3. KAPITEL

Annie reckte und streckte sich zufrieden. Sich mal so richtig gehen zu lassen und den ganzen Tag im Bett zu verbringen machte Spaß – auch wenn sie sich das eigentlich gar nicht leisten konnte, weil im Labor so viel Arbeit auf sie wartete.

Andererseits hätte sie sowieso nicht viel geschafft, wenn sie versucht hätte, zu arbeiten. Sie war viel zu müde und erschöpft gewesen, um sich konzentrieren zu können, und hätte am Ende alles nur noch einmal machen müssen. Also hatte sie stattdessen tief und fest geschlafen und fühlte sich jetzt viel besser. Außerdem hatte sie Hunger. Richtigen Hunger.

Sie schlug die Bettdecke zurück und ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen. Auf Duschen hatte sie jetzt keine Lust. Wozu auch? Cara würde in etwa einer Stunde Feierabend machen, und den Kunstschätzen, die Annie einigen Tests unterziehen musste, war es egal, ob sie im Schlafanzug arbeitete. Sie bürstete sich rasch die Haare und legte ein wenig Feuchtigkeitscreme auf.

Plötzlich fiel ihr auf, dass es draußen bereits dunkel war. Offensichtlich war es später, als sie gedacht hatte.

Barfuß ging sie die Treppe hinunter und rief nach Cara: „MacLeish, bist du noch da?“

„Nein, sie ist nach Hause gegangen.“

Annie blieb abrupt stehen. Im Schatten des Foyers stand ein Fremder. Wie war er hereingekommen? Was tat er hier? Angst packte sie und jagte einen Adrenalinstoß durch ihren Körper. Ihr Herz begann zu rasen, und sie war drauf und dran, wieder nach oben zu rennen, die Schlafzimmertür hinter sich zuzuknallen und sich einzuschließen.

Der Mann musste erkannt haben, dass er sie erschreckt hatte, denn er trat hastig ins Licht und sprach weiter: „Steven Marshall schickt mich.“ Seinem leichten Akzent nach zu urteilen kam er von irgendwo westlich des Mississippi. Seine Stimme war ein klangvoller Bariton. „Ich heiße Pete Taylor und bin Sicherheitsexperte. Ihre Assistentin hat mich reingelassen. Sie wollte Sie nicht wecken …“

Er war knapp einen Meter achtzig groß und hatte den eleganten, durchtrainierten Körper eines Langstreckenläufers. Seine Haare waren schwarz, und er trug sie militärisch kurz. Sein Gesicht wirkte auf exotische Weise attraktiv. Die breiten, kantigen Wangenknochen betonten die dunklen Augen. Augen, so tiefbraun, dass Annie keine klare Abgrenzung zwischen Iris und Pupille erkennen konnte. Seine fein geschwungenen Lippen zeigten kein Lächeln. Irgendetwas sagte ihr, dass dieser Mann nicht sonderlich oft lächelte.

Er hielt ihr seine aufgeklappte Brieftasche hin, sodass sie einen in Plastik eingeschweißten Dienstausweis sehen konnte.

Allen Bemühungen zum Trotz zitterte Annies Hand, als sie das weiche Lederetui entgegennahm, und sie sah ein kurzes belustigtes Aufblitzen in seinen dunklen Augen. Er fand es also amüsant, dass sie Angst vor ihm hatte. Was für ein Idiot.

Sie setzte sich auf eine Stufe, um seinen Ausweis zu studieren. Peter Taylor, achtunddreißig Jahre alt, Privatdetektiv und Sicherheitsexperte mit offizieller Zulassung. Unter diesen Angaben stand eine New Yorker Adresse im eher teuren Viertel Greenwich Village. Die Brieftasche enthielt außer dem Dienstausweis einen Führerschein, ausgestellt im Staat New York, und mehrere Kreditkarten: American Express Gold auf den Namen Peter Taylor, gültig bis zum März nächsten Jahres, Mastercard, Visa und Sears. Dazu über fünfhundert Dollar in bar und einen kleinen Stapel seiner eigenen Visitenkarten.

Sie klappte die Brieftasche zu und reichte sie ihm brüsk zurück. Als ihre Blicke sich trafen, sah sie erneut einen Anflug von Belustigung über sein so ernsthaftes Gesicht huschen.

„Finde ich Gnade vor Ihren Augen?“, fragte er. Als er die Brieftasche in der linken Innentasche des Tweedsakkos verstaute, erhaschte sie einen kurzen Blick auf sein Schulterholster mit der Waffe darin.

Annie nickte. „Fürs Erste“, sagte sie. Sie gab sich größte Mühe, formell und höflich zu klingen. „Aber nur damit eines klar ist: Sie sollten wissen, dass ich Sie nicht hier haben will. Ihre Anwesenheit empfinde ich als eine Zumutung, und ich habe vor, morgen mit Marshall darüber zu reden. Machen Sie sich also nicht die Mühe, Ihren Koffer auszupacken. Sie reisen schon morgen früh wieder ab.“

„Ich habe heute Nachmittag mit Mr Marshall gesprochen. Er besteht darauf, dass ich bleibe. Offenbar macht er sich Sorgen um Ihre Sicherheit, und irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass er so schnell seine Meinung ändern wird.“

Annie starrte ihn an. Wie er da vor ihr stand, die Beine leicht gespreizt, die Arme vor der Brust verschränkt, strahlte er Standfestigkeit und Selbstsicherheit aus. Seine Jeans spannten sich über den straffen Oberschenkelmuskeln. Die große silberne Gürtelschnalle war ganz offensichtlich eine Arbeit der Diné. Annie konnte es nicht genau sehen, aber er trug an der rechten Hand einen Silberring, den sie ebenfalls für eine Diné-Arbeit hielt, und eine silberne Kette unter seinem Hemd. Sie war fast sicher, dass mindestens ein Elternteil ein amerikanischer Ureinwohner war, wahrscheinlich ein Diné.

„Wo sind Sie aufgewachsen?“, fragte sie.

Er blinzelte, überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel. „In Colorado. Überwiegend.“

Seine Schultern und die Nackenmuskeln versteiften sich leicht. So leicht, dass er es vermutlich nicht einmal selbst bemerkte, aber Annie fiel es auf. Irgendetwas an ihrer Frage hatte ihn in die Defensive gedrängt und sein Misstrauen geweckt. Lag es daran, dass sie ihm eine persönliche Frage gestellt hatte? Oder hing sein Unbehagen mit Colorado zusammen? Oder gar mit diesem merkwürdigen „überwiegend“?

Sofort war sie von ihm fasziniert. Nicht etwa, weil er so verflixt gut aussah, versuchte sie sich selbst zu überzeugen. Die unbestreitbare Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, beruhte vielmehr auf seiner ruhigen Wachsamkeit und einem leichten mysteriösen Touch. Dieser Mann hatte Geheimnisse, Dinge, die er nicht preisgeben wollte oder die ihn zumindest vorsichtig sein ließen. Was verbarg er?

„Sie reiten, nicht wahr, Taylor?“, fragte sie und schaute ihn an, den Kopf leicht schräg gelegt. Sie wollte die Rätsel, die er ihr aufgab, unbedingt lösen und hoffte, dass seine Reaktion ihr Hinweise gab.

Pete wurde klar, dass sie ihn beobachtete. Sie studierte ihn, als wäre er eines ihrer Kunstwerke, prägte sich jedes kleine Detail ein, suchte nach seinen Fehlern und Schwächen.

Es gab nur eine Weise, sich gegen diese Musterung zur Wehr zu setzen. Pete verzog keine Miene, nahm aber nun seinerseits die Frau ihm gegenüber genauer ins Visier.

Die Haare, sorgfältig aus dem Gesicht gestrichen, hingen ihr lose um die Schultern und schimmerten seidig im Licht der Lampe. Dr. Anne Morrow trug einen Herrenschlafanzug, der ihr zu groß war. Die Beine hatte sie umgekrempelt und die Ärmel hochgerollt. Kein Make-up. Dennoch sah sie nicht nackt und verwundbar aus wie die meisten ungeschminkten Frauen, sondern einfach nur sauber, gewaschen und frisch.

Ihre Augen waren leuchtend blau, und sie hielt seinem Blick problemlos stand, als wollte sie seine Gedanken erforschen.

„Ja“, beantwortete er schließlich ihre Frage.

„Dachte ich mir. Entweder Sie reiten, oder Sie fahren Motorrad. Kommen Sie sich nicht seltsam vor, wenn Sie eine Waffe tragen?“

„Nein.“

„Was wissen Sie über Totenmasken?“

„Nicht viel.“ Sie bombardierte ihn mit Fragen, als hätte er ein Vorstellungsgespräch zu bestehen, und er beschloss, sich auf ihr Spiel einzulassen. Vielleicht trug das dazu bei, dass sie ihm ihr Vertrauen schenkte. Schaden konnte es jedenfalls nicht. Schließlich würde er ihr nichts erzählen, was sie aus seiner Sicht nicht wissen sollte.

„Und über Echtheitsprüfungen von Kunstwerken?“

„Genauso wenig.“

„Einen Diné-Häuptling des neunzehnten Jahrhunderts namens Stands Against the Storm?“

„Nicht mehr als das, was Marshall mir heute Morgen zugefaxt hat.“

„Haben Sie es gelesen?“

„Natürlich.“

Sie musterte ihn nachdenklich. „Wo sind Sie zur Schule gegangen?“

Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

Annie registrierte die Bewegung genau. Während die meisten Leute nur ungern ihre Unwissenheit zugaben, hatte es ihm nicht das Geringste ausgemacht, ihr zu sagen, dass er nur wenig über die Analyse von Kunstwerken wusste. Aber diese persönliche Frage, diese Frage zu seinem persönlichen Hintergrund, war ihm unangenehm. Woran mag das nur liegen?

„New York University“, sagte er.

Laut dem Lebenslauf, den die CIA für Peter Taylor ausgearbeitet hatte, war er vier Jahre lang auf die New Yorker Universität gegangen. Tatsächlich war er in dieser Zeit nicht ein einziges Mal in New York gewesen. Aber er hatte schon so oft und bei so vielen Einsätzen Peter Taylor gespielt, dass er sich beinahe an den imaginären Unterricht erinnern konnte …

„Ist Ihnen bekannt, dass derzeit das FBI und die CIA gegen mich ermitteln?“, fragte sie. Dabei ließ sie ihn keinen Moment aus den Augen.

Die Unverblümtheit ihrer Frage überraschte ihn und brachte ihn für einen Moment aus dem Konzept. Kurz wandte er den Blick ab.

„Sie glauben, ich gehöre zu einer Art internationaler Bande von Kunstdieben“, fuhr sie fort.

Er schaute auf und sah die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen. „Stimmt es?“

Gut reagiert, dachte Annie. Offensichtlich weiß er von den Ermittlungen. Jede Wette, dass er sich sehr genau über sie informiert hatte, bevor er von New York hierhergekommen war. Das überraschte sie nicht im Geringsten. Marshall hätte niemals jemanden angeheuert, der nicht hervorragend in seinem Fach war.

„Haben Sie Hunger?“, fragte sie, erhob sich von der Treppenstufe, streckte sich und reckte die Arme dabei weit über den Kopf. Seine Frage beantwortete sie nicht. „Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen, und wenn ich nicht bald etwas zwischen die Zähne bekomme, verhungere ich.“

Ihre Schlafanzughose saß lose und tief auf ihren schmalen Hüften. Petes Blick fiel unwillkürlich auf das Stück nackte Haut, das zwischen dem Oberteil und dem lose sitzenden Hosenbund hervorlugte, als sie sich streckte. „Ich habe schon gegessen, danke“, sagte er. „Außerdem übernimmt Mr Marshall meine Spesen. Es wäre nicht fair, Sie für mich bezahlen zu lassen. Zumal Sie mich nicht einmal hier haben wollen.“

„Das richtet sich nicht gegen Sie persönlich“, erklärte Annie, wandte sich um und ging die Treppe hinauf Richtung Küche.

„Ich weiß“, gab er zurück und folgte ihr nach oben.

Sie schaltete das Licht in der Küche ein, öffnete den Kühlschrank, nahm einen Apfel aus dem Gemüsefach und ging damit zur Spüle, wo sie ihn rasch wusch und mit einem Handtuch abtrocknete.

Die Küche war klein. Sie bot gerade genug Platz für einen Ecktisch und eine Arbeitsplatte mit Spüle, Herd, Kühlschrank und Geschirrspüler. Die vorherrschenden Farben waren Schwarz und Weiß, der Fliesenboden in einem Schachbrettmuster gehalten.

„Ich würde mich gern gründlich im ganzen Haus umsehen, in allen Räumen“, sagte Pete und schaute zu, wie sie herzhaft in den Apfel biss. „Das Erdgeschoss und den Keller habe ich mir bereits angeschaut, während Sie schliefen. Ihr Tresor ist sehr gut untergebracht. Man bräuchte schon eine Menge Sprengstoff, um ihn zu knacken. Aber Ihre allgemeinen Sicherheitseinrichtungen …“ Er brach ab und schüttelte den Kopf.

„Zweitklassig?“, schlug Annie vor. Sie hatte sich an die Arbeitsplatte gelehnt, die Beine leicht gekreuzt, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete ihn, während sie ihren Apfel verzehrte.

Der Einwurf brachte ihr kein Lächeln ein, aber immerhin blitzte kurz Belustigung in seinen dunklen Augen auf. „Höchstens. Ein Profi könnte problemlos ins Haus eindringen, ohne Alarm auszulösen. Lesen Sie keine Testberichte? Das Alarmsystem, das Sie hier haben, ist berüchtigt für seine Fehlfunktionen. Es ist unzuverlässig, lässt sich sehr leicht überbrücken und löst häufig Fehlalarm aus.“

Annie befreite das Kerngehäuse ihres Apfels vom restlichen Fruchtfleisch, leckte sich die Lippen und schaute zu ihm auf. „Das habe ich schon gemerkt.“ Sie öffnete die Schranktür unter der Spüle und warf den Apfelbutzen in den Bioabfallbehälter. Dann wusch sie sich die Hände.

Sein Gesichtsausdruck änderte sich leicht. Die meisten Leute hätten vermutlich gar nicht bemerkt, dass seine Augenbrauen sich leicht zusammenzogen. Aber Annie war es gewöhnt, kleinsten Details Aufmerksamkeit zu schenken, und in einem derart ausdruckslosen Gesicht wie seinem fiel die feinste Mimik auf. „Was ist?“, fragte sie.

Er blinzelte überrascht. „Wie bitte?“

„Irgendetwas beschäftigt Sie. Was ist es?“

Sie stand keinen Meter von ihm entfernt, und er konnte ihren natürlichen Duft wahrnehmen. Sie roch süß und warm, ein bisschen nach Babyshampoo, einer reichhaltigen Hautlotion und grünem Apfel. Trotz des unförmigen Schlafanzugs aus dickem Flanell war er sich ihres weichen weiblichen Körpers unter dem Stoff nur zu bewusst. Er spürte, wie Verlangen in ihm aufstieg. Er holte tief Luft. Himmel noch mal, die ganze Abteilung hält sie immer noch für eine Kunstdiebin …

„Ich habe mich gefragt, ob Sie wirklich nicht mehr essen wollen“, antwortete er ruhig. Mit reiner Willenskraft drängte er sein Verlangen nach ihr zurück und verbarg es tief in seinem Inneren. Dort war es gut versteckt. Fürs Erste jedenfalls. „Das kommt mir nicht sehr viel vor, zumal Sie sagten, Sie seien sehr hungrig. Sie sollten etwas essen, was besser sättigt.“

Annie lachte und ließ ihre weißen Zähne blitzen. „Na toll“, sagte sie, „ein Leibwächter, der mir Ernährungstipps gibt. Wie passend.“

Er lächelte. Genau genommen verzogen sich seine Mundwinkel nur ein ganz klein wenig nach oben, aber Annie ließ das als Lächeln gelten. Junge, Junge, wenn dieser Mann wirklich lächelte, musste er teuflisch gut aussehen.

„Entschuldigen Sie“, sagte er, „aber Sie haben gefragt.“

„Stimmt“, gab sie zurück und ging voraus in den Flur. „Das habe ich. So, jetzt muss ich mich an meine Arbeit machen.“

Mit raschem Schwung warf sie ihre langen Haare zurück und zog ihre Schlafanzughose hoch. Pete wünschte sich beinahe verzweifelt, sie würde sich etwas anderes anziehen. Normalerweise ließ er sich nicht so leicht ablenken, aber jedes Mal, wenn Anne Morrow sich bewegte, hatte er Mühe, sein Verlangen nach ihr zurückzudrängen.

Er hatte jetzt schon sehr lange keinen Sex mehr gehabt. Nicht weil er keinen hätte haben können, sondern weil er einfach keine Lust darauf hatte. Wie passend, dass seine Libido ausgerechnet hier und ausgerechnet jetzt wieder zum Leben erwachte! Hier mitten im Nirgendwo, allein in einem großen Haus mit dieser schönen Frau. Verdammt, sobald er zurück im New Yorker Büro war, musste er unbedingt Carolyn Dingsbums besuchen, die Verwaltungsassistentin mit den langen Beinen …

„Es wäre wirklich besser, wenn ich mir die oberen Stockwerke des Hauses anschauen könnte“, sagte er.

Annie schüttelte den Kopf. „Taylor, ich will nicht unhöflich sein, aber ich hinke meinem Zeitplan bereits zwei Tage hinterher. Außerdem macht es wirklich keinen Sinn, Ihnen hier alles zu zeigen, denn wenn ich morgen mit Marshall gesprochen habe, nehmen Sie den nächsten Zug zurück in die Stadt.“

„Ich bin mit dem Wagen hier“, gab er unbewegt zurück.

„Ich meinte das nicht wörtlich.“

„Es wird schwer für mich, meine Arbeit zu tun, wenn Sie nicht bereit sind, mit mir zu kooperieren“, wandte er ein.

Sie ging die Treppe hinunter Richtung Labor. „Warum gehen Sie nicht einfach mal nach draußen, wo der Empfang besser ist, und hören Ihren Anrufbeantworter ab“, schlug sie vor. Mitgefühl schwang in ihrer Stimme mit. „Vielleicht hat ja jemand angerufen, der einen anderen Job für Sie hat. Den können Sie annehmen, und man wird dort mit Ihnen ganz hervorragend kooperieren.“

Annie blieb bis etwa halb drei Uhr morgens im Labor. Sie schloss fast alle Tests an einer Kupferschale ab, die bei einer Ausgrabung im Südwesten der USA gefunden worden war und von der man glaubte, sie stamme von den ersten spanischen Eroberern. Der letzte noch ausstehende Test würde fast zwei Stunden dauern, und die Vorstellung, diese zwei Stunden unter Peter Taylors permanenter Beobachtung durchstehen zu müssen, war einfach zu viel für sie. Außerdem brachte auch der letzte Test sie nicht sehr viel weiter, solange die Ergebnisse der Röntgenfluoreszenzanalyse, die von einem Fremdlabor durchgeführt werden würde, noch ausstanden.

Sie schaltete ihre Geräte ab und schloss die Schale wieder im Tresor ein. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Taylor sie immer noch beobachtete.

Bereits seit Stunden saß er regungslos auf einem Stuhl nahe der Tür. Trotz der späten Stunde wirkte er nicht müde. Auch nicht, als fühlte er sich unbehaglich oder verärgert. Seine Miene war komplett undurchdringlich.

Verdammt, er machte sie nervös.

Sie wollte eigentlich einfach an ihm vorbeigehen, raus aus dem Labor und die Treppe hinauf, aber ihr Gewissen zwang sie, stehen zu bleiben.

„Oben ist ein Gästezimmer“, sagte sie. „Sie können dort schlafen …“

Aber er schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Oh, verstehe. Sie möchten unten bleiben, in der Nähe des Tresors …“

„Der Tresor ist sicher“, sagte er und erhob sich in einer eleganten fließenden Bewegung. „Man bräuchte einen Kran, um ihn abzutransportieren, und eine Tonne Dynamit, um ihn zu sprengen. Nein, wenn ich überhaupt schlafe, dann in Ihrem Schlafzimmer.“

Annie starrte ihn schockiert an. In ihrem Schlafzimmer … Aber er hatte das ganz selbstverständlich gesagt, ohne jeden Ausdruck und ohne Anklang sexueller Hintergedanken. Entweder war er sich seiner körperlichen Anziehungskraft nicht bewusst, oder aber er war so von sich überzeugt, dass ihm gar nicht der Gedanke kam, eine Frau könne womöglich nicht das Bett mit ihm teilen wollen.

„Ich glaube nicht“, sagte sie.

Er hob eine Augenbraue, als wüsste er genau, was sie dachte. „Auf dem Fußboden natürlich.“

Annie schaffte es tatsächlich, nicht rot zu werden. „Im Gästezimmer hätten Sie es viel bequemer.“

„Aber Sie wären sehr viel weniger sicher“, widersprach er. „Ihre Alarmanlage ist de facto wertlos …“

„Mir wird schon nichts passieren“, protestierte Annie. Allmählich ging ihr der Typ auf die Nerven. Warum konnte er nicht einfach seine Niederlage akzeptieren und im Gästezimmer schlafen?

Er stellte sich ihr in den Weg, als sie die Treppe hinaufgehen wollte, und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Würden Sie mich bitte einfach meine Arbeit tun lassen?“

„Aber ja doch, tun Sie Ihre Arbeit. Aber tun Sie sie heute Nacht im Gästezimmer.“

Er rührte sich nicht von der Stelle. Also schob Annie sich an ihm vorbei und trat auf die erste Treppenstufe.

Seine Hand schloss sich um ihren Arm und hielt sie fest. Seine Finger waren lang und kräftig. Sie umspannten mit Leichtigkeit ihr Handgelenk. Die Wärme seiner Hand schien sich in ihre Haut zu brennen.

Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Annie versuchte sich einzureden, dass ihre Wut dafür verantwortlich war, nicht seine Berührung. Sie versuchte sich loszureißen, aber er hielt sie eisern fest.

„Ich werde Sie beschützen“, sagte er. Sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, aber seine Augen glitzerten wie Obsidian.

Er hatte sie so dicht an sich herangezogen, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen. „Vielleicht“, sagte sie, und zu ihrem Bedauern zitterte ihre Stimme ein wenig. „Aber wer beschützt mich vor Ihnen?“

Augenblicklich ließ Pete ihren Arm los.

„Ich kenne Sie nicht“, fuhr Annie fort, trat ein Stück zurück, aus seiner Reichweite, und rieb sich den Arm. „Soweit ich weiß, könnten durchaus Sie der Typ sein, der mir Todesdrohungen schickt. Soweit ich weiß, könnten Sie den echten Pete Taylor aus dem Weg geräumt haben.“

„Mein Bild ist auf meinem Dienstausweis und meinem Führerschein.“

„Jeder weiß, wie leicht sich Ausweise fälschen lassen …“ Sie brach mitten im Satz ab und starrte fasziniert auf seine Halskette. Sie hatte schon vorher bemerkt, dass er Silberperlen trug, aber bisher hatte sie die Kette nicht näher betrachten können. Es war eindeutig eine Diné-Arbeit aus kleinen hohlen Silberperlen mit einem Naja-Symbol, einer nach unten offenen Silbersichel, als Anhänger.

Trotz ihrer Angst trat sie einen Schritt auf ihn zu und nahm das Naja-Symbol in die Hand. „Das ist wunderschön“, sagte sie und schaute kurz zu ihm hoch, bevor sie das Schmuckstück eingehender betrachtete. Die Naja-Sichel lief in zwei winzige, fein gearbeitete Hände aus. „Eine Diné-Arbeit. Sie ist schon sehr alt, nicht wahr?“

Ihr ganzer Zorn, ihr ganzes Unbehagen waren schlagartig vergessen. Der sorgfältig gearbeitete Silberschmuck hatte sie völlig in ihren Bann geschlagen. Sie musterte die Kette mit ehrlichem Interesse, und ihre Augen funkelten vor Aufregung.

Pete lachte, und Annie schaute überrascht auf. Es war ein herzliches volltönendes Lachen, das seine Züge zu verwandeln schien. Sie hatte richtig vermutet – jetzt, wo Leben in sein Gesicht gekommen war, sah er außergewöhnlich gut aus.

„Ja“, bestätigte er. „Es ist eine Diné-Arbeit.“

Sie stand so nah bei ihm, nur Zentimeter von ihm entfernt, das Naja-Symbol in der Hand, und schaute ihm in die Augen. Als Pete ihren Blick erwiderte, konnte er Hitze in sich aufsteigen fühlen. Was hatte sie nur an sich, dass sein Körper so heftig auf sie reagierte? Er wollte sie in seine Arme ziehen, ihren Körper spüren. Er konnte sich vorstellen, wie ihre Lippen schmeckten: warm und süß. Junge, es würde ihn kaum Mühe kosten …

Er schob seine Hände tief in seine Hosentaschen, um nicht in Versuchung zu geraten, diese unglaubliche Frau zu berühren.

„Die Gürtelschnalle ist auch eine Diné-Arbeit“, fuhr Annie fort. „Ebenso der Ring, den Sie tragen, glaube ich … Ich habe ihn noch nicht richtig gesehen.“

Er zog die rechte Hand aus der Hosentasche und warf einen kurzen Blick auf den schweren Silberring mit dem Türkis, den er am Mittelfinger trug.

„Darf ich?“, fragte Annie, ließ den Naja-Anhänger los und nahm seine Hand. Sie besah sich das zerschrammte Silber des Rings und die feinen Ornamente. „Der ist nicht ganz so alt wie die Kette“, meinte sie, „aber dennoch wunderschön.“

Ihre schlanken Finger fühlten sich kühl an auf seiner Haut. Ihre Nägel waren kurz, aber sehr gepflegt, und sie trug keinen Schmuck an den Händen.

„Ich dachte, Sie seien Expertin für europäische Metall-Artefakte“, sagte er. „Wie kommt es, dass sie so viel über indianischen Schmuck wissen?“

Sie drehte seine Hand, sodass sie den Ring von der anderen Seite sehen konnte. „Als Kind habe ich sechs Jahre bei Ausgrabungen in Utah und Arizona verbracht, außerdem ein Jahr in Colorado. Meine Eltern und ich haben fast überall auf der Welt gelebt, aber am besten gefiel es mir im amerikanischen Südwesten. Als ich aufs College ging, war ich drauf und dran, mich auf die Archäologie der amerikanischen Ureinwohner zu spezialisieren.“

„Und warum haben Sie das nicht getan?“

„Keine Ahnung. Ich meine, es gab eine Reihe verschiedener Gründe.“ Sie senkte den Blick wieder auf seinen Ring. Seine Hand war so groß, dass er spielend ihre beiden Hände hätte damit umfassen können. Seine Handfläche war schwielig, und an zwei Fingerknöcheln entdeckte sie fast verheilte Abschürfungen – als hätte er die Faust gegen eine Wand geschlagen. Oder er hatte irgendjemanden niedergeschlagen, was ja bei seiner Arbeit durchaus auch möglich war.

Er blickte auf sie herab und machte keinerlei Anstalten, ihr seine Hand zu entziehen. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Annie sah tief in seinen Augen Verlangen lodern. Es traf sie wie ein Blitz, der ein Feuer in ihrem Körper entfachte. Hastig ließ sie seine Hand los und stellte ebenso erschrocken wie amüsiert fest, dass er genauso hastig losgelassen hatte. Was mochte er in ihren Augen gesehen haben? War ihr etwa deutlich anzusehen, welche Anziehungskraft er auf sie ausübte?

Sie schaute weg, trat einen Schritt zurück und wandte sich erneut der Treppe zu. „Gute Nacht“, sagte sie. Ihre Stimme klang seltsam atemlos.

Aber er war schneller und eilte vor ihr her die Treppe hinauf in den zweiten Stock. „Zumindest möchte ich Ihr Schlafzimmer überprüfen“, beharrte er auf seiner Meinung. „Ich muss nachsehen, ob alle Fenster geschlossen sind …“

„Das kann ich allein“, protestierte Annie.

„Ja, ich weiß“, stimmte er zu und betrat ihr Schlafzimmer. „Aber ich muss mich selbst vergewissern.“

Das Bett war noch ungemacht, so wie sie es nach ihrem Nachmittagsnickerchen hinterlassen hatte. Sie sah, wie er einen kurzen Blick auf die blau-grün gemusterten Decken warf, bevor er sich den Erkerfenstern des großen Zimmers zuwandte.

Er zog die Vorhänge zurück und überprüfte jedes Fenster einzeln, schaute nach, ob es richtig geschlossen war und die Sensoren der Alarmanlage funktionierten.

Annie stand mitten in ihrem Zimmer, die Arme vor der Brust verschränkt, und starrte auf sein breites Kreuz. Angesichts der kurzen schwarzen Haare hätte sie nicht erwartet, dass er Jeans zu einem Tweedjackett trug, aber an ihm wirkte die Kombination durchaus passend. Das Jackett saß trotz seiner breiten Schultern wie angegossen. Die Jeans waren lose genug, um bequem zu sein, und betonten dennoch seine langen muskulösen Beine. Endlos lange Beine …

Sie zwang sich, den Blick abzuwenden. Das fehlte noch, dass er sie dabei erwischte, wie sie ihm auf den Hintern starrte. Er hat aber auch wirklich einen tollen Hintern, dachte sie. Grinsend schaute sie noch einmal hin. Trotz seines militärisch kurzen Haarschnitts konnte sie ihn sich gut als Model in einem einschlägigen Bildkalender vorstellen …

„Worüber amüsieren Sie sich?“, fragte er, zog den letzten Vorhang wieder zu und kam auf sie zu.

„Nichts“, erwiderte sie und wich vor ihm zurück.

„Schauen Sie“, versuchte Pete es noch einmal. „Mir wäre wirklich wesentlich wohler, wenn ich heute Nacht hier drin schlafen könnte.“ Er schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: „Sie würden nicht einmal merken, dass ich hier bin.“

Na klar doch, dachte Annie. Und in der Sahara sind heftige Schneefälle vorhergesagt. Die Situation wurde immer lächerlicher, und sie musste die Kontrolle behalten.

„Nein“, sagte sie. „Vielleicht sähe ich das anders, wenn ich das Gefühl hätte, wirklich in Gefahr zu sein. Aber ich glaube einfach nicht daran.“

Sie geleitete ihn zur Tür. Er zögerte kurz, bevor er das Zimmer verließ, aber endlich ging er doch.

„Das Gästezimmer steht Ihnen zur Verfügung“, sagte Annie. „Es liegt da drüben. Das Bett ist frisch bezogen.“

Er sagte nichts, schaute sie einfach nur an, ohne eine Miene zu verziehen.

„Bis morgen früh dann“, sagte sie schließlich, schloss die Tür und drehte den Schlüssel herum.

Pete stand im Flur und hörte zu, wie Annie sich bettfertig machte. Eine Weile lief Wasser im Bad, dann rauschte die Toilettenspülung und schließlich hörte er den Lichtschalter klicken, als sie die Lampe ausschaltete.

Und er stand immer noch da, lauschend und wartend.