mir befreit hatte, sprang er auf und rannte im Kreis herum, als wäre er betrunken, noch immer jauchzend und lachend.

»Das war ja der absolute Wahnsinn! Ich will noch mal, lass uns gleich noch mal, können wir noch mal?«

Ich lachte. »Ich kann es kaum glauben, dass du gesprungen bist!«

»Hätte ich mich vor ihm vielleicht schwach zeigen sollen? Machst du Witze?«

»Wen meinst du denn?«

»Blake natürlich, wen denn sonst? Ich will nicht, dass dieser Idiot mitkriegt, wie ich vor irgendwas kneife. Er soll wissen, dass es mir egal ist, was er von mir hält, und dass ich härter bin, als er denkt.«

»Was? Ich versteh dich nicht. Warum versuchst du, mit ihm zu konkurrieren?«

»Ich konkurriere überhaupt nicht mit ihm, Lucy. Das ist sein Problem. War es schon immer.«

»Was redest du …?«

»Ach egal, vergiss es«, fiel er mir ins Wort, lächelte wieder und fing wieder an herumzutanzen. »Juhuuuuuuu!«

Natürlich freute ich mich, dass mein Leben so glücklich war, aber die Ursachen verwirrten mich so, dass ich ihn mit gemischten Gefühlen beobachtete. Mein Leben und ich sollten gefühlsmäßig doch auf der gleichen Wellenlänge liegen, damit meine wiederentdeckte Liebe zu Blake gut und richtig war. Ich wünschte mir, dass wir alle gut miteinander auskamen, nicht dass mein Leben sich damit beschäftigte, möglichst immer eine Nasenlänge voraus zu sein. War das womöglich der ganz normale Lauf der Dinge? Blake hatte mir weh getan, er hatte mein Leben verletzt, und obwohl ich mich auf dem besten Weg befand, ihm zu verzeihen, und auch meine eigene Verantwortung für das Scheitern unserer Beziehung sah, brauchte mein Leben anscheinend noch mehr Zeit. Aber was hatte das zu bedeuten? Was hieß das für Blake und mich? Normalerweise war ich nach dem Fallschirmspringen immer in Hochstimmung, genau wie mein Leben jetzt, und alles schien sich zu klären, aber auf einmal waren meine Kopfschmerzen wieder da, die ich immer bekam, wenn ich mir den Kopf zerbrach über Themen, die ich eigentlich lieber unter den abgewetzten Teppich meiner Gedanken kehren wollte. In diesem Moment sahen wir einen Jeep über die Wiese auf uns zufahren. Am Steuer saß eine Frau, und als das Auto näher kam, erkannte ich Jenna. Mein Herz zog sich zusammen wie früher, wenn ich an sie gedacht hatte, obwohl ich inzwischen wusste, dass sie und Blake keine Beziehung hatten.

»Du siehst aus, als wolltest du jemanden umbringen«, sagte mein Leben atemlos vom vielen glücklichen Herumschreien.

»Tja, komisch«, sagte ich, während ich zusah, wie Jenna immer näher kam, beide Hände fest am Steuer, den Blick unverwandt auf mich gerichtet. Auf einmal fragte ich mich, ob sie rechtzeitig anhalten würde.

»Sachte, Lucy, sie ist ein nettes Mädchen. Außerdem hast du doch gesagt, dass sie nicht zusammen sind.«

»Sind sie auch nicht.«

»Warum hasst du sie dann immer noch so?«

»Aus Gewohnheit wahrscheinlich.«

»Genau wie du ihn liebst«, sagte mein Leben und blickte hinauf zum Himmel. Dann ließ er mich stehen, und ich beobachtete allein, wie Blake herabschwebte, ein Engel mit schwellenden Muskeln, während ich über die Bombe nachdachte, die mein Leben soeben abgeworfen hatte.