Kapitel 23

In dieser Nacht schlief ich nicht sehr viel. Zwar schnarchte mein Leben nicht, aber es verfolgte mich trotzdem mit tausend Fragen und Ängsten und überhaupt nicht hilfreichen Gedanken. Als es Zeit war aufzustehen, war ich zu dem Schluss gekommen, dass, wenn es heute nicht gut lief, alle Vorwürfe meines Vaters gerechtfertigt waren. Nur wenn ich Blake zurückbekam, hatte ich die Chance, mein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Als ich ihn verloren hatte, war ich aus der Bahn geraten, folglich würde ich meinen Weg wiederfinden, wenn er zu mir zurückkam. Obwohl Blake keinem festen Job nachgegangen war, hatte mein Vater ihn immer gemocht, und so fremd mir diese Vorstellung jetzt war, hatte mein Vater tatsächlich an einigen Dinner-Partys in unserer umgebauten Brotfabrik teilgenommen. Ihm gefiel Blakes zupackende Art, seine Einstellung, seine Energie, er wusste, dass Blake sich immer für etwas interessierte und alles dafür tat, um erfolgreich zu sein. Es war ihm sympathisch, dass sich Blake Ziele setzte, dass er auf Berge stieg, Marathon lief, sich ständig persönliche körperliche Höchstleistungen abforderte. Und obwohl es ihm natürlich nicht passte, dass ich nicht Ärztin oder Anwältin oder Kernphysikerin geworden war, mochte er meine Einstellung früher auch. Aber dann hatte ich mich verändert, und die Dinge, die mein Vater an mir liebte, waren verschwunden, und so verschwand auch seine Liebe.

Obwohl ich den größten Teil der Nacht wach gewesen war, stand ich als Letzte auf, duschte und ging dann den Korridor hinunter zum Frühstücksraum, immer den Stimmen nach. Hinten im Haus, in einem hellen, luftigen Wintergarten saß mein Leben zusammen mit vier anderen Leuten an einem Tisch, vor sich einen reichlich beladenen Teller.

»Morgen«, sagte er und sah zu mir auf, ehe er sich eine Ladung Baked Beans in den Mund schaufelte.

»Hoppla«, sagte ich, als ich ihn sah, und blieb wie angewurzelt stehen.

Ehe er sich wieder über seine Riesenportion hermachte, sah er die anderen am Tisch etwas verlegen an.

Ich setzte mich neben ihn und wünschte den anderen einen guten Morgen. Es waren drei Jungs und ein Mädchen im College-Alter, bestimmt nicht älter als zwanzig und nicht jünger als siebzehn, die Surfer-Variante, die drei Jungs mit langen, das Mädchen mit kurzen Haaren. Sie quatschten in rasender Geschwindigkeit und nahmen sich ziemlich handfest auf den Arm. Wahrscheinlich lagen gerade mal zehn Jahre zwischen uns, aber ich fühlte mich, als lebte ich auf einem anderen Planeten.

Ich beugte mich dicht zu meinem Leben, damit sie mich nicht hören konnten. »Was zur Hölle ist denn mit deinem Gesicht los?«

Genervt sah er mich an und stopfte sich den nächsten Bissen in den Mund. »Es ist nicht nur mein Gesicht, es ist mein ganzer Körper.« Er zog den Kragen seines neuen T-Shirts ein Stück nach unten, und ich sah auch hier die roten Flecken. »Ausschlag«, sagte er lakonisch.

»Kann man wohl sagen.«

»Das ist der Stress. Du hast dich die ganze Nacht rumgewälzt und dir eingeredet, dass alles in deiner Welt von diesem Moment abhängt.«

»Wow.« Ich studierte sein Gesicht. Da war nicht nur der Ausschlag, sondern auch immer noch der Mega-Pickel auf seinem Kinn, der entstanden war, als Don nicht angerufen hatte. »Ein paar von den roten Flecken sind schon fast lila.«

»Denkst du, das weiß ich nicht?«, zischte er. Einen Moment wurde sein Gesicht noch röter, als wäre er dabei zu ersticken.

»Und alles wegen Blake?«

»Blake, dein Job, dein Vater, deine ganze Familie …«

»Don?«

»Don ist der einzige Mensch, der mich ein bisschen aufheitert, und weil du dich von ihm getrennt hast, fühle ich mich noch mieser.«

»Ich hab mich nicht von ihm getrennt.« Damit wollte ich darauf hinweisen, dass ich nie mit Don zusammen gewesen war, aber mein Leben verstand mich falsch.

»Nein, du hast ihn nur für eine Weile auf Warteschleife gelegt, damit du in Ruhe eine andere Leitung überprüfen kannst, als wärst du eine Fünfziger-Jahre-Telefonistin.«

Ich runzelte die Stirn. »Na gut, dann date du halt Don, wenn es dich glücklich macht.«

»Mach ich auch«, blaffte er. »Heute Abend. Also beeil dich mit Blake, denn ich bleib hier nicht noch eine Nacht.«

»Mach dir keine Sorgen, ich kann versuchen, den Ausschlag mit Puder abzudecken.«

»Es geht nicht um den Ausschlag«, zischte er erneut, und sein Gesicht wurde wieder dunkelrot.

Jetzt ähnelte er wieder mehr dem Leben, das ich am ersten Tag kennengelernt hatte – tragischerweise bewegten wir uns also rückwärts. In diesem Moment kam die Frau des Hauses und fragte mich, was ich frühstücken wollte. Ich beäugte den Teller meines Lebens. »Irgendwas Leichtes«, sagte ich dann kritisch. »Müsli, bitte.«

»Aus der Mikrowelle?«, fragte mein Leben laut.

»Ja, ja, ich werde irgendwann schon wieder anfangen zu kochen«, erwiderte ich defensiv.

Er schnaubte. »Alle paar Tage hab ich deinen Kühlschrank mit frischem Obst und Gemüse aufgefüllt, aber das ist alles vergammelt, und ich musste es wegwerfen.«

»Echt?«

»Dir wäre es nie aufgefallen, du öffnest ja immer nur den Gefrierteil.«

»Fahrt ihr auch zum Adventure-Center?«, fragte das Mädchen uns in diesem Moment.

Mein Leben ignorierte sie äußerst unhöflich. Offensichtlich hatte er keine Lust, mit jemandem zu reden, außer wenn er mich quälen konnte.

»Ja«, lächelte ich und freute mich für Blake. »Ihr auch?«

»Schon zum zweiten Mal diesen Monat, aber Harry ist zum ersten Mal dabei.«

Mir war sofort klar, welcher der Jungs Harry war, denn der Blonde neben mir wurde knallrot, während die anderen applaudierten, ihn schubsten, ihm durch die Haare wuschelten und dafür sorgten, dass er noch zerzauster aussah.

»Harry hat Höhenangst«, erklärte mir das Mädchen mit einem strahlenden Lächeln. »Wenn er es schafft zu springen, dann rasiert Declan sich die Augenbrauen.«

»Und die Eier«, verkündete der Rothaarige, und jetzt war es Declan, der ein bisschen verlegen dreinsah, während die anderen wieder grölten.

»Macht ihr einen Kurs?«, fragte ich, natürlich Harry.

»Nein, bisher hat seine Mom ihm immer die Eier rasiert, also weiß er genau, was er zu tun hat«, entgegnete der freche Rotschopf, und alle lachten, diesmal auch Harry.

»Wir machen Tandemspringen«, antwortete das Mädchen.

»Was ist das denn?«, fragte mein Leben und biss in ein Schokocroissant. Ich starrte ihn wütend an, aber er ließ sich nicht beeindrucken.

»Beim Tandemspringen hängt man mit einem erfahrenen Fallschirmspringer am gleichen Fallschirm«, erklärte ich. »Man braucht nur zwanzig Minuten Einweisung vorher, das reicht.«

Mein Leben verzog das Gesicht. »Welcher Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, macht denn so was?«

Harry sah aus, als würde er sich insgeheim die gleiche Frage stellen, sagte aber nichts.

»Wir haben das die ganze Zeit gemacht.« Bei der Erinnerung daran, wie ich mit Blake zur Erde gerast war und wir bei der Landung schon dem nächsten Sprung entgegengefiebert hatten, lächelte ich unwillkürlich.

»Wie romantisch«, sagte mein Leben sarkastisch. »Schade, dass der Fallschirm nicht geklemmt hat.« Beherzt griff er in den Korb nach einem Schokoladenmuffin. Wieder war mein strafender Blick umsonst. »Na und? Ich bin deprimiert.«

»Tja, dann komm wieder besser drauf, denn du wirst jedes bisschen Energie brauchen, um mir zu helfen.«

»Wir können euch mitnehmen, wenn ihr wollt«, bot das Mädchen an. »Wir haben das Wohnmobil von Declans Mum. Da ist genug Platz.«

»Super, danke.« Sofort hellte sich meine Stimmung auf.

Die Fahrt vom B&B zum Adventure-Center dauerte fünf Minuten, und alle paar Sekunden drehte sich mein Magen um, und das nicht nur, weil ich auf einem Stapel Surfbretter thronte, der ständig umzufallen drohte, obwohl Declan äußerst vorsichtig fuhr – den Anfeuerungen der anderen zum Trotz. Ich fühlte mich einfach unbehaglich.

Harry kauerte mit bleichem Gesicht neben mir.

»Das wird schon klappen. Wenn irgendwas passiert, dann dass die Höhenangst verschwindet.«

Er sah mich zweifelnd an, und während die anderen damit beschäftigt waren, auf Declan rumzuhacken, weil er fahren würde wie ein alter Mann, meinte er leise: »Was, wenn ich in der Luft bin und kotzen muss?«

»Das wird nicht passieren«, entgegnete ich zuversichtlich. »Beim Fallschirmspringen dreht sich einem nicht der Magen um. Es ist eine gleichmäßige Bewegung, überhaupt nicht zu vergleichen mit dem Gefühl, wenn man über eine Bodenwelle oder einen Hügel fährt.«

Er nickte, aber einen Augenblick später fragte er: »Was, wenn der Fallschirm nicht aufgeht?«

»Die gehen immer auf, und außerdem gibt es zwei davon, und beide werden von bestens ausgebildeten Leuten gewissenhaft kontrolliert. Ich kenne den Mann, der das Center leitet, und er ist perfekt, ich meine, er ist Perfektionist.«

Jetzt sah Harry ein kleines bisschen erleichtert aus, aber noch längt nicht völlig getröstet. »Wie gut kennen Sie ihn denn?«

Ich dachte kurz nach und antwortete dann mit fester Stimme: »Ich hab ihn drei Jahre nicht gesehen, aber ich liebe ihn.«

Harry sah mich an, als wäre ich irre, und murmelte: »Na ja, in drei Jahren kann ein Mensch sich ganz schön verändern.«

Dann wandte er sich den anderen beiden zu, die so taten, als würden sie schnarchen, während Declan vorsichtig die Kurven nahm, und ich konnte über seine Bemerkung nachdenken.

»Tja, das hat den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte mein Leben. Er saß mir gegenüber auf einem halbaufgeblasenen Bananaboat und sah trotz seiner schlechten Laune in seiner neuen Jeans, Turnschuhen und Polohemd ziemlich gut aus. Zwar war sein Gesicht immer noch nicht normal, aber der Puder hatte die roten Flecken zumindest ein bisschen abgedeckt. Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen.

»Raus mit der Sprache. Was ist?«

»Ach, nichts.«

»Sag es mir.«

»Na ja, der arme kleine Harry hat furchtbar Angst, ins Flugzeug zu steigen, und du hast ihm gerade dein Wort gegeben, dass Blake ›perfekt‹ ist.« Er verdrehte die Augen.

»Und? Blake achtet akribisch auf die Sicherheit seiner Kunden.«

»Und er ist ein Lügner. Schade, dass du das Harry nicht gesagt hast.«

Den Rest des Weges ignorierte ich ihn.

Das Adventure-Center war ein recht bescheidenes Gebäude.

»Das ist ja grade mal ein Dixi-Klo«, sagte mein Leben, als er ausstieg und sich zu mir gesellte.

»Von wegen Dixi-Klo«, entgegnete ich ärgerlich und betrachtete Blakes neues Geschäft. Es war eher ein Baucontainer. Genaugenommen zwei. Einer für Registrierung und Einchecken, der andere für Toiletten und Umkleidekabinen.

»Sieht so dein Traum aus?«

Natürlich nicht. Aber ich achtete nicht auf mein Leben. Wenigstens hatte Blake im Gegensatz zu den meisten Leuten seinen Wunsch verwirklicht. Im Gegensatz zu mir. Ich war immer noch nervös, aber inzwischen hauptsächlich aufgeregt. Das angehaltene Bild von Blake und Jenna beim Anstoßen hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt, und nun trieb es mich vorwärts. Deshalb war ich hier, ich würde die beiden auseinanderbringen, ich würde Blake dazu bringen, mich wieder zu lieben. In den zwei Jahren, elf Monaten und einundzwanzig Tagen, die seit unserer Trennung vergangen waren, hatte ich mich verändert, und ich wollte, dass er das sah. So folgte ich den aufgeregten Phantastischen Vier – oder genauer gesagt den abenteuerlustigen Dreien und dem angstgelähmten Harry – in den Container. Es gab einen Automaten mit Chips und Süßigkeiten, einen für Tee und Kaffee, und an der Wand waren Stühle aufgereiht.

»Das ist gut, vielleicht kann ich einen Arzt nach meinem Ausschlag sehen lassen, wenn ich schon mal hier bin«, begann mein Leben wieder zu spotten.

An den Wänden hingen gerahmte Fotos von Blake, eins neben dem anderen, einige stark vergrößert. Sie stammten alle aus seiner Fernsehsendung, und auf den meisten sah er aus wie Ethan Hunt aus Mission Impossible, Standbilder von muskelschwellenden Action-Sequenzen, Bizeps, Waschbrettbauch, knackige Pobacken, Blake beim Absprung aus dem Flugzeug, Blake beim Wildwasserkanufahren, Blake beim Klettern am Kilimandscharo, Blake beim Bergsteigen in den Rocky Mountains (mit deutlich zur Schau gestellten Muskelpaketen), Blake beim Duschen unter einem Wasserfall. Ich betrachtete den sensationellen Körper eingehend, und alle anderen jungen Frauen im Container taten das Gleiche. Erst jetzt fiel mir auf, dass hauptsächlich Frauen hier waren, junge Frauen, die meisten hübsch, braungebrannt und sportlich. Einen Moment erwischte mich diese Erkenntnis auf dem falschen Fuß: Alle diese jungen Dinger waren hier, um Blake, den Fernsehstar, zu sehen. Wahrscheinlich bekam er diese Art von Aufmerksamkeit die ganze Zeit, in jeder Bar, in jeder Stadt, in jedem Land. Wahrscheinlich warfen sich ihm alle an den Hals, und er konnte sich eine aussuchen – oder gleich alle nehmen. Nur um mich zu foltern, stellte ich ihn mir mit diesen Mädchen vor, als Hahn im Korb, wie sie ihre nackten jungen Körper auf ihm räkelten. Na gut, vielleicht war ich zehn Jahre älter als die meisten, aber dafür hatte sich sein nackter Körper auf mir geräkelt, wann immer ich wollte, und bei dem Gedanken fühlte ich mich sofort besser.

Ich überflog noch die Wände mit Blakes Heldentaten, als ich sie entdeckte. Sie. Jenna die Schlampe. Sie saß hinter einem kleinen behelfsmäßigen Schreibtisch, blätterte Formulare und Ausweispapiere durch, nahm Geld in Empfang und managte alles.

Ich kam mir vor wie RoboCop, untersuchte sie automatisch und ging ihre Vitalstatistiken durch, ihre Stärken und Schwächen als Mensch, noch schlimmer, als Frau. Haare: naturblond, am Haaransatz hippie-leger geflochten. Körper: sportlich, gebräunt, lange Gliedmaßen – nicht so lang wie meine vielleicht, aber zierlicher. Augen: braun, groß und ehrlich, treuer Hundeblick – jeder Mann würde sie mit sich nach Hause nehmen wollen –, eine kleine Narbe zwischen den Augenbrauen. Klamotten: weißes Top, das ihre Bräune betonte und ihre Zähne zum Strahlen brachte, Jeans und Turnschuhe. Eigentlich waren wir gleich angezogen, nur dass ich ein hellblaues Top trug, weil ich Hellblau getragen hatte, als Blake und ich uns kennengelernt hatten und er eine Bemerkung gemacht hatte, wie das meine Augen hervortreten ließ – natürlich nur ihre Farbe, meine Augen traten nur vor, wenn ich Meeresfrüchte aß.

»Mach halt ein Foto«, sagte mein Leben neben mir und öffnete geräuschvoll eine Tüte Chips – Salt and Vinegar –, die er sich aus dem Automaten geholt hatte.

»Das ist sie«, sagte ich.

»Die Frau aus Marokko?«

»Ja«, flüsterte ich.

»Wirklich?« Er war überrascht. »Vielleicht ist ja doch was dran an deinen psychotisch paranoiden Tendenzen.«

»Das nennt man Instinkt«, entgegnete ich giftig, und jetzt war ich sicher, dass ich jedes Mal, wenn ich paranoid wurde, völlig richtig damit lag – einschließlich dessen, dass der Typ aus meinem Apartmenthaus im US-Zeugenschutzprogramm war.

»Trotzdem – vielleicht sind sie ja gar nicht zusammen«, sagte er und steckte sich die nächste Handvoll Chips in den Mund.

»Ach, schau sie doch an«, entgegnete ich bitter. »Sie ist genau Blakes Typ.«

»Und was für ein Typ ist das?«

Ich beobachtete sie, wie sie mit der Gruppe verhandelte, wie sie ihr Grübchenlächeln lächelte, wie sie lachte, Witze machte, Interesse zeigte und diejenigen beruhigte, die sich Sorgen machten.

»Der nette Typ«, antwortete ich bitter. »Diese Schlampe.«

Mein Leben erstickte fast. »Na, das wird bestimmt lustig heute.«

In diesem Moment blickte Jenna auf, als hätte ihr inneres Radarsystem sie gewarnt, dass ein Feind in der Nähe war, und sah mich direkt an. Ihr Lächeln verblasste nicht, aber ihre Augen wurden hart, verloren für einen Moment ihr Strahlen, und mir war klar, dass sie wusste, weswegen ich hier war. Ich wusste, dass sie etwas für Blake empfand, das hatte ich von Anfang an gemerkt, schon bei unserer allerersten Begegnung in einer Bar in London, als Blake seinen Fernsehvertrag unterschrieben hatte und sie ihn gefragt hatte, ob er Eis in seinem Drink wollte. So etwas merkt eine Freundin, sie nimmt die Schwingungen auf, und nun war sie möglicherweise diese Freundin, und auch sie wusste Bescheid.

»Lucy?« Sie kam auf mich zu, aber als sie mein Leben neben mir stehen sah, entspannte sie sich etwas. Sie konnte ja nicht wissen, wie unnötig das war.

»Jenna, stimmt’s?«

»Ja.« Sie machte einen überraschten Eindruck. »Unglaublich, dass du dich an mich erinnerst, wir sind uns doch nur dieses eine Mal begegnet.«

»Ja, in London.«

»Richtig. Wow.«

»Du hast dich auch an mich erinnert.«

»Ja, hm, weil ich die ganze Zeit von dir gehört habe.« Sie lächelte.

Gehört habe. Vergangenheit.

»Na, dann herzlich willkommen«, sagte sie und sah mein Leben schüchtern an. Sie war nett. Und ich würde sie vernichten.

»Das ist Cosmo, ein Freund von mir.«

»Cosmo, cooler Name. Freut mich, dich kennenzulernen.« Sie streckte ihm die Hand hin, und er wischte sich seine salzigen Finger an der Jeans ab, bevor er sie nahm.

»Ist Blake heute da?«, fragte ich und sah mich um.

»Ja. Weiß er denn nicht, dass du kommst?«

Übersetzung: Ist das arrangiert? Wollt ihr wieder zusammen sein? Muss ich mir Sorgen machen?

Ich lächelte süß. »Ich wollte ihn überraschen.«

»Wow. Toll. Na dann, er wird sich bestimmt freuen, dich zu sehen, aber momentan ist er total beschäftigt. Er macht sich gerade fertig für die erste Gruppe. Gehört ihr auch dazu?«

»Ja«, lächelte ich.

Mein Leben starrte mich an, als würde er um nichts in der Welt auch nur in Erwägung ziehen, mit mir aus einem Flugzeug zu springen, aber ich war ihm dankbar, dass er nichts sagte.

»Wie lange arbeitest du schon hier?«

»Den ganzen letzten Monat, seit der Eröffnung. Blake war so nett, mir den Job zu geben. Die Sendung war ja fertig, aber ich wollte einfach noch nicht wieder nach Hause, verstehst du. Es gefällt mir total gut hier.«

»Australien ist ganz schön weit weg.«

»Ja, stimmt«, räumte sie ein bisschen traurig ein. »Na ja, wir werden sehen.«

»Wir werden sehen?«

»Wir werden sehen, wie es läuft. So, dann mache ich jetzt erst mal die Gruppe fertig, und ich muss Blake noch schnell einen Kaffee bringen, den will er immer als Erstes.«

Was Blake als Erstes wollte – davon konnte ich auch ein Lied singen. Mit verkniffenem Lächeln beobachtete ich, wie sie in die Hände klatschte, um die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich zu ziehen, wie sie Anweisungen gab, eine witzige Bemerkung machte und dann, nachdem sie alles geregelt hatte und jeder wusste, was er zu tun hatte, mit einem dampfenden Pappbecher Kaffee aus dem Container lief.

»Ab hier bist du auf dich allein gestellt, Schätzchen«, sagte mein Leben und stopfte sich die nächsten Chips in den Mund.

»Hast du Angst zu springen?«

»Selbstverständlich«, antwortete er. »Vor allem, wenn sie deinen Fallschirm präpariert«, sagte er mit einem Grinsen und wanderte davon, um noch vor ein paar Fotos die Nase zu rümpfen.

Ich versicherte ihm, dass ich ihn nicht zwingen würde zu springen, dass ich aber dem Terminplan folgen musste, um Blake zu treffen. Mein Leben hatte mich hergefahren, damit ich es versuchen konnte, also wusste er, dass seine Rolle darin bestand, mit dem Strom zu schwimmen. Auf keinen Fall wollte ich hier stundenlang rumhängen und wie eine Stalkerin auf Blake warten, denn schließlich war ich keine Stalkerin.

Nein, ganz bestimmt nicht.

 

 

Mein Leben und ich folgten der Gruppe nach draußen auf eine Grasfläche. Es war erst zehn Uhr vormittags, aber schon recht warm. Vor uns erstreckten sich zwei Meilen Rollbahn, rechts befand sich der Flugzeughangar. So schlicht die Einrichtung auch sein mochte, ich war trotzdem stolz auf Blake, weil er seinen Traum verwirklicht hatte. Dass es ohne mich geschehen war, dass nicht ich die Trainingsgruppen anleitete, dass nicht ich im Container saß, um Formulare zu ordnen und Besucher zu begrüßen, verlieh dem Ganzen eine seltsam bittersüße Note. Blake hatte sich meine Träume – unsere Träume – zu eigen gemacht und sie ohne mich in die Tat umgesetzt. Ich stand lediglich als Beobachterin inmitten einer Gruppe von Mädels, die auf ihn warteten wie auf einen Pin-up-Star. Und das war er jetzt ja auch – vorausgesetzt, man teilte die Meinung des Love to Travel-Magazins. Was ich ohne Vorbehalte tat. Insgesamt waren wir zu neunt. Die vier vom B&B, drei Fans von Blake, mein Leben und ich.

»Wo ist er denn?«, fragte eine Blondine ihre Freundin, worauf sich die beiden ansahen und kicherten.

»Willst du ihn um ein Autogramm bitten?«

»Nein«, antwortete sie. »Ich will ihn fragen, ob ich Kinder von ihm kriegen kann.« Wieder prusteten sie los.

Mein Leben sah mich an, und seine Augen tanzten, als würde er mich auslachen. Seit wir am »Dixi-Klo« angekommen waren, hatte er zu seinem alten Schwung zurückgefunden, aber ich wusste nicht, ob mir die Gründe dafür gefielen. Doch nun gab die Hangartür plötzlich ein lautes Dröhnen von sich, der Riegel wurde zurückgeschoben, und sie öffnete sich langsam. Im Innern der Halle kam das Flugzeug zum Vorschein, dann sah man Blake, der in einem orangefarbenen Overall davorstand, den Reißverschluss bis zur Taille offen. Darunter trug er ein enganliegendes weißes Top, unter dem sich seine Muskeln abzeichneten. Sein Gesicht konnte ich nicht genau erkennen, aber seinen Körper, seine Figur hätte ich auch aus dem Weltraum erkannt, fit und durchtrainiert, voller Tatendrang. Lässig begann er in unsere Richtung zu schlendern, und ich musste unwillkürlich an eine Szene aus Armageddon denken. Der Fallschirm, den er sich bereits um die Taille geschnallt hatte, schleifte hinter ihm her und war offensichtlich so schwer, dass es aussah, als müsste Blake gegen eine steife Brise ankämpfen. Immer wieder verfing sich der Wind im Fallschirmstoff, der sich hinter ihm in die Höhe hob, aufbauschte und dann wieder zu Boden sank.

»Oh. Mein. Gott«, sagte mein Leben und legte eine Chipspause ein.

Stolz durchströmte mich – auf Blake und dass mein Leben ihn so sehen konnte. Er war ein Mann, zu dem die Menschen sich hingezogen fühlten, er hatte eine unwiderstehliche Aura, dafür war dieser Auftritt ein perfektes Beispiel.

»Was für ein Angeber«, sagte mein Leben, warf den Kopf in den Nacken und lachte laut.

Verdutzt sah ich ihn an. Als auch die drei Jungs und das Mädchen aus dem Wohnmobil zu lachen anfingen, wurde ich wütend.

Harry sah mich ungläubig an. »Ist das der Typ?«

Ich ignorierte ihn. Die anderen Frauen aus der Gruppe klatschten und jubelten, begeistert von dieser Ouvertüre. Ich stimmte in den Applaus mit ein, das Jubeln erledigte ich lieber leise in meinem Innern. Blake lächelte und senkte bescheiden die Augen, mit einem Blick, der sagte: Ach, was soll das denn, also wirklich, Leute. Dann machte er den Fallschirm los, doch der Gurt blieb dran, so dass er uns seine ansehnliche Männlichkeit den Rest des Wegs wie in Geschenkpapier präsentierte. Endlich stand er vor uns.

»Danke, Leute«, sagte er strahlend und hob die Hände, um den Applaus zu beenden. Die Geste hatte den gewünschten Erfolg, und es kehrte Stille ein.

Genau diesen Moment wählte mein Leben, um die letzten Chipskrümel zu verdrücken, die Tüte zusammenzuknüllen und mit lautem Geraschel in seine Jeanstasche zu stopfen. Blake wandte den Kopf und sah erst mein Leben und dann mich. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, mein Magen machte einen Doppelaxel, die Menge toste, und ich trat auf dem Podium nach vorn. Dort nahm ich die Blumen entgegen, senkte den Kopf, um mir die Goldmedaille umlegen zu lassen, und lauschte der Nationalhymne, während Platz zwei und drei finster dreinblickten und sich überlegten, wie sie mir die Beine brechen könnten.

»Lucy Silchester«, lächelte Blake und wandte sich dann wieder der Gruppe zu, die vor Neugier schon fast platzte. »Ladys und Gentlemen, darf ich Ihnen Lucy vorstellen, die Liebe meines Lebens.«