11. KAPITEL

D er Freitagmorgen dämmerte hell und klar herauf. Es versprach ein wunderschöner Herbsttag zu werden. Obwohl Annie gestern bis in die späte Nacht hinein gearbeitet hatte, wachte sie früh auf. Sie zog sich ihre schäbigsten Jeans an, ein Poloshirt, bei dem sich bereits der Kragen löste und darüber ein altes Sweatshirt. Ein bisschen Herumkramen und Suchen im Schrank förderte zwei Paar Arbeitshandschuhe zutage.

Pfeifend ging sie über den Flur zum Gästezimmer hinüber.

Die Tür stand wie immer offen, aber Pete lag noch im Bett. Seine Haare wurden allmählich länger. Sie waren verstrubbelt, und er brauchte dringend eine Rasur. Die über Nacht gewachsenen Bartstoppeln ließen ihn gefährlich aussehen. Dass er ohne Hemd schlief und so seine durchtrainierten Muskeln prachtvoll zur Geltung kamen, trug ebenfalls zu diesem Eindruck bei.

Annie wappnete sich gegen die Anziehungskraft, die sie immer zu überwältigen drohte, wenn sie mit Pete zusammen war, und warf ihm das größere Paar Handschuhe auf die Brust.

Mit einem Ruck fuhr Pete aus dem Schlaf. Bevor er nach seiner Pistole greifen konnte, erkannte er Annie. Einen Moment starrte er sie und die Arbeitshandschuhe verwirrt an, dann zog er die Augenbrauen hoch. „Wenn du mich zu einem Duell fordern willst, hast du nicht richtig getroffen.“

Annie lachte. „Heute geht es eher ums Laubharken.“

Pete rollte sich auf die Seite und warf einen Blick auf den Wecker. „Sind wir nicht gerade erst schlafen gegangen?“, fragte er.

Statt zu antworten, ging Annie hinüber zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Sonnenlicht strömte ins Zimmer. „Wie kann man an einem so schönen Tag noch im Bett liegen?“

Pete blinzelte in das grelle Licht. „Laub harken, hmm?“

„Beeil dich, zieh dich an. Ich will raus an die frische Luft. Wenn wir schnell arbeiten, sind wir mit dem Garten fertig, bevor Cara aufkreuzt.“

Sie wandte sich ab, um das Zimmer zu verlassen, aber Pete hielt sie zurück: „Annie.“

Er war schon dabei, seine Jeans anzuziehen, und ihr Blick wurde magisch angezogen von seinen Händen, die den Knopf am Bund schlossen und den Reißverschluss hochzogen. Himmel noch mal, jetzt starrst du ihm schon auf den Hosenschlitz, schalt Annie sich in Gedanken, und ihr schoss das Blut ins Gesicht.

„Ich weiß nicht recht“, meinte Pete, ohne ihr Unbehagen zu beachten. „Ich fürchte, das ist keine so gute Idee. Im Haus bist du viel sicherer aufgehoben. Draußen im Garten wärst du ein leichtes Ziel. Ich kann dich dort viel schlechter beschützen.“

„Weißt du, Taylor, einen so wundervollen Tag wie heute gibt es nicht allzu oft. Es tut mir leid, aber ich muss ihn einfach nutzen. Ich warte unten auf dich.“

Als Caras Wagen schließlich in die Einfahrt einbog, hatten Pete und Annie gerade mal die Hälfte des Rasens geharkt. Es war ungewöhnlich warm, und Annie hatte längst ihr Sweatshirt ausgezogen und sich ins Gras gesetzt. Die Haare hingen ihr lose auf die Schultern und schimmerten seidig, wenn der Wind mit ihnen spielte.

Pete lag auf dem Rücken im Gras. Er tat so, als schaute er den Wolken nach, aber in Wirklichkeit beobachtete er Annie. Immer wenn er glaubte, er hätte sich jede feine Linie, jeden ihrer Gesichtszüge eingeprägt, dann sah er sie wieder in einem anderen Licht. Wenn sie die Augen schloss und das Gesicht genießerisch der Sonne entgegenreckte, dann wirkte sie wie ein Engel, ruhig, heiter, abgeklärt. Das passte eigentlich gar nicht zu dem Eindruck, den Pete bisher von ihr gewonnen hatte.

Er hatte so großes Verlangen nach ihr, dass es wehtat. Aber immer wenn sie ihn Taylor nannte, war das wie ein Schlag ins Gesicht. Dann wurde ihm wieder bewusst, wie sehr er sie belogen hatte und immer noch belog.

Am meisten belastete ihn, dass er, obwohl er längst nicht mehr an ihrer Unschuld zweifelte, trotzdem nicht aufrichtig sein konnte. Annie Morrow war in keine kriminellen Kunstschiebereien verwickelt. Darauf hätte Pete sein Leben verwettet. Seit Wochen war er jetzt rund um die Uhr in ihrer Nähe, und sie hatte keine verdächtigen Anrufe getätigt oder entgegengenommen. Niemand hatte versucht, auf andere Weise Kontakt mit ihr aufzunehmen. Sie hatte ihre Post offen auf dem Schreibtisch liegen, und es gab nichts, was sie zu verbergen versuchte.

Bis auf ihre Gefühle für ihn.

Pete wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er vor seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen kapitulieren würde. Junge, wenn sie ihn nur ansah, wenn er die Sehnsucht in ihrem Blick bemerkte …

Annie öffnete langsam die Augen und ertappte ihn dabei, wie er sie anstarrte.

Verlegen schaute sie weg. Als sie sich ihm wieder zuwandte, hatte er sich aufgesetzt und kratzte irgendwelchen Dreck von seinen abgetragenen Cowboystiefeln.

„Ich habe heute Abend eine Verabredung“, sagte sie.

Seine dunklen Augen blitzten auf, und einen Moment lang glaubte Annie, Überraschung in seinem Gesicht zu lesen. Er überspielte das so schnell, dass man beinahe hätte glauben können, da wäre nichts gewesen.

„Heute Abend ist dieser Benefiz-Empfang im Museum für Moderne Kunst“, erläuterte sie. „Alle möglichen Geldgeber, Förderer, Sponsoren und jede Menge steinreicher Leute geben sich dort ein Stelldichein.“ Sie lächelte schief. „Und natürlich wird auch jeder Museumsleiter, Universitätsprofessor und unabhängige Forscher dort aufkreuzen, um potenzielle Sponsoren anzuhauen und um Gelder zu buhlen. Das wird eine Schleimerei und Speichelleckerei ohne Ende werden.“

„Wer ist der Glückliche?“, fragte Pete.

Annie sah ihn verständnislos an.

„Deine Verabredung. Wer ist es?“

„Nick York.“

Pete nickte langsam.

Annie wehrte sich gegen das Gefühl von Enttäuschung, das sie zu überwältigen drohte. Was hatte sie denn erwartet? Hatte sie allen Ernstes geglaubt, Pete würde eifersüchtig werden? Vermutlich war er eher erleichtert. Wenn sie mit Nick zusammen war, saß sie nicht zu Hause rum und himmelte Pete an wie ein verknallter Teenie.

„Ich gehe jetzt besser an die Arbeit“, sagte sie, stand auf und klopfte sich den Hosenboden ab. Sie wandte sich zum Haus.

„Annie.“

Sie blieb stehen, drehte sich langsam zu ihm um.

Pete hatte sich ebenfalls erhoben und stand da wie in einem Werbespot für Levi’s: knapp sitzende Jeans tief auf den Hüften, gebräunter muskulöser Oberkörper, Sonne auf der Haut.

„Danke für deine Geduld.“

Sein Blick schien sich in sie hineinzubohren. In den Augen brannte wieder die ihr schon so vertraute und unmissverständliche Glut. Derselbe Blick, den sie schon ein paarmal bemerkt hatte.

Annie schüttelte den Kopf und stieß mit einem verärgerten Lachen die Luft aus. „Taylor, was willst du eigentlich von mir?“

Er blinzelte. „Was?“

„Warum siehst du mich so an?“

Pete schaute zu Boden. „Wie schaue ich denn?“, fragte er, obwohl er verdammt genau wusste, wovon sie sprach.

„Ach vergiss es“, murmelte sie und ging steif zum Haus zurück.

„Lass die Alarmanlage an“, rief er ihr nach. Sie drehte sich nicht um, hob nur eine Hand, um zu zeigen, dass sie ihn verstanden hatte.

Er sah ihr nach, wie sie ins Haus ging, nahm dann wieder den Laubrechen zur Hand und arbeitete weiter.

Was will ich von ihr?

Ich hätte es ihr sagen sollen. Wie sie wohl reagiert hätte, wenn ich ihr die Wahrheit gesagt hätte?

Gegen halb zwei am Nachmittag läutete das Telefon. Annie war im Büro und ging ran, ohne nachzudenken. Erst als sie sich schon gemeldet hatte, fiel ihr ein, dass Pete ihr verboten hatte, ans Telefon zu gehen.

„Süße Annie“, meldete sich eine vertraute Stimme. Nick York. „Was hast du an?“

„Jeans. Warum?“

„Nein, doch nicht jetzt, liebes Dummerchen.“ Nick lachte. „Heute Abend. Was ziehst du heute Abend an?“

Wenn sie aus dem Bürofenster schaute, konnte sie sehen, wie Pete haufenweise Blätter zum Komposthaufen trug. Annie folgte ihm mit den Augen und verrenkte sich fast den Hals, als er aus ihrem Blickfeld verschwand. Hoffentlich hat er das nicht bemerkt. „Ich weiß nicht“, sagte sie ins Telefon. „Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.“

„Mach dich heute Abend ganz besonders hübsch, ja, Schätzchen? Zieh was Enges an, kurzer Rock, tiefer Ausschnitt. Vielleicht etwas Blaues. Das passt am besten zu deinen Augen. Ich will, dass du so richtig für Furore sorgst.“

„Und ich will meinen Ruf als ernst zu nehmende Wissenschaftlerin wahren“, protestierte Annie.

„Du bist die Beste auf deinem Gebiet“, murmelte Nick. „Jeder weiß das. Versprichst du mir, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen?“

„Ich verspreche dir, etwas Blaues anzuziehen. Eng, kurz oder hohe Absätze kann ich nicht garantieren.“

„Na schön“, antwortete Nick fröhlich, „aber wenn du mich liebst, auch nur ein ganz kleines bisschen liebst, dann trägst du heute Abend hohe Absätze. Ich hol dich um sieben ab.“

Annie legte auf und ging in Gedanken ihre Garderobe durch. Blau, dachte sie, was habe ich denn in Blau? Neue Jeans. Sie kicherte und stellte sich Nicks Gesichtsausdruck vor, wenn er kam, um sie abzuholen, und sie ihn in Jeans und dunkelblauen knöchelhohen Schnürschuhen empfing. Das wäre was.

Aber wie oft hatte sie schon Gelegenheit, sich mal richtig schick anzuziehen? Jeans trug sie jeden Tag.

Draußen war Pete inzwischen fast fertig mit Laubharken. Annie stellte sich vor, wie sie in einem engen Cocktailkleid und High Heels die Treppe hinunterstolzierte und dabei ihre langen Beine zeigte. Sie malte sich aus, wie sie sich an Pete vorbeidrängte und Nick liebevoll auf die Wange küsste. Dann würden Nick und sie in seinen Sportwagen einsteigen und davonfahren, während Pete ihnen mit offenem Mund eifersüchtig nachstarrte.

Naja, vermutlich nicht mit offenem Mund, dachte Annie. Sie seufzte. Vermutlich nicht einmal eifersüchtig. Pete würde es nicht einmal merken.

Sie stand auf. Pete merkte vielleicht nicht, was sie trug, aber Nick würde das sehr wohl wahrnehmen. Und vielleicht war das genau das, was ihr angekratztes Selbstbewusstsein jetzt brauchte.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief sie die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Irgendwo in den Tiefen ihres Kleiderschranks hing genau das richtige Kleid für diese besondere Gelegenheit.

Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war geschlossen. Annie zögerte, die Hand auf der Klinke. Seltsam, dachte sie. Ich habe die Tür nicht geschlossen. Vor ein paar Stunden, als ich die Teller vom Mittagessen wieder in die Küche getragen habe, war die Tür noch offen …

Vielleicht war Cara hier oben gewesen.

Sie ging wieder die Treppe hinunter und ins Labor, wo Cara sorgfältig den Rost von einem alten Eisentopf schrubbte.

„MacLeish, warst du oben?“, fragte Annie.

Cara blickte auf und überlegte einen Augenblick. „Nein. Heute nicht.“

„Und Jerry? Ist er raufgegangen, als er heute Mittag da war?“

„Nein“, sagte Cara und legte die Bürste beiseite. „Warum? Stimmt etwas nicht?“

Aber Annie war schon wieder in der Eingangshalle. Sie schaltete den Alarm für die Haustür ab und ging nach draußen.

Pete war beim Werkzeugschuppen und räumte auf. Er hatte sein T-Shirt noch nicht wieder angezogen und sah einfach umwerfend aus. Als sie näher kam, blickte er auf. „Was ist los?“, fragte er und ließ fallen, was er gerade in der Hand hielt.

Er hat meine Anspannung bemerkt, stellte Annie fest. Der Blick seiner dunklen Augen glitt prüfend über ihr Gesicht.

Sie schluckte und lächelte schwach. „Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten“, sagte sie, „aber meine Schlafzimmertür ist geschlossen, und ich bin sicher, sie offen gelassen zu haben. Cara hat sie nicht geschlossen, Jerry war nicht einmal oben, als er vorhin hier war, und …“ Sie zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich war es nur der Wind.“

Pete schaute hoch zum Haus und suchte nach Annies Schlafzimmerfenstern. „Deine Fenster sind geschlossen“, sagte er und schenkte ihr ein kurzes ernstes Lächeln. „Ich bin stolz auf dich. Du hast die Tür nicht geöffnet, sondern bist zu mir gekommen und hast mir davon erzählt. Das war genau richtig.“

Er nahm sie beim Arm und führte sie um das Haus herum zur Eingangstür. Dabei zog er seine Waffe aus dem Holster und hielt sie schussbereit in der Hand, als sie das Haus betraten.

Pete schaute erst die lange Treppe hinauf, dann wieder zu Annie. Wenn jemand ins Haus eingedrungen war, musste er nicht unbedingt hinter der geschlossenen Tür lauern. In seiner Nähe war Annie sicherer.

„Bleib direkt hinter mir“, sagte er ruhig.

Annie nickte und begann hinter ihm die Treppe hinaufzusteigen. Pete warf einen Blick über die Schulter. „Dichter hinter mir“, flüsterte er, griff mit der Linken nach ihr und zog sie so dicht an sich heran, dass sie beinah an ihm klebte.

Sie hob abwehrend die Hand, um nicht mit der Nase gegen sein Schulterblatt zu prallen. Ihre Finger stießen dabei gegen seinen Rücken. Unter den Fingerspitzen spürte sie seine Wärme und die feste und doch so weiche Haut über den straffen Muskeln. Nur mit Mühe widerstand sie dem Impuls, ihre Lippen auf seinen Rücken zu drücken und mit der Zunge das Salz auf seiner Haut zu schmecken.

Pete blieb an der Wand neben ihrer Tür stehen, außerhalb einer möglichen Schusslinie. Vorsichtig streckte er die Hand aus, drückte die Klinke herunter, gab der Tür einen Stoß, und sie schwang auf.

Im Schlafzimmer war es dunkel. Die Vorhänge waren zugezogen, kein Laut war zu hören, keine Bewegung zu sehen.

„Ich habe die Vorhänge nach dem Duschen offen gelassen“, hauchte Annie Pete ins Ohr.

Er nickte kurz. „Bleib zurück“, flüsterte er, überprüfte seine Waffe, ob sie entsichert war.

Sie griff nach seinem Arm. „Sei vorsichtig, Pete“, sagte sie leise.

Sein Blick streifte für einen Sekundenbruchteil ihren Mund, bevor er sich wieder auf das Schlafzimmer richtete. Annie schlug das Herz bis zum Hals. Fühlte Pete vielleicht doch etwas für sie? Aber der Moment war vorbei, Petes Gesicht zeigte keinerlei Emotion mehr.

Ohne Vorwarnung sprang er vor die offene Tür, die Arme vorgestreckt, die Waffe mit beiden Händen haltend. Durch die plötzliche Bewegung aufgeschreckt, schoss eine Wolke von Fledermäusen aus Annies Zimmer.

Fledermäuse!

Pete fluchte, während die Tiere um ihn herumflatterten und schrien.

Annie drückte sich an die Wand, aufkommende Panik im Blick. Er griff nach ihr und zog sie zu Boden, gab ihr mit seinem Körper Deckung. Mit einer Hand griff er nach der Türkante und knallte die Tür ins Schloss.

„Cara, mach die Labortür zu!“, rief er.

Er hörte, wie unten die Tür zufiel. Dann hörte er Cara jammern: „Oh Gott, nein, sind das etwa Fledermäuse?“

Es waren Hunderte. Sie flatterten hin und her, verwirrt, orientierungslos und vom hellen Sonnenlicht geblendet.

Pete zog Annie zur Treppe. Halb trug er sie hinunter, halb zerrte er sie mit sich. Er musste sie hier rausschaffen, und das nicht nur, weil sie Angst vor den Tieren hatte. Fledermäuse konnten mit Tollwut infiziert sein. Er durfte nicht zulassen, dass Annie gebissen wurde, aber es waren so viele, und sie waren einfach überall …

Er zog Annie zum Eingang und riss die Tür auf. Die Tiere bemerkten sofort den Fluchtweg nach draußen, und ein ganzer Schwarm schoss auf die offene Tür zu. Gleichzeitig ging die Alarmanlage in voller Lautstärke los.

Annie duckte sich in dem verzweifelten Bemühen, dem Geflatter auszuweichen. Aber sie war nicht schnell genug. Eine der verängstigten Fledermäuse kam ihr zu nah und verfing sich in ihren Haaren. Jetzt geriet Annie vollends in Panik, sie schlug nach dem Tier, riss sich von Pete los und rannte ins Freie hinaus. Die Fledermaus hatte mindestens genauso viel Angst wie Annie und versuchte sich zu befreien, verhedderte sich aber nur noch mehr in den Haaren.

„Pete!“ Annie schrie, und er war sofort an ihrer Seite, pflückte das heftig flatternde Tier aus ihren Haaren und ließ es dann vorsichtig frei.

Annie versagten die Knie, aber Pete hielt sie fest in den Armen. Sanft ließ er sich mit ihr zu Boden gleiten, sodass sie auf seinem Schoß zu sitzen kam. Er konnte spüren, wie sie zitterte, die Arme fest um seinen Hals geschlungen.

Etliche lange Minuten hielt er sie fest, bis er fühlte, wie ihr Puls sich allmählich beruhigte. Dann versuchte er sanft ihre Finger von seinem Hals zu lösen, aber sie wollte nicht loslassen. „Komm schon, Liebes“, murmelte er. „Die Fledermaus ist ja weg. Aber ich möchte mal nachsehen, ob sie dich auch ganz sicher nicht gebissen hat.“

Endlich ließ Annie los und hielt mit geschlossenen Augen still, während Pete die Finger durch ihr Haar gleiten ließ und sorgfältig jeden Quadratzentimeter Kopfhaut und Hals auf Bissspuren untersuchte.

Als er fertig war, waren auch schon die Sanitäter da, die Cara in ihrer Aufregung gerufen hatte. Kurz darauf traf auch die Polizei ein, um zu überprüfen, ob es einen Einbruch gegeben hatte. Und zu guter Letzt kam noch der Wagen des örtlichen Tierarztes die Auffahrt hinaufgefahren. Während die Sanitäter Annie untersuchten, gingen die Polizisten durchs Haus und schalteten die Alarmanlage ab. Pete zog sein T-Shirt über, das er bei der Gartenarbeit abgelegt und auf dem Rasen liegen gelassen hatte.

Als der Tierarzt und seine Helfer alle Fledermäuse im Haus gefunden und in die Freiheit entlassen hatten, war es bereits nach fünf. Inzwischen war auch der Wagen der Alarmanlagenfirma eingetroffen. Der Mann, der die Anlage in der Eingangshalle installiert hatte, diskutierte mit Pete und der Polizei. Die Alarmanlage und der Bewegungsmelder waren eingeschaltet gewesen und hatten bei der nachträglichen Kontrolle einwandfrei funktioniert. Also hätte niemand ins Haus eindringen können, ohne dass Alarm ausgelöst worden wäre, wie der Alarmanlagenspezialist immer wieder betonte.

„Vielleicht sind die Fledermäuse durch ein Loch im Dach ins Haus gelangt“, meinte der Mann gerade, als Annie zu der kleinen Gruppe trat.

„Dann haben wohl auch die Fledermäuse meine Schlafzimmertür geschlossen und die Vorhänge zugezogen“, merkte sie bissig an.

Pete warf ihr einen Blick zu. Sie wirkte immer noch sehr blass, schien sich ansonsten aber wieder gefangen zu haben, und ihre Augen sprühten Funken.

„Die Anlage war den ganzen Tag angeschaltet“, ergänzte Pete ihre Aussage, wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinen Gesprächspartnern zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gelegentlich haben wir den Alarm an der Vordereingangstür überbrückt, aber ich hatte sie dann immer im Blick, und glauben Sie mir: Niemand, der hier nichts zu suchen hat, ist durch diese Tür rein- oder rausgegangen.“

Der Alarmanlagenspezialist zuckte die Achseln. „Ich überprüfe die Anlage noch mal“, sagte er und trat wieder auf die Schalttafel zu.

Pete verabschiedete sich von den Polizisten und wandte sich dann Annie zu. „Es tut mir so leid“, sagte er voller Mitgefühl.

„Ich muss mir die Haare waschen“, antwortete sie und schauderte. „Oh Mann, ausgerechnet Fledermäuse.“

Pete runzelte die Stirn. „Der Gedanke, dass ein Eindringling mit dir zusammen im Haus gewesen sein könnte, macht mich verrückt.“ Er rieb sich die Schläfen und strich sich dann mit der Hand durchs Haar, als hätte er Kopfschmerzen. „Wenn dich jemand töten wollte“, fuhr er schroff fort, „dann hätte er die Möglichkeit gehabt. Und ich hätte nichts, aber auch gar nichts dagegen tun können, Annie. Ich hätte es da draußen im Garten nicht einmal mitbekommen.“

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Es ist ja nichts passiert. Alles in Ordnung.“

„Nein, nichts ist in Ordnung.“ Pete betrachtete ihre Hand, die Finger, die blass und glatt auf seiner gebräunten Haut lagen. Er trat einen Schritt zurück, und ihre Hand glitt von seinem Arm. „Wir können heute Nacht nicht hierbleiben. Es ist nicht sicher.“

„Das war doch nur ein Streich“, widersprach Annie. „Die wollten mir Angst machen.“ Sie lächelte kläglich. „Und das ist ihnen auch gelungen.“

„Wenn sie einmal ins Haus eindringen konnten, dann können sie es wieder.“

„Du hast doch selbst gesagt: Wenn sie mich hätten töten wollen, hätten sie es tun können. Offensichtlich wollen sie es nicht.“

„Noch nicht.“ Pete schüttelte den Kopf. „Ich werde deine Alarmanlage noch weiter aufrüsten lassen. Solange das nicht erledigt ist, bleiben wir nicht hier, sondern gehen in ein Hotel. Ich habe schon mit den Leuten vom FBI über zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen gesprochen.“

Annie verschränkte die Arme vor der Brust. „Was ist mit den Sachen im Tresor? Da liegen unersetzliche Antiquitäten im Wert von über zwei Millionen Dollar. Die lasse ich nicht einfach hier.“

„Ich organisiere eine Wache. Rund um die Uhr, außerhalb des Hauses. Ich habe außerdem dafür gesorgt, dass alle Schlösser im Haus ausgetauscht werden.“

Annie starrte ihn fassungslos an. „Und du hast es nicht einmal für nötig gehalten, mich zu fragen, ob ich will, dass die Schlösser ausgetauscht werden?“, fragte sie verärgert. Das ging allmählich wirklich zu weit …

„Ich bin davon ausgegangen, dass du am Leben bleiben möchtest.“

Annie warf einen Blick auf ihre Uhr: Fast sechs. Sie hatte nur noch eine Stunde, um all die Leute aus dem Haus zu kriegen, sich zu duschen und umzuziehen. „Wo ist Cara?“, fragte sie plötzlich, als ihr auffiel, dass niemand im Labor war.

„Im Büro. Die FBI-Leute verhören sie.“

„Sie verhören sie?“

„Sie ist eine Verdächtige, Annie. Sie und Tillet sind die Einzigen, die außer dir und mir Schlüssel zum Haus haben. Wenn Tillet so dringend Geld braucht, wie er sagt …“

In Annies Augen zog ein Gewitter herauf. Wütend trat sie einen Schritt näher. „Geh sofort da rein“, verlangte sie, „und erkläre den Typen, dass Cara keine Verdächtige ist.“

Pete hob besänftigend die Hände. Es brachte nichts. „Annie, du musst doch zugeben, dass Cara den ganzen Tag Zugang zu deinem Schlafzimmer hatte. Es gibt keinen Beweis, dass sie nicht irgendwas mit der Sache zu tun hat …“

„Ich brauche keine Beweise“, fuhr Annie ihm über den Mund. „Also bitte, gehst du jetzt rein und sagst den Leuten, dass sie sofort aufhören sollen, Cara zu schikanieren, oder muss ich das selbst machen?“

Bevor Pete antworten konnte, öffnete sich die Bürotür, und Cara kam heraus. Sie wirkte verstört.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Annie. In ihren Augen spiegelte sich Sorge um ihre Freundin.

Caras Unterlippe zitterte. „Annie, du glaubst doch nicht, dass ich irgendwas damit zu tun habe, oder? Dass ich diese Fledermäuse in dein Zimmer geschafft habe?“

„Ich weiß, dass du nichts damit zu tun hast, MacLeish.“ Annie lachte. „Dich als Fledermausbändigerin kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“

„Igitt“, meinte Cara und lächelte ein wenig zittrig.

„Ich gebe dir zwei Wochen bezahlten Urlaub“, fuhr Annie fort.

Cara runzelte die Stirn. „Das kannst du dir im Moment gar nicht leisten …“

„Mr Marshall kann“, erwiderte Annie verschwörerisch lächelnd und wurde gleich wieder ernst. „MacLeish, ich lasse nicht zu, dass irgendwer dich für alles verantwortlich macht, was hier schiefläuft. Tu also bitte uns beiden einen Gefallen: Fahr nach Hause und lass dich die nächsten zwei Wochen nicht hier blicken.“

„Ich fühle mich dabei, als würde ich dich im Stich lassen“, protestierte Cara.

„Du lässt mich nicht im Stich. Ich sehe euch beide heute Abend im Museum, richtig?“

„Was?“, fragte Pete.

„Oh nein, sieh nur, wie spät es schon ist“, entfuhr es Cara. „Ich hätte schon vor einer Stunde zu Hause sein sollen. Jerry wollte früh zu der Feier …“ Sie schloss Annie in die Arme. „Bis nachher!“

Pete biss die Zähne zusammen. Er wartete, bis Cara das Haus verlassen hatte, und wandte sich dann Annie zu. „Du gehst heute Abend auf keinen Fall zu diesem Empfang.“

Annie reckte ihm das Kinn entgegen. „Oh doch, das werde ich.“

Pete strich sich mit beiden Händen übers Gesicht und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Annie.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir sind beide erschöpft. Keine gute Voraussetzung, um ein Bad in der Menge zu nehmen. Das ist zu gefährlich.“

Vielleicht hätte sie ihm zugestimmt, wenn er mit ihr geredet hätte, bevor er die Schlösser austauschen ließ, und wenn er sich hinter Cara gestellt hätte. Sie war tatsächlich erschöpft. Aber sie war auch wütend. Wütend, weil die Dinge außer Kontrolle geraten waren, wütend, weil ihr Leben mehr und mehr fremdbestimmt wurde, wütend auf Pete …

„Ich bin verabredet“, stellte sie kühl klar. „Ich muss mich jetzt fertig machen.“

Damit drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf. Oben blieb sie stehen, wandte sich um und schaute zu Pete hinunter. Er stand, wo sie ihn hatte stehen lassen, und blickte hoch zu ihr. Seine Jeans waren dreckig, sein T-Shirt übersät von Schweiß- und Grasflecken, und er hatte sich den ganzen Tag weder rasiert noch geduscht. „Sag bitte den FBI-Agenten, sie sollen verschwinden“, forderte sie ihn auf. „Ich will sie hier nicht mehr sehen, wenn Nick kommt.“

Annie zog gerade ihre Strumpfhose an, als es leise an der Schlafzimmertür klopfte. Sie warf sich ihren Morgenmantel über und öffnete die Tür. Pete stand im Flur.

„York ist da“, sagte er ausdruckslos. „Er wartet im Wohnzimmer.“

Annie nickte. Sie wich seinem Blick aus. „Danke.“

Als sie die Tür wieder schließen wollte, stemmte er sich mit einer Hand dagegen. „Ich werde mich kurz duschen“, sagte er. „Fahrt nicht ohne mich los.“

Annie verschränkte die Arme. „Taylor, ich bin verabredet. Irgendwie kann ich mir nicht so recht vorstellen, dass es Nick gefallen wird, wenn du mitkommst.“

Pete lächelte, und Annie musste den Blick abwenden. „Verständlich“, räumte er ein und beobachtete, wie sie die Fußbodendielen musterte. „Aber ich werde dich beschützen. Wenigstens vor Nick York.“

Annie blickte scharf auf. „Und wenn ich gar nicht vor Nick beschützt werden möchte?“

Pete antwortete nichts, er schaute sie einfach nur an. „Vergiss nicht, Kleidung zum Wechseln einzupacken“, sagte er schließlich. „Wir werden die Nacht in einem Hotel in der Stadt verbringen.“

Verärgerung durchzuckte sie. „Und wenn ich mich entschließe, mit Nick York in seine Wohnung zu fahren?“, fragte sie, nur um die übereilten Worte gleich wieder zu bereuen.

Pete wirkte wie vor den Kopf geschlagen. Er überspielte das meisterhaft, konnte aber den Schmerz in seinen Augen nicht ganz verbergen. „Entschuldige“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Ich … wusste nicht, dass du und York …“

„Nein“, warf Annie rasch ein. „Zwischen uns läuft nichts. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Es war dumm. Ich …“ Verlegen schaute sie weg. „Ich wollte dich nur eifersüchtig machen“, gab sie leise zu. „Es tut mir leid.“

„Hat funktioniert.“

Ihre Blicke trafen sich, und sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß immer noch nicht, was du von mir willst, Pete. Es hätte mir sehr gefallen, wenn wir einander nähergekommen wären, aber das ist nicht der Fall, und heute Abend gehe ich mit Nick aus. Wenn du unbedingt mitkommen musst, verhalte dich bitte unauffällig. Hast du etwas Geeignetes anzuziehen? Es handelt sich um eine feierliche Abendveranstaltung …“

„Keine Sorge, ich komme schon klar“, erwiderte Pete und ließ die Tür los.

Schön, dachte Annie und drückte die Tür ins Schloss. Aber komme ich auch klar?