18. KAPITEL
P ete wurde wach.
Intensivstation, dachte er, als er die Ansammlung von Überwachungsmonitoren und Geräten bemerkte, die um sein Bett gruppiert war.
Ich bin am Leben.
Ja, er war definitiv am Leben. Der Schmerz in seinem Unterkörper bewies das nur zu deutlich.
Seine Kehle war trocken, die Zunge klebte ihm am Gaumen und schmeckte nach alten Socken. Er versuchte zu schlucken – vergebens.
In seiner rechten Hand steckte eine Infusionskanüle.
Seine Linke saß in einer Art Schraubstock fest …
Nein, kein Schraubstock, das war Annie! Sie saß neben seinem Bett, den Kopf auf die Matratze gelegt, die Augen geschlossen. Ihr Atem ging sehr gleichmäßig. Sie schlief – und hielt seine Hand fest umklammert.
Vorsichtig befreite er seine Hand und strich damit über Annies seidiges Haar.
Ihre Augen öffneten sich langsam, sie setzte sich auf und schaute ihn an. „Ich habe mich schon gefragt, ob du jemals wieder aufwachen würdest“, sagte sie. Tränen schossen ihr in die Augen, und eine rann ihr die Wange hinunter.
„Weine nicht.“ Pete konnte nur flüstern. „Alles wird gut …“
Ihre Augen blitzten zornig auf. „Du hättest mir sagen sollen, dass du versuchen wolltest, Golden und Steadman zu provozieren. Ich hatte keine Ahnung, was du tust. Ich dachte, du hättest den Verstand verloren. Und als Whitley Scott mir sagte, dass du sie absichtlich wütend gemacht hast, dass du ihren Angriff herausfordern wolltest, dass du schnell genug bist, sie beide unschädlich zu machen und zu entwaffnen, und dass es meine Schuld ist, dass du angeschossen wurdest, weil ich die Tür geöffnet und dich abgelenkt habe …“
Dicke Tränen kullerten aus Annies Augen, und es wurden immer mehr. Pete griff nach ihrer Hand, aber sie zog sie zurück. Dann, als hätte sie es sich anders überlegt, nahm sie seine Hand, führte sie an ihre Lippen und drückte sie anschließend an ihre Wange.
„Ich bin stocksauer auf dich“, sagte sie.
„Es war nicht deine Schuld“, flüsterte er. „Ich habe Golden unterschätzt. Hätte nicht gedacht, dass er die Nerven hat, auf mich zu schießen …“
„Wenn ich die Tür nicht geöffnet hätte, hätte er es auch nicht getan. Aber, großer Gott, Pete, ich hatte solche Angst, du würdest sterben.“
„Bin ich nicht.“
„Ich liebe dich.“
„Ich weiß.“
Pete wurde im Rollstuhl zur Eingangshalle des Krankenhauses geschoben. Draußen vor der riesigen Doppeltür konnte er Annie in der hellen Herbstsonne stehen sehen.
Die Krankenschwester schob den Rollstuhl durch die Tür und hinaus auf den Gehsteig. Die Morgenluft war kühl und erfrischend. Er atmete tief ein und lächelte dann zu Annie hoch.
„Okay, Agent Peterson“, sagte die Krankenschwester. „Von hier aus schaffen Sie es allein.“
Pete stand auf. Er bewegte sich langsam und vorsichtig. Es würde noch einige Wochen dauern, bis er seine Laufrunden wieder aufnehmen konnte.
Annie beobachtete ihn genau. „Hast du heute Morgen schon mit Whitley Scott gesprochen?“, fragte sie.
„Ja.“
„Wissen sie inzwischen, wer der Kontakt beim FBI war?“
„Collins. Er hatte Zugang zu den Codes der Alarmanlage. Er hat Steadman und Golden geholfen, ins Haus zu gelangen.“
„Es ging also um Drogenschmuggel?“
„Ja. Steadman stellte das Geld zur Verfügung, um Kunstwerke zu kaufen, und Golden übernahm die Aufgabe, die Stücke zu begutachten. Tatsächlich nutzte er das aber nur als Tarnung, um nach England zu fliegen und die Stücke mit diesen ganz besonderen Verpackungschips zu polstern, die er in großem Stil aus Kolumbien bezog. Die Chips waren aus gepresstem Kokain und gelegentlich mehrere Millionen Dollar wert. Golden brachte das Kokain über England in die Staaten. Er ging – zu Recht – davon aus, dass Sendungen aus Kolumbien peinlichst genau untersucht würden. England dagegen spielt im Drogenhandel keine Rolle, also nimmt es der Zoll da bei Weitem nicht so genau. Die Kunstwerke selbst wurden von Steadman meistens umgehend weiterverkauft, meistens mit Verlust. Es machte ihm nichts aus, ein paar Dollar am Kunsthandel zu verlieren. Am Kokainhandel verdiente er mehr als genug.
Als Ben Sullivan dich damit beauftragte, die Totenmaske zu begutachten, hatte Golden sie bereits verpackt und versandfertig gemacht. Er und Steadman befürchteten, die ganze Ladung Kokain zu verlieren.“
Sie waren am Wagen angelangt. Pete schaute die Frau an, für die er sein Leben riskiert hatte. Die Frau, für die er es gern noch hundertmal riskieren würde.
„Sie hätten Millionen verloren. Oder es hätte noch schlimmer kommen können. Du hättest das Kokain finden können. Also bekamst du Drohanrufe. Sie wollten dir die Maske entwenden und versuchten vorbeugend einer Diné-Gruppe den Diebstahl in die Schuhe zu schieben. Als ich auf den Plan trat und deine Sicherheitsvorkehrungen verschärft wurden, sahen sie ihre Felle davonschwimmen. Sie versuchten dich umzubringen, und als das nicht funktionierte, griffen sie auf ihren Notplan zurück und schoben dir ein weiteres Verbrechen in die Schuhe. Sie waren bereit, alles zu tun, damit Golden an den Auftrag für das Gutachten kam. Denn nur so hätten sie die Kiste – mit dem Kokain darin – wieder in ihre Hände bekommen.“
Annie erschauerte. „Ich bin nur froh, dass endlich alles vorbei ist.“
Pete ließ sich von ihr ins Auto helfen. Dann stieg sie auf der Fahrerseite ein.
„Bereit?“, fragte sie.
„Absolut.“ Pete beugte sich zu ihr hinüber, zog sie an sich und küsste sie lange und intensiv. Als er sie endlich wieder losließ, atmeten sie beide schwer. „Rate mal, was ich als Erstes tun möchte, wenn wir nach Hause kommen?“
Annie zog gespielt ernsthaft die Augenbrauen hoch. „Du hast dem Arzt versprochen, dich nicht anzustrengen.“
„Wer sagt denn was von anstrengen?“ Er lächelte und knabberte sanft an ihrem Ohrläppchen.
Sie entzog sich ihm. „Nein, Pete, jetzt mal ernsthaft. Du solltest besser erst den Arzt fragen, ob das auch in Ordnung geht …“
„Es geht in Ordnung“, unterbrach er sie und spielte mit ihren langen braunen Haaren. „Ich musste gar nicht erst fragen. Der Arzt hat das Thema von sich aus angesprochen. Ich schätze, er hat bemerkt, wie ich dich anschaue.“
Wie Pete sie jetzt anschaute … Sein Blick schien sie zu verschlingen, in seinen Augen loderten Flammen. Er beugte sich wieder zu ihr hinüber, um sie noch einmal zu küssen, und Annie schloss die Augen, ließ sich von seinem Feuer verzehren …
„Lass uns nach Hause fahren!“, flüsterte er.
Mit klopfendem Herzen steuerte Annie den Wagen aus der Krankenhauseinfahrt auf die Hauptstraße. Nach etwa einer oder zwei Meilen hatte ihr Puls sich wieder beruhigt, und sie warf Pete einen Blick zu. „Jerry Tillet hat einen Sponsor für sein Projekt in Mexiko gefunden. Ben Sullivan unterstützt ihn.“
„Das ist großartig“, sagte Pete. „Kannst du nicht schneller fahren?“
Annie lachte. „Wir brauchen nur fünf Minuten bis zu mir nach Hause.“
Seine Augen sagten ihr, dass fünf Minuten genau fünf Minuten zu viel waren.
„Cara geht mit Tillet nach Mexiko“, fuhr sie fort, um ihn abzulenken. Nein, um sich abzulenken. Wollte die Ampel denn nie mehr umspringen? „Jetzt muss ich mir eine neue Forschungsassistentin suchen.“
„Hattest du nicht darüber nachgedacht, mitzugehen? Irgendwie ist mir so, als hättest du das gesagt. Du weißt schon. Du wolltest dir mal wieder die Hände schmutzig machen, in einem Zelt schlafen …“
Annie antwortete nicht, wendete den Blick keinen Moment von der Straße. Und wie sind deine Pläne, hätte sie ihn am liebsten gefragt. Wann musst du wieder zur Arbeit? Aber sie tat es nicht. Die Worte wollten einfach nicht über ihre Lippen.
„Ich habe eine tolle Idee“, unterbrach Pete ihre Gedanken. „Wir können erst nach Colorado gehen, dann nach Mexiko …“
„Wir?“ Es gelang ihr nicht, ihre Überraschung zu verbergen.
Pete lächelte sie an. „Ja, wir. Du. Ich. Wir beide. Das wäre doch eine nette Hochzeitsreise, was meinst du?“
Annie bog scharf nach rechts ab, fuhr in eine Einfahrt, stellte den Motor ab und drehte sich zu Pete um. „Hast du mich gerade gefragt, ob ich dich heiraten möchte?“
Ein Hauch von Unsicherheit lag in seinen Augen. „Ich dachte eigentlich, das hätte ich längst getan“, antwortete er langsam. „Im Krankenwagen. Auf dem Weg ins Krankenhaus.“
„Daran erinnerst du dich?“, fragte Annie ungläubig. „Pete, du hast fantasiert.“
„Ja, schon.“ Er grinste. „Aber doch nur, weil du Ja gesagt hast …“ Er schaute sie sehr ernst an, und sein Lächeln schwand. „Willst du mich heiraten, Annie?“
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit jemandem verheiratet sein möchte, der für die CIA arbeitet“, antwortete sie leise. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das aushalte …“
Schweigen breitete sich im Wagen aus, zog sich in die Länge.
Wem versuche ich eigentlich etwas vorzumachen, fragte sich Annie. Natürlich wird es nicht leicht werden. Andauernd werde ich mir Sorgen machen, dass er verletzt wird, angeschossen oder gar getötet. Ich werde die langen Stunden und Wochen hassen, die ich allein sein werde. Aber ich liebe ihn, und ich bin bereit, zu nehmen, was immer er bereit ist, mir zu geben.
„Ja“, sagte sie. Im selben Moment drehte er sich zu ihr um und sagte: „Ich höre auf.“
Lange starrten sie einander nur an, dann wiederholte Pete: „Ich werde aufhören.“
„Das musst du nicht“, sagte Annie ruhig. „Ich heirate dich so oder so.“
„Aber ich will es.“ Damit nahm er ihre Hand und küsste ihre Fingerspitzen. „Ich denke schon seit geraumer Zeit darüber nach, hatte aber bisher nie einen wirklich guten Grund, die CIA zu verlassen.“
„Aber was willst du stattdessen tun?“, fragte Annie. „Du bist viel zu jung für den Ruhestand.“
Pete lächelte. „Ich denke darüber nach, den Beruf zu wechseln. Mir ist zu Ohren gekommen, dass da gerade eine fantastische Stelle frei geworden ist. Irgendwer sucht nach einem Forschungsassistenten. Ich habe nicht gerade viel Erfahrung im Labor, aber ich kann außerordentlich gut zelten und im Dreck herumwühlen und was Archäologen sonst so tun mögen.“
Lachend beugte Annie sich vor und küsste ihn. Und küsste ihn und küsste ihn.
Als sie einander endlich wieder losließen, zitterten ihr die Hände. „Nun“, sagte sie, „ich bin froh, dass das geklärt wäre.“
Aber Pete legte ihr die Hand unters Kinn und schaute ihr in die Augen. „Warte“, sagte er mit sehr ernster Miene. „Ich muss dich etwas fragen …“ Einen Moment senkte er den Blick, als müsste er Mut fassen. „Ich weiß, dass du mich liebst.“ Er hob den Blick und sah ihr in die Augen. „Aber hast du mir auch vergeben?“
„Vergeben? Ja. Vergessen? Niemals. Ich werde diesen Fehler kein zweites Mal machen.“
Er zog ganz leicht die Augenbrauen hoch. Offenbar hatte er nicht verstanden …
„Ich werde niemals wieder vergessen, dass du mich liebst“, erläuterte sie und startete den Motor. „Lass uns nach Hause fahren.“
– ENDE –