15. KAPITEL

I m Verhörzimmer standen ein Tisch und ein paar unbequeme Holzstühle. Die Wände waren in einem hässlichen Beige gestrichen, der Fußboden mit billigem Linoleum ausgelegt. So sieht also die Hölle aus, dachte Annie und schaute erschöpft auf die vielen FBI-Agenten, die um den Tisch herumsaßen und sie musterten. Sie hätte sogar darauf gewettet, dass der Teufel eine ähnliche Frisur hatte und einen ähnlichen Anzug trug wie diese Männer.

Sie faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. „Wenn Sie Ihre Anschuldigungen nicht präzisieren können“, sagte sie wütend, „dann sollten Sie mich gehen lassen.“

Scott lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Sie behaupten also, diese Kunstwerke nie in den Händen gehabt zu haben und nicht zu wissen, wie sie in Ihr Haus gelangt sind.“

Annie warf zum wohl hundertsten Mal in den letzten Stunden einen Blick auf die Fotos. Sie zeigten Antiquitäten. Einige erkannte sie, die meisten nicht. Aber nicht eines der Stücke war jemals auch nur in die Nähe ihres Hauses gekommen, geschweige denn in ihrem Besitz gewesen. „Ich sagte Ihnen bereits: Ich weiß nicht, wie das möglich ist“, wiederholte sie zum wer weiß wievielten Male.

Scott nickte. Es war offensichtlich, dass er ihr nicht glaubte.

Sie beugte sich vor. „Erklären Sie mir, Scott, warum in Gottes Namen ich mich an einem idiotischen Kunstraub beteiligen sollte? Warum ich Bomben in Museen legen sollte? Ich habe einen makellosen Ruf, ich verdiene gutes Geld, ich werde von meinen Kollegen respektiert. Warum sollte ich das alles aufs Spiel setzen?“

„Sagen Sie es mir.“

Die Tür ging auf, und Pete kam herein. Agent Peterson, korrigierte Annie sich und versuchte den Schmerz zu betäuben, der sie bei seinem Anblick scharf wie ein Messer durchfuhr.

Er trug wie all die anderen Agenten einen konservativen dunklen Anzug, und Annie hätte ihn fast nicht erkannt. Fast. Er sah sich im Zimmer um und zog ganz leicht eine Augenbraue in die Höhe. Annies Magen schien sich zu verknoten. Sie kannte diesen Mann in- und auswendig. Wie war es nur möglich, dass sie seine Lügen nicht durchschaut hatte?

„Wo ist dein Anwalt?“, fragte er sie.

Scott antwortete an ihrer Stelle. „Dr. Morrow hat auf eine Rechtsvertretung verzichtet.“ Er grinste. „Sie sagt, sie sei nicht schuldig, also brauche sie auch keinen Anwalt.“

„Besorgen Sie ihr einen“, gab der Mann, den sie Agent Peterson nannten, kalt zurück.

„Sie will keinen“, erklärte Scott. „Ich kann sie nicht zwingen, einen Anwalt zu akzeptieren.“

Annie schaute Peterson an, als wäre er ein schleimiges Monster. „Ich will ihn nicht hier drin haben“, sagte sie zu Scott. „Sorgen Sie dafür, dass er verschwindet.“

Scott zuckte die Achseln. Offensichtlich bereitete ihr Unbehagen ihm Vergnügen. „Geht nicht“, antwortete er. „Agent Peterson hat hier genauso viel zu sagen wie ich.“

Peterson legte einen Aktenordner vor Scott und setzte sich Annie gegenüber. Sie wandte sich ab und schaute ihn nicht an.

„Na schön“, wandte Scott sich wieder an Annie, öffnete den Aktenordner und blätterte darin. „Sie wollen es also spezifischer?“ Er zog ein Blatt Papier aus der Akte und begann vorzulesen:

„Im Haus der Verdächtigen wurden zwei Pakete auf einer Arbeitsfläche im Labor entdeckt. Beide Pakete waren geöffnet und enthielten die von eins bis acht durchnummerierten Gegenstände. Diese Gegenstände entsprachen der Beschreibung jener Kunstwerke, die aus der English Gallery gestohlen wurden. Die Pakete wurden beschlagnahmt gemäß richterlicher Anordnung bla, bla, bla.“ Er schob ihr den Bericht über den Tisch zu. „Lesen Sie selbst und dann weinen Sie“, forderte er Annie auf.

Der Raum schien sich um sie zu drehen. Annie blätterte den Bericht durch, der die Hausdurchsuchung Zimmer für Zimmer schilderte und die aufgefundenen Kunstgegenstände beschrieb.

„Mit welchem Recht haben Sie mein Haus durchsucht?“, fragte sie ruhig.

„Die Durchsuchungsgenehmigung wurde von einem Richter ausgestellt und beruht auf Beweisen, die im Laufe der Ermittlungen gesammelt wurden, sowie auf einem Hinweis …“

„Von wem?“, unterbrach Annie ihn. „Wer hat Ihnen diesen Hinweis gegeben?“

„Diese Information haben wir anonym erhalten“, erklärte Scott.

„Oh, großartig!“ Annie warf die Hände hoch. „Ganz offensichtlich eine zuverlässige Quelle …“

„Sie hat sich als zuverlässig erwiesen, nicht wahr?“, warf Scott ein und beugte sich über den Tisch. „Vor allem, da wir auch Material zur Herstellung von Sprengstoffen in einer Schublade Ihres Schreibtischs gefunden haben.“

„Wie bitte?“ Annie schnappte nach Luft. Ihr Blick zuckte unwillkürlich zu Agent Peterson hinüber. Seine Miene war völlig unbewegt, seine dunklen Augen ruhten unerschütterlich auf ihr. „Dies ist doch ein abgekartetes Spiel“, sagte sie. Jetzt erst wurde ihr klar, wie ihre Lage wirklich war und dass sie in ernsten Schwierigkeiten steckte. Die gestohlenen Kunstwerke, der Sprengstoff … „Ich will einen Anwalt.“

Sie schaute wieder in den Bericht vor ihr. „Im Haus der Verdächtigen wurden zwei Pakete auf einer Arbeitsfläche im Labor entdeckt.“

Auf einer Arbeitsfläche im Labor.

Im Labor!

Ja!

Pete, Agent Peterson oder wie immer sich dieser Mann auch nannte, war mit ihr im Labor gewesen, bevor sie zu dem Empfang im Museum gefahren waren. Er hatte gesehen, dass die Arbeitsflächen leer und aufgeräumt waren. Er hatte selbst abgeschlossen, als sie das Haus verließen, und war seitdem ständig mit ihr zusammen gewesen. Er konnte ihre Aussage bestätigen. Er würde den Leuten hier sagen, dass sie nichts mit dieser Sache zu tun hatte.

Ja!

„Agent Peterson“, sagte sie, und Aufregung schwang in ihrer Stimme mit. Sie reichte ihm den Bericht. „Pete, du warst bei mir, als ich ins Labor ging, um die Lichter auszuschalten, bevor wir gestern Abend wegfuhren. Erinnerst du dich? Das Labor war aufgeräumt. Auf den Arbeitsflächen lag nichts herum. Du warst da, du hast in der Tür gestanden.“

Der Mann im dunklen Anzug schaute von dem Bericht auf. Sein Blick war ausdruckslos, seine Miene war verschlossen.

„Erinnerst du dich?“

Er muss sich erinnern. Natürlich erinnert er sich.

„Nick hat draußen auf uns gewartet. Du hast mir gesagt, dass ich schön aussehe.“ Plötzlich senkte sie ihren Blick auf ihre Hände, und Röte stieg ihr ins Gesicht. Aber sie musste weiterreden. Sie brauchte jetzt seinen Beistand, auch wenn es noch so peinlich für sie war. „Du hast mich angeschaut …“ Sie schluckte und sah wieder zu ihm hoch. „… als wolltest du mich küssen.“

Er hielt ihrem Blick etwa eine Sekunde stand, bevor er sich wieder mit dem Bericht befasste. Seine Augen wurden schmal, als versuchte er, sich zu konzentrieren.

„Erinnerst du dich?“

Er reichte die Dokumente an Scott zurück und warf Annie einen kurzen Blick zu. Seine Augen wirkten kalt und distanziert. „Nein.“

Sie starrte ihn an. Der Schock ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren, und sie erbleichte. Oh Gott, er ist beteiligt. Er ist an diesem abgekarteten Spiel beteiligt …

Agent Peterson stand auf und wich dabei sorgsam ihrem Blick aus. „Ich kümmere mich um einen Rechtsanwalt“, sagte er und verließ den Raum.

Annie starrte auf den Tisch. Sie drängte mit Gewalt die Tränen zurück, während ihr Herz in Millionen winzige Scherben zersprang.

Annie ging über die Einfahrt auf ihr Haus zu. Sie hatte sich fest in ihre dünne Abendjacke gewickelt, aber die hatte den Regen auf dem langen kalten Fußmarsch vom Bahnhof hierher nicht wirklich abhalten können. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Nichts hieß sie zu Hause willkommen.

Zu Hause. Sie konnte kaum glauben, dass sie wirklich zu Hause war. Nachdem ihr Rechtsanwalt eingetroffen war, wurde das Verhör beendet. Man hatte sie dem Haftrichter vorgeführt und sie gegen Kaution endlich gehen lassen.

Merkwürdigerweise war die Zahlung der Kaution kein Problem gewesen. Annie hatte schon ihre Eltern anrufen und um Hilfe bitten wollen, um die Viertelmillion Dollar aufzubringen, aber die Summe war bereits hinterlegt worden. Anonym. Von ihrem Vater, so vermutete sie voller Dankbarkeit. Irgendwie musste er erfahren haben, dass sie in Schwierigkeiten steckte, und war ihr zu Hilfe geeilt.

Der Prozess sollte in drei Monaten beginnen, und bis dahin war ihr die Lizenz als Gutachterin entzogen worden. Sie konnte also nicht arbeiten, konnte nicht einmal die Aufträge erledigen, die sie schon in Angriff genommen hatte.

Sie lachte verächtlich auf, als ihr der Anrufer wieder einfiel, der sie davor gewarnt hatte, die goldene Totenmaske anzufassen. Er hatte sie gewarnt, dass der böse Geist von Stands Against the Storm ihr schaden würde, wenn sie die Maske anrührte. Dass ihr bisheriges Leben völlig zerstört werden würde.

Du hast gewonnen, Stands Against the Storm, dachte sie. Von meinem Leben ist tatsächlich nichts übrig geblieben.

Nachdem sie ihren Code in die Kontrolltafel der Alarmanlage eingegeben hatte, wartete sie darauf, dass die Leuchtanzeige von Rot auf Grün wechselte. Dann schloss sie die Eingangstür auf und seufzte. Morgen früh würde sie als Allererstes alles zusammenpacken müssen, was in ihrem Tresor lag, und es den Eigentümern zurückschicken …

Sie schaltete die Alarmanlage wieder ein, stieg im Dunkeln die Treppe hinauf und ging in ihr Schlafzimmer. War es wirklich erst eine Nacht her, dass sie so glücklich gewesen war? Sie hatte mit Pete getanzt, mit ihm geschlafen … Wie hatte sie nur so dumm sein können! Agent Peterson amüsierte sich bestimmt gerade sehr über sie.

Die Reisetasche ließ sie zu Boden fallen. Fröstelnd ging sie ins Bad, schaltete das Licht ein und schälte sich rasch aus ihren nassen Kleidern. Kurz darauf wallte der Dampf von der heißen Dusche auf und ließ den Spiegel beschlagen. Annie wusch sich wieder und wieder, bis auch die letzten Spuren von Petes Duft verschwunden waren. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich das Wasser übers Gesicht laufen. Gleichzeitig ließ sie ihren Tränen freien Lauf, die sie nicht länger zurückhalten konnte.

„Annie, wach auf.“

Sie öffnete die Augen. Pete saß auf dem Bettrand und schaute sie an. Sie rührte sich nicht, starrte ihn nur an.

„Bist du wach?“, fragte er. Die ersten vorsichtigen Sonnenstrahlen erhellten sein Gesicht nur schwach. Er wirkte müde, seine Augen waren gerötet und geschwollen, als hätte er nicht geschlafen. Er hatte sich umgezogen: Statt des grässlichen dunklen Anzugs trug er jetzt wieder Jeans und T-Shirt.

„Nein“, antwortete sie. „Hoffentlich nicht. Hoffentlich träume ich nur. Hoffentlich sitzt du nicht hier in meinem Zimmer.“

Er versuchte zu lächeln, brachte aber nur ein schiefes Verziehen der Lippen zustande. „Tut mir leid“, sagte er. „Ich sitze wirklich hier.“

Widerstreitende Gefühle huschten über ihr Gesicht. Was blieb, war Wut. Ihre Augen funkelten. „Mach, dass du rauskommst!“

„Annie, ich musste …“

„Ich will es nicht hören, Agent Peterson.“ Sie betonte seinen Namen voller Sarkasmus, die Zähne in kaum beherrschtem Zorn fest zusammengebissen. „Du verdammter Mistkerl. Du hast mich reingelegt. Verschwinde aus meinem Haus!“

„Ich wusste nicht …“

„Du erwartest ernstlich, dass ich dir glaube?“, schäumte sie. „Ich weiß verdammt genau, dass du dich erinnerst, mit mir ins Labor gegangen zu sein, als ich an dem Abend das Licht ausschalten wollte. Du weißt, dass die Sachen aus der English Gallery nicht da lagen.“

„Annie …“

Sie trat heftig mit dem Fuß gegen seinen Rücken, aber die Bettdecke nahm dem Tritt seine Wucht, und er zuckte nicht einmal zusammen. „Du Bastard“, schrie sie ihn an. „Schon vor fünf Monaten hat das FBI entschieden, dass ich schuldig bin. Nur beweisen konnten sie es nicht, also mussten sie mich reinlegen. Und du spielst einfach mit, richtig? Weil du einer von denen bist, du Widerling!“

Er gab auf. Weitere Erklärungsversuche waren zwecklos. Also saß er einfach nur da, sah sie ruhig an und ließ sie ihre Wut abreagieren.

„Sag mir“, fuhr sie mit schneidender Stimme fort, „kriegst du Extrapunkte dafür, dass du mit mir geschlafen hast? Viermal in einer Nacht! Die anderen haben dir dafür ganz sicher Beifall gezollt. Ach ja, und einmal am Morgen. Ein netter Zug. Lässt deine Kumpel unten in der Hotelhalle warten, während du es noch einmal mit der Verdächtigen treibst, bevor du sie verhaftest …“

Er konnte sich nicht länger beherrschen. „Ich wusste nicht, dass sie einen Haftbefehl hatten …“

„Erwartest du allen Ernstes, dass ich dir überhaupt noch irgendetwas glaube?“, fragte sie mit leiser verbitterter Stimme.

Schuldbewusst senkte er den Blick zu Boden. Er hatte ihr wochenlang seine wahre Identität verschwiegen. Sogar dann noch, als er wusste, dass er sich in sie verliebt hatte. Sogar dann noch, als er wusste, dass sie in keine Verbrechen verwickelt sein konnte. Er war schuldig. „Nein“, antwortete er leise. „Das erwarte ich nicht.“

„Du warst so gut“, fuhr sie fort, und ihre Stimme brach. „All die Geschichten, die du über deine Kindheit erzählt hast. Das Leben in Colorado. Dein indianischer Großvater … Wahrscheinlich bist du in der Bronx aufgewachsen, richtig?“

„Nicht alles, was ich dir erzählt habe, war gelogen“, erwiderte er und schaute ihr gerade ins Gesicht. „Diese Geschichten sind alle wahr. Und ich habe die Wahrheit gesagt, als ich dir sagte, dass ich dich liebe.“ Er schaute wieder auf seine Hände, die zu Fäusten geballt auf seinem Schoß lagen. „Ich weiß, dass du mir nicht glaubst …“

„Ja, da hast du recht. Ich glaube dir nicht.“ Annie sah, wie er die Augen schloss, als ihre schroffen Worte ihn trafen. „Was willst du von mir? Warum bist du hier?“

Pete stand auf und ging hinüber an die Wand, bemühte sich um Fassung. „Man spielt ein falsches Spiel mit dir“, sagte er schließlich, den Rücken ihr zugewandt.

Sie lachte kurz auf. „Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß, Agent Peterson.“

„Ich möchte dir helfen“, sagte er, drehte sich um und schaute sie an.

„Jetzt willst du mir helfen?“, fragte sie zornig. „Gestern hättest du den Typen vom FBI sagen können, dass diese Dinge nicht im Labor waren …“

„Annie, ich bin hier, weil du in Gefahr bist“, unterbrach er sie. „Irgendein Insider hängt mit drin, jemand vom FBI oder von der CIA, und ich weiß nicht, wer es ist.“

Annie starrte ihn an.

Er lächelte, ein angespanntes und doch zufriedenes Lächeln. „Ja, ich war an dem Abend mit dir im Labor, Annie, und ich erinnere mich. Ich habe gesehen, dass da nichts war, und ich weiß, dass man dich reingelegt hat.“

Sie starrte ihn immer noch an. Hoffnung begann sich in ihr zu regen.

„Und warum hast du gestern nichts gesagt?“, fragte sie leise. „Du hättest meinen Ruf retten können.“

„Ich hielt es für wichtiger, dein Leben zu retten.“ Sein Blick hielt sie fest. „Bis ich weiß, wer alles in diese Geschichte verwickelt ist, bist du sicherer, wenn sie annehmen, dass dir niemand glaubt.“

„Aber das FBI? Wie …“

„Ich weiß nur, dass zu viel einfach nicht zusammenpasst. Wie konnte jemand ins Haus gelangen, um die Fledermäuse in dein Zimmer zu schmuggeln? Wie konnte jemand hineingelangen, um die gestohlenen Kunstwerke im Labor zu deponieren? Niemand kannte die Codes für die Alarmanlage, außer dir, mir und Cara … und jedem, der Zugriff auf deine Ermittlungsakte hat.“

„Aber was ist mit diesen Randgruppen, die das FBI ins Visier nehmen wollte?“

Er schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen, dass eine dieser Gruppen etwas mit den Raubüberfällen auf zwei europäische Kunstgalerien zu tun hat. Oder damit, eine ausgeklügelte Alarmanlage auszuschalten, um Fledermäuse in dein Schlafzimmer und gestohlene Kunstwerke in dein Labor zu schmuggeln.“

Pete begann im Zimmer auf und ab zu wandern. „Die Sache stinkt einfach.“ Er blieb mitten im Raum stehen und sah Annie wieder an. „Warum sollte dich jemand töten wollen? Oder dafür sorgen, dass du verhaftet wirst, ins Gefängnis gesteckt, aus dem Weg geräumt?“

Annie starrte ihn an, und er lächelte finster. „Es gibt so viele offene Fragen, und es wird höchste Zeit für Antworten.“

Pete schaute den Stapel Ordner durch, die auf Annies Tisch ausgebreitet lagen. Er strich sich mit den Fingern durchs Haar, lehnte sich zurück und streckte sich. Mann, sie kamen einfach nicht weiter …

„Hier ist es“, rief Annie, die auf dem Fußboden vor ihrem Aktenschrank kniete. „Am 4. Juni vor drei Jahren. Das war das letzte Mal, dass ich irgendetwas für die English Gallery begutachtet habe. Einen Goldring aus Wales, neuntes Jahrhundert. Willst du die Akte sehen?“

„Klar, warum nicht?“ Pete drehte sich mit seinem Stuhl zu ihr um, als sie den Ordner zum Schreibtisch trug. „Wie kommt es, dass das so lange zurückliegt? Hat die Rezession auch die English Gallery getroffen?“

Annie schüttelte den Kopf. „Nein. Alistair Golden hat sich sozusagen die Gallery gekrallt. Alles, was von dort in die Staaten verkauft wird, geht durch seine Hände. Sie arbeiten ausschließlich mit ihm zusammen. Wenn Ben Sullivan nicht darauf bestanden hätte, hätte ich diesen Auftrag nie bekommen.“

Pete runzelte die Stirn. Er griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. „Ja, hier Peterson“, meldete er sich. „Ich brauche eine Auflistung aller Einfuhren von Kunstwerken und anderen Artefakten in die Vereinigten Staaten, die über die English Gallery in London abgewickelt wurden.“

„Aber ich habe diese Informationen“, warf Annie ein.

Er sah sie überrascht an. „Ich rufe Sie später noch mal an“, sagte er ins Telefon, hängte auf und musterte Annie fragend.

„Ich gehöre zu einem Computernetzwerk, das alle aktuellen Verkäufe von Kunstwerken und Artefakten protokolliert – alles, von einem Picasso bis hin zu steinzeitlichen Werkzeugen“, erklärte Annie. Sie ging um den Schreibtisch herum, schaltete ihren PC ein und ging damit online. „Für Kunstmakler sind das sehr hilfreiche Informationen. Mit dieser Liste kann ich jeden Käufer von jedem Stück ausfindig machen und kontaktieren. Nehmen wir beispielsweise deine Kette. Angenommen, du würdest sie verkaufen wollen, dann könnte ich einen Käufer finden, indem ich einfach die Namen der Leute aufrufe, die in den letzten Monaten mehrfach Diné-Schmuck gekauft haben.“

Pete lehnte sich in seinem Stuhl zurück, damit sie die Computertastatur besser bedienen konnte. Sie verengte leicht die Augen, während sie sich darauf konzentrierte, die Befehle einzugeben, mit denen sie sich in das Netzwerk einloggte.

„Wir müssen einfach nur eine spezifische Liste anfordern. Suchkriterien sind English Gallery und eine Versandadresse in den Staaten …“

Sie war ihm so nah, dass er einfach die Hand hätte ausstrecken und sie berühren können, aber Pete wagte es nicht. Vor kaum mehr als vierundzwanzig Stunden hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Aber er hatte immer noch ihren Gesichtsausdruck vor Augen, als sie erfuhr, dass er ein Regierungsbeamter war, der gegen sie ermittelte. Er erinnerte sich an den Ausdruck in ihren Augen, als ihre Liebe zu ihm starb. Sein Herz blutete. Ich bin selbst schuld …

„Und los geht’s“, sagte sie.

Eine Liste von Daten und Gegenständen erschien auf dem Bildschirm. Pete zwang sich, sich wieder auf seine aktuelle Aufgabe zu konzentrieren, und beugte sich vor, um besser sehen zu können.

„Die Liste ist chronologisch“, erläuterte Annie und wandte sich ihm zu. Ihre Nasenspitzen hätten sich beinah berührt, und sie richtete sich hastig auf. „Die jüngsten Verkäufe stehen ganz unten.“

Sie setzte sich auf die Tischkante und sah Pete aus sicherer Entfernung dabei zu, wie er den Cursor ans Ende der langen Liste manövrierte. Er wirkte erschöpft und übermüdet, aber in seinen Augen funkelte Entschlossenheit. Offenbar spürte er ihren Blick auf sich ruhen, denn er schaute auf.

„Warum tust du das?“, fragte sie.

„Weil ich weiß, dass du unschuldig bist“, antwortete er und wandte sich wieder dem Monitor zu.

„Du hast für mich die Kaution hinterlegt, richtig?“

„Ja.“

„Woher hast du das Geld?“

„Ich habe es mir geliehen. Wenn du abhaust, verliere ich alles. Mein Auto, meine Wohnung …“ Er schaute wieder auf, und der vertraute Funken von Humor in seinen Augen ließ ihr Herz flattern. „Wer weiß? Die Typen, von denen ich es mir geliehen habe, brechen mir vermutlich sogar die Beine.“

„Warum bist du bereit, so viel für mich zu riskieren?“

„Ich würde alles für dich riskieren. Sogar mein Leben …“

„Warum?“

Pete schaute zu ihr auf. „Das ist nun wirklich nicht schwer zu durchschauen. Ich liebe dich, Annie.“

Sie starrte ihn einige endlose Augenblicke an und wünschte sich, er hätte sich nicht in diesen Fremden verwandelt, der vor ihr saß. Diesen Fremden, den sie doch so gut kannte. Aber das ist alles nur Illusion. Ich glaube nur, ihn zu kennen. Pete Taylor ist nur eine Tarngeschichte, eine Täuschung. Er ist so endgültig fort, als wäre er gestorben. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie. Beinah hätte sie aufgeschrien.

„Gibt es …“ Pete zögerte, räusperte sich und fing noch mal von vorn an. „Habe ich überhaupt noch eine Chance? Bei dir?“

Er sah aus wie Pete Taylor. Er klang wie Pete Taylor. Er handelte sogar wie Pete Taylor. Aber er war nicht Pete Taylor. Er war nicht …

Annie rutschte vom Schreibtisch und wandte sich ab. Sie konnte ihm nicht in die Augen schauen. „Nein.“

Pete nickte, als hätte er genau diese Antwort erwartet. Mit ausdrucksloser Miene wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Computermonitor zu, als wäre nichts geschehen, als wäre nicht gerade seine letzte Hoffnung zunichtegemacht geworden.