4. KAPITEL
Annie wachte um neun Uhr auf, kurz bevor ihr Wecker klingelte. Obwohl es ein Samstagmorgen war, wartete Arbeit im Labor auf sie. Außerdem war heute auch der Tag, an dem Jerry Tillet seine neuesten Funde aus Südamerika vorbeibringen wollte, wenn sie sich nicht täuschte. Das wiederum bedeutete, dass Cara da sein würde, obwohl Wochenende war. Und sie musste zum Flughafen, um das Paket aus Frankreich abzuholen …
Sie schloss noch einmal kurz die Augen. Verdammt noch mal. Früher haben mir sechs Stunden Schlaf durchaus gereicht. Obwohl – es waren im Grunde ja nur fünf gewesen. Sie hatte am Abend zuvor nicht gleich einschlafen können. Andauernd war ihr … die Arbeit durch den Kopf gegangen, die sich angesammelt hatte. Ja, definitiv, der Riesenstapel Arbeit. Sie hinkte ihrem Zeitplan dermaßen hinterher, dass sie es sich gar nicht leisten konnte, über sonst irgendwas oder irgendwen nachzudenken.
Aber warum hatten dann Pete Taylors dunkle Augen sie in ihre Träume verfolgt?
Weil seine Anwesenheit hier mir tierisch auf die Nerven geht, entschied Annie. Sowie in Texas die Sonne aufgeht, rufe ich Steven Marshall an und rede ihm diesen Leibwächterquatsch ein für alle Mal aus.
Sie stieg aus dem Bett, zog sich müde ihr Schlafanzugoberteil aus, strich sich die Haare aus dem Gesicht und machte sich auf den Weg ins Bad.
Oh Gott, Taylor lag auf dem Fußboden und schlief!
Hastig trat sie einige Schritte zurück. Griff sich das Schlafanzugoberteil und bedeckte notdürftig ihre Brüste damit. Sie drückte den Flanellstoff so fest sie konnte an ihren Körper und klemmte ihn zur Sicherheit noch unter den Armen fest.
Pete Taylor schlief tief und fest. Lang ausgestreckt lag er auf einem dünnen Schlafsack, in eine Decke eingewickelt. Sein Jackett und das Hemd hatte er ausgezogen, und obwohl er völlig entspannt war, zeichneten sich die Muskeln seiner Arme deutlich unter der gebräunten Haut ab. Sein Gesicht wirkte im Schlaf jünger, weicher, weniger beherrscht. Annie starrte fasziniert auf ihn herab, auf die langen dunklen Wimpern und die samtweiche Haut seiner Wangen.
Er war ein verdammt gut aussehender Mann.
Und er reist noch heute Morgen ab, rief Annie sich streng ins Gedächtnis. Wie komme ich dazu, seine Wimpern zu bewundern? Ich sollte wütend auf ihn sein. Himmel, Herrgott noch mal, er ist in mein Schlafzimmer eingedrungen, während ich geschlafen habe. Wie lange mag er mich im Schlaf beobachtet haben? Er hat einfach nicht das Recht dazu!
Sie stieß ihn vorsichtig mit einem Zeh an, um ihn zu wecken.
Dann ging alles blitzschnell. Eben noch stand sie. Im nächsten Moment lag sie auf dem Boden unter dem Gewicht seines schweren Körpers, und mit einem seiner Arme drückte er ihr hart die Kehle zu.
Annie versuchte instinktiv, sich zu wehren, aber er hatte sie so fest im Griff, dass sie sich nur winden konnte. Er atmete schwer, offensichtlich war er in Kampfbereitschaft, aber dann zog er seinen Arm weg, sodass sie endlich wieder Luft holen konnte.
Finster starrte er auf sie herab. „Tun Sie das nie, nie wieder!“ Seine Stimme klang streng, seine Augen wirkten hart und kalt, sein Gesichtsausdruck war schroff.
„Wie bitte?“, fauchte Annie empört zurück. „Was habe ich denn getan? Ich habe Sie nur geweckt. Sie sind auf mich losgegangen und haben mich fast erwürgt. Sie haben sich in mein Schlafzimmer eingeschlichen, obwohl ich Ihnen ausdrücklich gesagt hatte, dass ich Sie nicht hier drinhaben will, Sie Mistkerl!“
Sie funkelte ihn wütend an und stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn, damit er sie endlich losließ.
Obwohl er sein Hemd zum Schlafen ausgezogen hatte, trug er immer noch seine Kette. Sie hing jetzt zwischen ihnen, der Anhänger schwang leicht hin und her, strich dabei sanft über ihren Hals, ihre Schultern und …
Oh Gott, ich habe das Oberteil fallen lassen!
Annie erkannte an dem plötzlichen Flackern in seinem Blick, dass ihm dieser Umstand im selben Moment bewusst wurde wie ihr. Seine nackte Brust lag auf ihrer, Haut auf Haut, hart auf weich.
Sie erstarrten beide.
Annie konnte seinen Herzschlag spüren. Oder war es doch ihr eigener? Wessen Herz es auch sein mochte, es begann jedenfalls schneller zu schlagen.
„Ich glaube, Sie sollten jetzt von mir runtergehen“, flüsterte Annie.
Schweigend richtete Pete sich auf und rückte von ihr ab. Großer Gott, ist sie schön, dachte er und sah ihr dabei zu, wie sie sich ihr Schlafanzugoberteil schnappte und hastig überzog. Ihre Brüste waren weich und prall, die dunklen Brustwarzen hatten sich aufgerichtet und wirkten wie feste Knospen.
Pete setzte sich auf seine Schlafunterlage und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Nur gut, dass er seine Jeans noch trug. So konnte sie wenigstens nicht so deutlich sehen, wie sehr sie ihn erregte. Junge, Junge, was für ein Start in den Tag!
„Ich gehe jetzt unter die Dusche“, erklärte sie. Ihre Wangen waren leicht gerötet. „Wenn Sie nichts dagegen haben!“
„In Ordnung“, sagte er.
„Sind Sie sicher, dass Sie nicht erst das Badezimmer überprüfen wollen?“, fragte sie, stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und schaute auf ihn herab. „Man kann ja nie wissen. Vielleicht versteckt sich ein böser Junge im Spülkasten.“
Pete erhob sich geschmeidig und ging an Annie vorbei ins Badezimmer.
„Das war ein Scherz“, sagte Annie und folgte ihm, dabei bemüht, nicht auf das Spiel seiner Rückenmuskeln zu starren.
Das Bad war in Grün- und Blautönen gehalten. In einer Ecke stand eine Wanne auf Krallenfüßen, in der anderen befand sich eine große Duschkabine. Das Waschbecken war in eine Marmorplatte eingelassen, auf der Annies Schminksachen, diverse Cremes, Seifen und Shampoos herumlagen und -standen.
Der Raum hatte ein kleines Fenster mit Milchglasscheibe. Pete warf einen Blick darauf und überprüfte den Fensterhebel. Alles in Ordnung.
Er öffnete die Tür zur Duschkabine und schaute hinein.
„Jetzt ist es aber genug“, spöttelte Annie. „Das Fenster war verschlossen. Wie soll jemand in meine Dusche gelangt sein?“
Pete schaute sie ruhig an. „Letzte Nacht war die Tür zu Ihrem Schlafzimmer verschlossen. Das hat mich nicht daran gehindert, hineinzugelangen. Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass, was ich geschafft habe, auch ein anderer schaffen könnte?“
Sie starrte ihn an. Nein, der Gedanke war ihr tatsächlich nicht gekommen …
Er ging zurück ins Schlafzimmer. Annie folgte ihm bis an die Badezimmertür und sah zu, wie er seine Decke und seinen Schlafsack zusammenrollte. „Wenn das so ist“, fragte sie, „warum soll ich mir dann überhaupt die Mühe machen, die Tür abzuschließen?“
Pete band seinen Schlafsack mit einer Schnur zu einer Rolle zusammen. „Tür- und Fensterschlösser halten die meisten Leute draußen“, sagte er. Dann stand er auf und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust. „Und was die anderen angeht, die unbedingt reinwollen – dafür bin ich da.“
„Das ist sehr gut“, erwiderte Annie. „Schreiben Sie das auf und lassen Sie es auf Ihre Visitenkarten drucken. Genau die richtige Menge Macho mit einem Schuss Superheld. Das sollte sich richtig gut verkaufen. Nur ich habe dummerweise überhaupt kein Interesse.“
Damit drehte sie sich um und verschwand im Bad, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür abzuschließen.
Das Wasser im Teekessel hatte gerade angefangen zu kochen, als Pete die Küche betrat. Seine Haare waren noch feucht vom Duschen, und er trug jetzt einen schwarzen eng anliegenden Rollkragenpullover zu seiner Jeans.
Annie goss kochendes Wasser über den Teebeutel in ihrem Becher. „Ich kann Ihnen nicht viel zum Frühstück anbieten“, sagte sie entschuldigend. „Normalerweise esse ich nur ein bisschen Obst, und selbst davon habe ich nicht mehr allzu viel.“
„Ich sagte es ja schon: Für meine Mahlzeiten sorge ich selbst. Und Mr Marshall übernimmt die Rechnung“, antwortete Pete und setzte sich an den Küchentisch. „Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern ein paar Dinge in Ihrem Kühlschrank aufbewahren. Wären Sie damit einverstanden?“
Annie lehnte sich an die Arbeitsplatte und nahm ihren Becher in beide Hände. „Theoretisch habe ich nichts dagegen“, sagte sie, „aber wie ich schon sagte: Wenn ich nachher mit Mr Marshall gesprochen habe, reisen Sie ab.“
„Nein, das glaube ich nicht.“
„Aber ich glaube das.“
„Es tut mir leid, aber Sie irren sich“, widersprach Pete unbeeindruckt. „Mr Marshall ist es äußerst wichtig, schlechte Presse zu vermeiden. Wussten Sie, dass in Dallas gegen ihn ermittelt wird? Wegen des Verdachts auf Verstrickung ins organisierte Verbrechen.“
„Gegen Steven Marshall?“
Pete nickte. „Rufen Sie ihn ruhig an. Aber ich weiß, dass er darauf bestehen wird, dass ich bleibe. Wenn Ihnen nämlich irgendetwas passierte, würde ihm das eine sehr schlechte Presse einbringen.“
„Aber was ist mit mir? Mit meinen Wünschen?“ Annie stellte ihren Becher ab und setzte sich Pete gegenüber an den Tisch. Ein Stirnband hielt ihre Haare im Zaum und aus ihrem Gesicht heraus. Sie trug ein weißes Sweatshirt und Jeans, dazu schwarze Schnürstiefeletten. „Ich will keinen Leibwächter. Nichts gegen Sie, aber … ich bin gern allein.“
„Ich versuche Ihnen so wenig wie möglich im Weg zu sein“, antwortete er. „Sie werden kaum merken, dass ich da bin.“
„Oh ja, wie wenig Sie mir im Weg sind, habe ich heute Morgen bemerkt. Vor allem, als Sie mich zu Boden drückten. Ich bin schon unglaublich gespannt, was der Rest des Tages noch für Überraschungen bringen wird. Vielleicht ein bisschen Kickboxen?“
Natürlich entging ihr nicht, dass er nicht mal den Anstand aufbrachte, wenigstens etwas verlegen zu wirken, als sie die Küche verließ.
Sie musste mit Steven Marshall sprechen. Unbedingt.
Annie knallte den Hörer auf die Gabel und fluchte so herzhaft, dass Cara aufblickte.
„Hat der gute Steven M. sich nicht davon beeindrucken lassen, dass du meinst, gut selbst auf dich aufpassen zu können?“, fragte sie schadenfroh.
„Er ist so ein Volltrottel!“
„Es könnte schlimmer sein“, meinte Cara.
„Oh ja“, grummelte Annie. „Zum Beispiel könntest du anfangen, mir zu erläutern, was alles noch viel schlimmer sein könnte.“
Cara ignorierte den Einwand. „Er hätte dir auch einen dieser hirnlosen Muskelprotze mit kahl rasiertem Schädel schicken können. Wenn mir jemand sagen würde, ich müsste die nächsten Wochen damit leben, dass ein Kerl, der so fantastisch aussieht wie Peter Taylor, jeden meiner Schritte überwacht, würde ich mich jedenfalls nicht beklagen.“
„Aber ich brauche meine Privatsphäre“, protestierte Annie und setzte sich kurz an ihren Schreibtisch, nur um vier Sekunden später wieder aufzuspringen und im Büro auf und ab zu laufen.
„He“, fragte Cara, „ist dir seine Kette aufgefallen?“
„Diné. Sieht so aus, als wäre sie um achtzehnhundertsechzig entstanden, vielleicht noch früher. Hast du seinen Ring gesehen?“
„Und die Gürtelschnalle? Ja. Du wirst versuchen, sie ihm abzukaufen, richtig?“ Cara räumte den Stapel Akten von ihrem Tisch. Darunter kamen ein Briefbeschwerer aus versteinertem Holz, drei gerahmte Bilder von ihren Nichten und Neffen und eine Homer-Simpson-Plastikfigur mit Wackelkopf zum Vorschein. Sie blickte zu ihrer Freundin auf. „Das wirst du doch, oder?“
Annie schüttelte den Kopf.
„Du machst Witze. Warum nicht?“
„Das geht dich nichts an“, gab Annie verärgert zurück und ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen. „Seit wann muss ich mich vor dir rechtfertigen? Du arbeitest für mich. Schon vergessen?“
„Du wirst nicht versuchen, ihm den Schmuck abzukaufen, weil du den Mann magst“, stieß Cara triumphierend aus und schnippte mit dem Finger gegen den Kopf der Simpson-Figur. „Du magst ihn, ich wusste es doch. Du willst ihn nicht übervorteilen.“
Annie ließ ihren Kopf auf den Schreibtisch sinken. „Oh MacLeish“, stöhnte sie. „Er wird wochenlang hier herumhängen. Wochenlang! Was soll ich nur tun?“
„Na, wenigstens sieht er gut aus. Stell dir vor, du hättest Tag und Nacht einen Typen an der Backe, der die Augen beleidigt …“
Annie hob den Kopf und starrte sie an. „Ja, danke, großartig, wunderbar. Er sieht gut aus. Er sieht fantastisch aus. Soll ich dir was sagen? Ich wäre lieber mit einem Typen zusammen, der hässlich ist. Taylor sieht so gut aus, dass er mich permanent ablenkt, und er … steht in der Tür und belauscht unser Gespräch“, brachte sie den Satz zu Ende und schaute hinüber zu Pete, der im Türrahmen lehnte. In seinen Augen blitzte es amüsiert.
„Wir haben gerade von Ihnen gesprochen“, meinte Cara überflüssigerweise. Sie lächelte fröhlich. „Wie peinlich für uns.“
„Es ist nicht peinlich“, widersprach Annie. „Ich meine, der Umstand, dass er großartig aussieht, dürfte ihm nicht neu sein. Er weiß, wie er aussieht. Und dass wir über ihn reden, dürfte ihn auch nicht gerade schockieren. Er macht sich in meinem Leben breit, und ich habe das Recht, mich darüber zu beschweren. Das Recht, mich über ihn auszuweinen.“ Sie deutete anklagend auf Pete.
Cara lächelte immer noch fröhlich. „Annie hat gerade mit Marshall telefoniert.“
„Dem Bastard“, warf Annie ein.
„Sieht ganz so aus, als sollten Sie Ihren Koffer aus dem Auto holen und sich hier häuslich einrichten.“
„Oh“, sagte Pete.
„Weiden Sie sich nicht an Ihrem Triumph!“, fauchte Annie.
Seine Augenbrauen hoben sich einen Millimeter. „Ich sagte doch nur …“
„Ich bin so was von sauer“, fuhr Annie fort. „Marshall …“
„Der Bastard“, warf Cara hilfsbereit ein.
„… glaubt einfach nicht, dass eine Frau allein auf sich aufpassen kann. Ich habe ihn gebeten, mir einen weiblichen Leibwächter zu engagieren – nehmen Sie’s nicht persönlich, Taylor …“
„Kein Problem.“
„… und Marshall …“
„Der Bastard.“ Diesmal kam der Einwurf von Pete, er verzog die Lippen zu einem Lächeln.
„… lachte. Dieses widerliche Lachen!“ Annie versuchte ihn nachzuahmen. Sie klang dabei fast wie ein Seelöwe in Todesangst. „Und sagte, dann müsse er Taylor zusätzlich bezahlen. Damit der den weiblichen Leibwächter beschützt! Er sagte, nur ein Mann könne ein Leibwächter sein! Das sei ein Job für Männer! Dämlicher, unsensibler und chauvinistischer geht es nicht mehr. Und dann setzte er dem Ganzen die Krone auf und nannte mich ‚kleine Lady‘. Als ob sein ewiges ‚Darling‘ nicht schon übel genug wäre. Also habe ich ihm gesagt, dass ich aussteige. Dass er sich seine dämliche Maske abholen und von einem dämlichen Mann authentifizieren lassen kann.“
„Und?“ Cara grinste voller Vorfreude.
„Marshall …“
„Der Bastard“, warfen Cara und Pete einstimmig ein.
„… lachte wieder und sagte …“ Annie versuchte sich an Marshalls breitem texanischen Akzent. „Es sei typisch Frau, einen schriftlichen, bindenden Vertrag brechen zu wollen. Dann schlug er vor, wir sollten uns zu einer günstigeren Zeit des Monats noch einmal unterhalten! Am liebsten hätte ich durchs Telefon gelangt, seine Nase gepackt und umgedreht. Richtig fest!“
„Und?“, fragte Cara.
„Nichts und. Ich habe immer noch einen Vertrag. Und einen Leibwächter“, grummelte Annie und warf Pete einen bitterbösen Blick zu.
„Wissen Sie …“, setzte Pete an.
„Sie sollten jetzt besser den Mund halten“, unterbrach Annie ihn. „In mir wächst das dringende Bedürfnis, meine Wut an jemandem auszulassen. Sie bieten sich als äußerst attraktives Ziel an.“
„Äußerst attraktiv, hmm?“ Cara lächelte, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch.
„So habe ich es nicht gemeint“, gab Annie drohend zurück. „Du bist entlassen, MacLeish. Geh, mach ein paar Kopien oder wofür ich dich auch immer bezahle.“
Das Telefon klingelte, und Annie griff hastig nach dem Hörer.
„Vielleicht ist das Marshall. Vielleicht hat er seine Meinung geändert.“ Hoffnungsvoll meldete sie sich. „Hallo?“
Beim Auf-und-Abtigern im Büro hatte sie ihr Haarband gelöst, und jetzt strich sie sich mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht und hielt mit der anderen den Telefonhörer ans Ohr. Pete beobachtete sie. Ihr Blick ging ins Leere, während sie sich auf den Anruf konzentrierte. Dann zeigte sich Überraschung in ihrem Gesicht, gleich darauf schockiertes Erschrecken. Ihre blauen Augen wurden schmal.
„Wer sind Sie?“, fragte sie schroff. „Das wollen Sie alles mit mir anstellen? Versuchen Sie es nur. Warum geben Sie sich nicht zu erkennen? Zeigen Sie sich. Kommen Sie persönlich her, statt sich hinter Drohanrufen und durchs Fenster geworfenen Steinen zu verstecken …“
Pete sprang zu ihr, riss ihr das Telefon aus der Hand und versuchte das Aufzeichnungsgerät einzuschalten, das vom FBI aufgestellt worden war. Aber die Verbindung war bereits unterbrochen, und im Hörer erklang nur noch das Freizeichen.
„Verdammt noch mal“, fluchte er und legte auf. „Was zum Teufel ist eigentlich los mit Ihnen? Warum haben Sie das Gespräch nicht aufgezeichnet? Und was zur Hölle fällt Ihnen ein, so zu antworten? Wollen Sie wirklich, dass dieser Kerl hierherkommt?“
Sie zitterte. „Schreien Sie mich nicht an!“, stieß sie hervor, und ihre Augen blitzten vor Zorn. „Ich habe gerade einem durchgeknallten Irren zugehört, der mir seine krankhaften Fantasien detailliert beschrieben hat, und in diesen Fantasien spiele ich die Hauptrolle. Sie können von mir nicht erwarten, dass ich ihm dazu nicht die Meinung geige …“
„Ich erwarte von Ihnen, dass Sie ihn nicht auch noch anstacheln“, antwortete Pete. Seine Augen glitzerten hart und kalt wie Obsidian. Er stand mit in die Hüften gestemmten Händen unmittelbar vor Annie und hielt sie an ihrem Schreibtisch gefangen.
Sie wollte ausweichen, aber um das zu tun, hätte sie sich an ihm vorbeiquetschen oder über ihren Tisch klettern müssen. Also blieb sie, wo sie war, und versuchte das Zittern ihrer Hände vor ihm zu verbergen, indem sie sie in die Gesäßtaschen der Jeans schob.
Pete nahm einen Notizblock und einen Stift von ihrem Schreibtisch. „Sie müssen mir erzählen, was er zu Ihnen gesagt hat“, forderte er schroff. „Wort für Wort.“
Annie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber das kann ich nicht.“
„Wenn Sie sich nicht ganz genau erinnern …“
„Darum geht es nicht. Ich kann mich sehr wohl ganz genau erinnern. Ich kann nur nicht … wiederholen, was er gesagt hat. Es war so widerlich.“
Sie versuchte seinem Blick standzuhalten, aber ihr stiegen plötzlich Tränen in die Augen. Leise fluchend versuchte sie die Tränen wegzublinzeln. „Ich habe heute wirklich einen lausigen Tag“, sagte sie.
Pete wandte sich ab, erschrocken über seine eigene Reaktion auf ihre Tränen. Am liebsten hätte er sie in seine Arme geschlossen, ihr gesagt, alles werde wieder gut, und sie geküsst, bis ihre Hände aus ganz anderen Gründen zitterten. Er wollte ihr sagen, dass er auf sie aufpassen und sie beschützen würde.
Aber das konnte er ihr nicht sagen. Und er konnte sie auch nicht wirksam schützen, wenn sie nicht zur Zusammenarbeit mit ihm bereit war.
Annie nutzte die Gelegenheit, um ihren Tisch herumzugehen und sich hinzusetzen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Taylor sie in Ruhe ließ. War dieser widerlich obszöne Anruf nicht schon schlimm genug? Sie wollte das vergessen, nicht darüber reden. Allein der Gedanke daran, ihm Wort für Wort erzählen zu müssen, was dieser Irre zu ihr gesagt hatte, ließ ihr das Blut ins Gesicht schießen.
Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie Taylor sich einen Stuhl an ihren Tisch holte. Er setzte sich und schaute dann über ihren Kopf hinweg hinüber zu Cara. Annie warf ihrer Freundin einen kurzen Blick zu. Diese beobachtete sie beide mit unverhohlener Neugier.
„Würden Sie uns bitte allein lassen?“, wandte Pete sich an Cara.
Cara stand unsicher auf.
„Bereite bitte den letzten Test für die Kupferschale vor, MacLeish“, bat Annie. „Ich bin in einer Minute bei dir im Labor.“
Cara hasste es, hinausgeschickt zu werden, aber sie verließ das Büro. Pete stand auf und schloss hinter ihr die Tür.
Annie schaute zu ihm hoch, als er sich wieder ihr gegenüber an den Tisch setzte. Zu ihrer Überraschung war sein Blick weich, ja geradezu freundlich.
„Es gibt einen Grund, warum ich diesen Anruf aufzeichnen wollte und jetzt noch dokumentieren will“, begann er ruhig. „Das kann uns helfen, dem anonymen Anrufer auf die Spur zu kommen. Wir können mithilfe des FBIs natürlich seine Nummer und den Standort ermitteln. Aber meistens rufen solche Leute von öffentlichen Telefonzellen oder irgendwelchen Prepaid-Handys aus an. Die Telefonnummer wird uns also kaum weiterhelfen. Aber das FBI kann die Aufzeichnung durch die Computer jagen und versuchen, bestimmte sprachliche Kennzeichen wiederzufinden: Ausdrucksweisen, Wortwahl oder Satzaufbau. Es könnte ja immerhin sein, dass es sich um einen Wiederholungstäter handelt, den die Polizei schon im Visier hat.“ Er schob ihr den Notizblock und den Stift über den Tisch. „Und deshalb muss ich wissen, was er zu Ihnen gesagt hat. So genau wie nur irgend möglich. Vielleicht fällt es Ihnen leichter, das aufzuschreiben.“
Lange Zeit rührte sie sich nicht. Starrte ihn nur an. Dann griff sie plötzlich nach Stift und Papier und begann zu schreiben.
Pete lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete sie.
Sonnenlicht fiel durchs Fenster herein, strahlte sie von hinten an und verlieh ihr eine Art Heiligenschein. Pete fiel wieder ein, was sie zu Cara gesagt hatte, während er die beiden Frauen belauschte: Er lenke sie ab. Ich lenke sie ab? Nicht halb so sehr, wie sie mich ablenkt. Darauf gehe ich jede Wette ein.
Ihm wurde bewusst, dass er sie inzwischen ständig begehrte. Sein Verlangen nach ihr war ein Dauerzustand geworden, nicht mehr nur ausgelöst von ihrem Lächeln, ihrer Art, sich zu bewegen, ihrem leisen erregenden Lachen. Er brauchte sie nur zu sehen und … Ach was, er brauchte nur an sie zu denken, und peng war es da, dieses Begehren. Und wenn sie nicht in seiner Nähe war, musste er garantiert an sie denken … Himmel noch mal, das würden zwei sehr ungemütliche Monate werden.
Annie war fertig mit Schreiben, legte den Stift auf das Papier und stand auf. „Ich bin im Labor“, sagte sie kurz und verließ das Büro.
Sie würdigte ihn keiner Antwort.
Er beugte sich über den Tisch und nahm den Notizblock an sich, auf dem sie geschrieben hatte. Während er las, was der Anrufer zu ihr gesagt hatte, presste er die Lippen fest zusammen. Die Drohungen hätten einem Albtraum entstammen können, so grausig waren sie: voller eindeutiger und sehr anschaulich geschilderter sexueller Gewaltfantasien.
Wieder und wieder las er die Aufzeichnungen durch, und sein Unbehagen wuchs. Natürlich konnte es sein, dass der Anrufer Annie nur gehörig Angst einjagen wollte. Ebenso gut war es aber auch möglich, dass sie wirklich in Lebensgefahr schwebte.
Er griff nach dem Telefon und wählte Whitley Scotts Nummer.
„Eine von uns muss zum Flughafen fahren“, wandte Cara sich an Annie, als sie den Test an der Kupferschale abgeschlossen hatten. „Da wartet dieses Paket aus Frankreich darauf, abgeholt zu werden.“
Annie schaute sie verständnislos an.
„Du weißt doch, das Paket, das am Westchester Airport ankommen sollte?“, erläuterte Cara. „Der Auftrag, mit dem du dich frühestens in zehn Jahren befassen kannst? Wir haben vor zwei Tagen darüber gesprochen.“
„Ah ja, natürlich, jetzt erinnere ich mich.“ Annie hatte sich die Haare wieder zu einem Pferdeschwanz gebunden, während sie an der Kupferschale arbeiteten, aber jetzt nahm sie das Band heraus und ließ die Haare offen über die Schultern fallen. Sie setzte sich auf einen der Holzstühle, die im Labor herumstanden. „MacLeish, wann haben wir eigentlich das letzte Mal Urlaub gemacht?“
Cara rückte ihre Brille zurecht und zog die Stirn kraus. „Du meinst so was wie eine Reise zu den Osterinseln: zwei Wochen durch Gestrüpp kriechen und gewaltige Steinköpfe besichtigen, die einer uralten, fast vergessenen Kultur entstammen? Oder meinst du eine Thanksgiving-Feier bei den Eltern? Oder denkst du am Ende gar an einen Kluburlaub: im Bikini am Strand liegen und sich von gut aussehenden Männern Daiquiris und Margaritas servieren lassen?“
„Ich denke an einen Kluburlaub. Definitiv an einen Kluburlaub.“
Cara kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Ich arbeite jetzt schon … wie viele Jahre für dich?“
„Unzählige.“
„Richtig. Und das letzte Mal haben wir Urlaub gemacht … Nie?“
„Dann wäre das ja klar“, antwortete Annie. „Wir brauchen Urlaub. Wenn wir alles erledigt haben, was noch ansteht. Ähm, wann wird das etwa sein?“
Cara zuckte die Achseln. „Ende Dezember, Anfang Januar?“
„Wir halten uns den Januar frei“, erklärte Annie. „Nimm bitte keine Aufträge mehr an, wenn es den Kunden nicht reicht, dass wir erst im Februar an die Arbeit gehen.“
„Ich danke dir, Gott“, stieß Cara mit Blick an die Zimmerdecke hervor. „Klub Med, wir kommen! Gesegnet seist du, meine Herrin!“
Annie stand auf. „Zurück an die Arbeit, Sklavin. Ich fahre zum Flughafen.“
Sie rannte schnell nach oben, holte sich ihre Jacke und die Wagenschlüssel. „Bis später!“, rief sie Cara zu und eilte leichtfüßig die Treppe hinunter.
Die Luft draußen war frisch und kühl. Sie knöpfte ihre Jacke zu und dachte kurz daran, dass sie wohl bald ihren Schal brauchen würde …
Pete Taylor stand neben ihrem Auto.
„Fahrbereit?“, fragte er.
Sie sah ihn verständnislos an.
„Ich bin Ihr Leibwächter“, erklärte er geduldig. „Das heißt, wenn Sie irgendwohin gehen, gehe ich mit.“
Annie schloss die Augen. Bitte, lieber Gott, dachte sie. Wenn ich jetzt die Augen öffne, mach, dass er weg ist. Lass das alles nur einen Albtraum sein …
Er war immer noch da. Verdammt, verdammt, verdammt!
„Ich fahre, wenn Sie wollen“, bot er an.
„Ich fahre gern selbst“, gab Annie gereizt zurück. Aber in ihrem Wagen stapelten sich Bücher, Aktenordner und leere Mineralwasserflaschen. Und sein Wagen war ein kleiner Sportwagen, ein Mazda MX5 … Ihr Blick wurde von dem glänzend schwarzen Flitzer geradezu magisch angezogen.
„Wir können mit meinem Wagen fahren, wenn Sie wollen“, schlug Pete vor, als könnte er ihre Gedanken lesen. Er hielt ihr die Schlüssel hin. „Wollen Sie fahren?“
Langsam streckte sie die Hand danach aus. „Was soll das? Ist das ein Leihwagen?“
Er schüttelte den Kopf und lächelte. Ein seltener Anblick. „Nein.“
„Sie wollen mir Ihren Wagen anvertrauen?“
„Sie vertrauen mir Ihr Leben an. Ich vertraue Ihnen mein Auto an.“
Annie schlüpfte hinters Steuer und stellte die Rückspiegel ein. Ihr wurde erst bewusst, wie klein das Auto war, als Pete ebenfalls einstieg und sich beinahe auf sie setzte. Er saß so dicht neben ihr, dass sie sich berührten. Vielleicht hätten sie doch ihren Wagen nehmen sollen …
Sie drehte den Zündschlüssel um, und der Motor begann leise zu summen.
„Ich habe dem FBI eine Kopie des Anrufs zugeschickt“, erklärte Pete.
„Oh, großartig.“ Annie verzog das Gesicht. „Ich wette, das sorgt dort für ordentliche Erheiterung.“ Sie manövrierte den Sportwagen aus der Einfahrt und spürte die Kraft, die im Motor steckte.
„Sie überprüfen ein paar Hinweise“, fuhr Pete fort, ohne auf ihren sarkastischen Einwand einzugehen. „Es gibt ein paar radikale Gruppierungen, die schon Ansprüche an die Totenmaske von Stands Against the Storm angemeldet haben. Eine weitere Gruppe hat offiziell Beschwerde eingereicht und fordert, dass die Totenmaske den Diné in New Mexico zurückgegeben wird.“
„Halt, lassen Sie mich raten: Keine dieser Gruppen hat tatsächlich etwas mit den Diné zu tun, richtig?“, fragte Annie und warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Sie wusste, wie die Antwort lauten würde.
„Richtig.“ Weiße Zähne blitzten auf, und sie schaute hastig wieder nach vorn auf die Straße. Sein Lächeln war einfach umwerfend. Nur gut, dass er so selten lächelte. „Die Diné wollen nichts mit der Totenmaske zu tun haben. Ihrer Meinung nach waren sie viel besser dran, als der böse Geist von Stands Against the Storm noch auf der anderen Seite des Atlantiks in England weilte.“
„Und wie denken Sie darüber? Wie fühlen Sie sich mit der Totenmaske im selben Haus?“
Sie riskierte noch einmal einen Seitenblick auf ihn. Diesmal lächelte er nicht, aber seine Augen ließen Belustigung erkennen.
„Sie glauben doch nicht ernstlich, dass mir das was ausmachen könnte, oder?“
„Sie sind zumindest teilweise selbst ein Diné“, gab Annie zurück. „Stimmt doch, oder?“
„Ja. Zur Hälfte. Ist das so offensichtlich?“
„Ehrlich gesagt, nein. Aber Ihre Kette hat Sie verraten. Sie ist so wertvoll. Dass Sie sie einfach so tragen, zeigt, dass sie Ihnen persönlich etwas bedeutet. Ich halte sie für ein Erbstück. Deshalb tragen Sie die Kette. Wenn Sie nämlich nur ein Sammler wären, würden Sie sie nicht tragen, sondern in einem Tresor einschließen.“
„Mein Großvater hat sie mir gegeben. Sein Großvater hat sie angefertigt. Der Ring und die Gürtelschnalle sind Handarbeiten meines Urgroßvaters. Alle drei Teile sind dafür gedacht, getragen zu werden. Nicht, irgendwo eingeschlossen zu sein.“
Sie schaute erneut kurz zu ihm hinüber. Als ihre Blicke sich trafen, spürte sie eine Wärme, die ganz anders war als das Feuer, das ständig zwischen ihnen zu lodern schien. Eine freundliche und sehr angenehme Wärme. Oh nein, ich fange doch nicht etwa an, den Kerl sympathisch zu finden?
Sie gab Gas. Hier durfte man hundert fahren, und der MX5 schnurrte nur so dahin.
„Also, was glauben Sie?“, fragte Annie. „Wer hat es wirklich auf die Totenmaske abgesehen? Wenn es nicht die Diné sind …“
Pete zuckte die Achseln. „Vielleicht hat das FBI recht, und dahinter steckt eine dieser radikalen Gruppen, die sich selbst für Freunde der amerikanischen Ureinwohner halten.“
„Aber Sie sind anderer Meinung.“ Sie warf ihm einen Blick zu. Er beobachtete sie, und sie spürte die Wärme in seinem Blick. Was er wohl tun würde, fragte sie sich plötzlich, wenn ich hinüberlange und meine Hand auf die seine lege?
Er würde annehmen, dass ich mich in ihn verknallt habe – wie vermutlich jede andere Frau, die ihm jemals über den Weg gelaufen ist. Aber sie wollte nicht nur eine weitere Kerbe in seinem Bettpfosten sein. Auf keinen Fall. Wenn sie schon dumm genug war, sich in diesen Mann zu verlieben, dann würde sie auf jeden Fall dafür sorgen, dass er sich auch in sie verliebte.
Irgendetwas sagte ihr allerdings, dass sie sich besser beeilen sollte. Sie mochte ihn schon jetzt und fühlte sich mächtig zu ihm hingezogen. Ihr Herz war bereit für ein ganz großes Abenteuer. Es war schon lange her, dass sie einem Mann begegnet war, den sie gerne näher kennenlernen wollte. Einem Mann, mit dem sie eine Beziehung eingehen wollte. Oh ja, sie konnte sich sehr gut vorstellen, mit Pete Taylor zusammen zu sein. Und wie gut sie sich das vorstellen konnte!
Ohne sich groß anzustrengen, konnte sie sich ausmalen, wie es sich anfühlen musste, seinen kräftigen durchtrainierten Körper an sich zu drücken. Wie er die Lippen zu einem Lächeln verzog – viel zu selten und doch so schön –, bevor er sich über sie beugte, um sie zu küssen. Wie er mit ihr das Bett teilte, die Haare feucht, sein erhitzter Körper fest mit ihrem verbunden. Wie er sie aus dunklen Augen beobachtete. Ständig beobachtete, ihr all ihre Geheimnisse entriss und dabei kein einziges seiner Geheimnisse preisgab.
Wieder warf sie ihm einen kurzen Blick zu, nur um schnell wieder wegzusehen. Nachher konnte er irgendwie ihre Gedanken lesen, wenn er ihr nur lange genug in die Augen schaute!
Aber das konnte er offenbar auch so. Als sie ihn erneut ansah, entdeckte sie für einen winzigen Augenblick heftiges Begehren in seinen dunklen Augen, bevor er hastig seinen Blick abwandte. Möglicherweise kämpfte er genau wie sie gegen die Verlockung.
Annie räusperte sich und konzentrierte sich auf die Ausfahrt zum Flughafen.
Pete versuchte möglichst unauffällig seine feuchten Handflächen an seiner Jeans abzuwischen. Junge, Junge, diese Frau brachte ihn vielleicht durcheinander. Irgendwann würde er den letzten Rest Selbstbeherrschung verlieren.
Annie folgte der Ausschilderung zum Parkdeck, lenkte den Wagen in eine Lücke und schaltete den Motor ab. Noch im Sitzen wandte sie sich Pete zu und schaute ihn ernst an.
„Wie stark gefährdet bin ich wirklich?“, fragte sie ihn unverblümt. „Stimmt es etwa nicht, dass die meisten Wirrköpfe diese Drohanrufe einfach nur machen, um ihre Opfer in Angst und Schrecken zu versetzen?“
„Doch, das stimmt schon. Aber selbst wenn die Chancen etwa eins zu einer Million stehen, dass der Anrufer es ernst meint – wozu das Risiko eingehen?“ Er hatte es bisher für sich behalten, aber der Wortlaut des Drohanrufs ließ sämtliche Alarmglocken bei ihm schrillen. Irgendetwas sagte ihm, dass es wirklich Grund zur Sorge gab. Da konnte es nicht schaden, lieber etwas vorsichtiger zu sein.
„Die Chance, dass ich bei einem Verkehrsunfall draufgehe, ist deutlich höher als eins zu einer Million, richtig?“, fragte Annie. „Und trotzdem gehe ich dieses Risiko jeden Tag aufs Neue ein.“
Pete schwieg und schaute sie einfach nur an, während er überlegte. Was konnte, sollte, durfte er ihr sagen? „Ich hab da ein ganz mieses Gefühl.“
Annie lächelte: „Sie und Han Solo.“
Pete blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“
„In Krieg der Sterne. Haben Sie den Film nicht gesehen?“
„Doch, schon, aber …“
„Han Solo hat das andauernd gesagt: ‚Ich hab da ein ganz mieses Gefühl, Chewie.‘“ Sie lachte über Petes Gesichtsausdruck. „Ach kommen Sie, Taylor, nehmen Sie doch nicht alles so todernst.“
„Wenn ich mich recht entsinne, bezog sich Solos üble Vorahnung auf finanzielle Aspekte“, meinte Pete. „Sein Schiff wurde von einem Traktorstrahl zum Todesstern gezogen, richtig?“
„Ja, nun, manchmal gewinnt man, manchmal verliert man.“ Annie lächelte. „Letztlich haben sie gewonnen, und nur darauf kommt es an.“
Pete musterte sie, und sie erwiderte seinen Blick, studierte ihn genauso eingehend wie er sie. Eine feine Narbe zog sich durch seine linke Augenbraue, aber ansonsten waren seine Gesichtszüge nahezu vollkommen. Die Nase war gerade und passte perfekt in sein Gesicht. Seine Augen waren groß, die Wimpern dicht und lang. Wäre er als Frau zur Welt gekommen, hätte er problemlos auf Mascara verzichten können. Die ausgeprägten Wangenknochen verliehen ihm einen leicht exotischen Touch, sodass er nicht nur einfach gut aussah, sondern umwerfend, geradezu gefährlich großartig. Seine Lippen waren wohlproportioniert und wirkten sinnlich. Allerdings presste er sie viel zu fest zusammen, sodass er eigentlich immer sehr ernsthaft, ja beinah finster wirkte. Die Haare trug er zu kurz, aber sie waren dunkel und schimmerten seidig. Wenn sie ein paar Zentimeter länger gewesen wären, wäre Annie womöglich der Versuchung erlegen, mit den Fingern hindurchzufahren. So aber rief ihr der kurze Haarschnitt immer wieder ins Gedächtnis, wer er war und warum er hier war.
Wenn sie ihm in die Augen schaute, war das wie ein Blick in einen mondlosen Nachthimmel. Sie verlor sich dabei in der geheimnisvollen, aufregenden Tiefe der Unendlichkeit, spürte die Verlockung des Abenteuers und einen mächtigen, alles verzehrenden Sog.
Annie fragte sich, warum er nicht den Versuch unternahm, sie zu küssen. Kaum war ihr der Gedanke gekommen, schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Küssen gehörte nicht zu seinem Job, und sie war nun mal ein Job, kein Rendezvous.
Andererseits ließ sich nicht leugnen, dass es zwischen ihnen knisterte. Annie hatte es schon vorher in seinen Augen gesehen. Ab und an sprühten Funken, nicht viele, aber genug, um ihr den Atem zu verschlagen. Auch jetzt konnte sie wieder eine schwache Glut des Verlangens in seinem Blick erkennen. Eine Glut, die sich sehr leicht zu lodernden Flammen anfachen ließe.
Am liebsten hätte sie der Verlockung nachgegeben. Aber sie hatte schon einmal eine Beziehung gehabt, die vor allem auf körperlicher Anziehungskraft beruhte. Und diese Beziehung hatte nicht gehalten. Verflixt noch mal, ich bin einfach keine Frau für eine schnelle Nummer. Genau deshalb hat mich Nick York, Schwarm aller Frauen, nie interessiert. Allerdings konnte Nick, so attraktiv er auch war, Pete nicht das Wasser reichen. Das lag nicht an Äußerlichkeiten. Nick sah genauso gut aus wie Pete, auch wenn er mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen ganz anders wirkte. Wahrscheinlich würden viele Frauen Nick sogar attraktiver finden als Pete, eben weil Nick immer fröhlich wirkte und ständig ein Lächeln auf seinem Gesicht lag. Aber Annie wusste, dass sie Nick nicht wirklich vertraute. Manchmal fragte sie sich sogar, ob Lügen und Betrügen für ihn eigentlich nur ein Sport war oder gar zu seiner Natur gehörte.
Pete Taylor wirkte geheimnisvoll, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass der Mann aufrichtig war. Wenn es um eine wichtige Sache ging, würde er womöglich lügen, aber nicht weil es ihm Spaß machte. Nick hingegen machte es Spaß, andere zu belügen.
Außerdem war Pete Taylor nicht durch und durch egoistisch. Oder unzuverlässig. Oder unehrlich und untreu …
Natürlich hatte sie Nick bei ihrer ersten Begegnung nicht sofort durchschaut. Und obwohl ihr Instinkt ihr sagte, dass Pete ein guter, freundlicher und ehrlicher Mann war – ihr Instinkt hatte sie auch schon getrogen.
Sosehr sie sich auch zueinander hingezogen fühlten, Annie war entschlossen, weder überstürzt noch leichtfertig zu handeln. Zumindest nicht bewusst, korrigierte sie sich innerlich lächelnd. Pete wird die nächsten zwei Monate ständig in meiner Nähe sein. Wir haben also jede Menge Zeit, einander kennenzulernen und Freundschaft zu schließen. Sollte ich mich immer noch so unwiderstehlich von ihm angezogen fühlen, wenn wir erst einmal Freunde sind, dann kann ja ich aktiv werden.
„Wissen Sie, was ich glaube?“, fragte sie schließlich.
Schweigend, sie immer noch aufmerksam beobachtend, schüttelte Pete den Kopf.
Er wagte nicht, etwas zu sagen, weil er sich nicht sicher war, überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen. Ja, er wusste nicht einmal, ob er in der Lage war, auch nur einen Muskel zu bewegen. Irgendwie war in den letzten paar Minuten der Wagen immer kleiner geworden. Obwohl sie sich beide nicht gerührt hatten, saßen sie jetzt so nah beieinander, dass er sich nur leicht hätte vorbeugen müssen, um sie zu küssen.
Pete zwang sich, ihr in die Augen zu sehen statt auf den Mund. Bloß nicht auf ihre weichen, leicht angefeuchteten Lippen schauen …
Er musste raus aus dem Wagen, sonst würde er eine Dummheit begehen. Aber er konnte nicht aussteigen. Obwohl er sie nur angeschaut hatte, war er so hochgradig erregt, dass er nicht einmal aufstehen konnte, ohne sich zu blamieren. Verdammt noch mal, was ist eigentlich los mit mir? Er fühlte sich beinah, als wäre er wieder siebzehn Jahre alt und hätte völlig die Selbstbeherrschung verloren.
„Ich glaube, dass das FBI hinter dieser ganzen Geschichte steckt“, sagte Annie. Sie stieg aus dem Wagen, drehte sich wieder zu ihm um, beugte sich vor und schaute ihn durch die offene Tür an. „Ich glaube, die Anrufe kommen vom FBI, und auch der Stein, den man mir durchs Fenster geworfen hat, kommt vom FBI. Ich glaube, das sind einfach nur weitere Einschüchterungsversuche.“
Petes Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos. „Ich schätze, Sie sind der Ansicht, dass auch ich zum FBI gehöre.“
„Ist dem so?“
Ihre Blicken trafen sich. „Nein“, antwortete er. „Ich gehöre nicht zum FBI.“
Sie nickte, ohne seinen Blick loszulassen. „Es ist dumm. Wissen Sie, ich habe keinen Grund, Ihnen zu glauben, aber ich tue es trotzdem.“ Sie lächelte schief. „Wahrscheinlich klinge ich, als würde ich unter Verfolgungswahn leiden, hmm? Kommen Sie, Han Solo, gehen wir rein.“
Langsam stieg Pete aus dem Wagen und schaute sie über das Autodach hinweg an. Er fühlte sich, als balancierte er auf rohen Eiern. Noch war alles bestens, aber er musste einen Schritt tun, und zwar einen sehr vorsichtigen …
„Es muss hart für Sie sein, dass Ihnen niemand glaubt“, sagte er.
„Wie recht Sie doch haben.“
„Erzählen Sie mir die ganze Geschichte“, forderte er sie auf. „Vielleicht kann ich helfen.“
Sie sah ihn an, mit großen, verletzlich dreinschauenden Augen. War sie wirklich in Kunstdiebstähle verwickelt? Er hatte keinen blassen Schimmer. Aber vielleicht würde sie ihm die Wahrheit sagen. Vertrau mir, Annie. Vertrau mir, vertrau mir, vertrau mir …
„Können Sie mir helfen, das FBI davon zu überzeugen, dass ich unschuldig bin?“, fragte sie beinah wehmütig. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich bin unschuldig, aber ich kann es nicht beweisen, deshalb macht man Jagd auf mich. Was ist eigentlich aus der Devise geworden, dass jeder als unschuldig zu gelten hat, solange seine Schuld nicht erwiesen ist, Taylor? Das wüsste ich nur zu gern.“
Sie warf einen Blick hinüber zum Terminal und dann auf ihre Armbanduhr. „MacLeish sagte mir, das Luftfrachtterminal sei nur bis drei geöffnet. Wir sollten uns sputen.“
Pete sah ihr nach, während sie rasch zu dem niedrigen Backsteingebäude hinüberging. Glaube ich ihr? Ich würde es gern tun.
Langsam folgte er ihr ins Terminal und ließ ihre Erscheinung auf sich wirken. Die Energie ihrer raschen Schritte, den unbewusst aufreizenden Schwung ihrer schmalen Hüften.
Oh ja, er hätte ihr nur zu gern geglaubt – weil er sie begehrte.
Normalerweise ließ er nicht zu, dass Sex die Dinge komplizierte. Sex war … nun ja, Sex.
Aber er mochte Annie. Er mochte sie wirklich. Und so seltsam es auch schien, er schlief nun mal nicht mit Frauen, die er mochte. Es sei denn, in einer vollkommen aufrichtigen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehung.
Nun ja, die Gegenseitigkeit war gegeben. Pete hatte in ihren Augen dasselbe Verlangen gesehen, das sich in ihm breitgemacht hatte. Aber Aufrichtigkeit? Innerlich schüttelte er den Kopf. Von Aufrichtigkeit konnte keine Rede sein, jedenfalls nicht, was ihn anging.
Nein, mit ihr zu schlafen kommt überhaupt nicht infrage. Selbst wenn sie die Initiative ergreift und mich dazu auffordert, werde ich nicht mit ihr schlafen.
Klar doch, dachte er mürrisch, und meine Mutter ist die Königin von England.
Pete sah zu, wie Annie die Frachtpapiere unterzeichnete, bevor ihr das wertvolle Paket ausgehändigt wurde. Er schob die Kiste näher an den Rand des Luftfrachtschaltertresens und hob sie an. Sie war schwerer, als er vermutet hatte. Er runzelte die Stirn. Das Ding war viel zu unhandlich, als dass er es mit einer Hand hätte tragen können.
„Wir brauchen einen Gepäckwagen oder jemanden, der uns hilft, die Kiste zum Wagen zu transportieren“, wandte er sich an den Mann am Schalter.
Annie schaute ihn überrascht an. „So schwer ist sie doch gar nicht“, sagte sie.
Pete wirkte tatsächlich verlegen. „Natürlich. Es wäre kein Problem, die Kiste zu tragen. Aber meine Aufgabe ist es, Sie zu bewachen. Vielleicht kapieren Sie das endlich mal! Der Flughafen hier ist voller Menschen. Ich brauche freie Sicht und muss im Notfall schnell nach meiner Waffe greifen können.“
„Da ist was dran“, gab Annie trocken zurück. „Man kann ja nie wissen. Womöglich müssen Sie ganz plötzlich einen bösen Geist umpusten.“
„Sam macht gerade Pause“, warf der Mann am Schalter ein, ohne sich durch die Erwähnung einer Waffe oder eines bösen Geists aus der Ruhe bringen zu lassen. „Er kann Ihnen helfen, wird aber erst in etwa zwanzig Minuten zurück sein.“
„Wir können warten“, antwortete Pete grimmig.
„Nein, können wir nicht“, widersprach Annie verärgert und nahm die Kiste selbst vom Tresen. Pete öffnete den Mund, um zu protestieren, aber sie fiel ihm ins Wort. „Sehe ich etwa so schwächlich aus? Ich trage die Kiste. Das hätte ich sowieso getan, wenn ich sie schon vor ein paar Tagen abgeholt hätte, bevor Sie zu meinem ständigen Begleiter wurden.“
Damit wandte sie sich dem Ausgang zu. Dass Pete sich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlte, entging ihr nicht. Er hielt ihr die Tür auf, und ihr wurde bewusst, dass er ein Kavalier war. Es ärgerte ihn wirklich, mit ansehen zu müssen, wie sie sich mit einer Last abmühte, die er mit Leichtigkeit hätte tragen können.
„Okay, warten Sie“, sagte er, als sie draußen waren. „Ich trage die Kiste.“
Annie ging einfach weiter. „Auf keinen Fall“, widersprach sie. „Sie sollten sich an Ihre Regeln halten. Das haben Sie doch immer getan, oder?“
Er nickte langsam.
„Deshalb sind Sie wahrscheinlich so gut in dem, was Sie tun.“
„Ja, aber ich komme mir dabei reichlich blöd vor.“
„Dass Sie sich blöd vorkommen, beweist, dass Sie nicht blöd sind“, erklärte Annie lächelnd. „Also entspannen Sie sich. Sie sind ein netter Kerl. Machen Sie sich keine Vorwürfe, nur weil Sie Ihre Arbeit ernst nehmen.“
Sie hält mich für einen netten Kerl. Pete spürte Wärme und Freude in sich aufsteigen. Sechste Klasse, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, und er stöhnte innerlich auf. So habe ich mich seit der sechsten Klasse nicht mehr gefühlt.