7. KAPITEL

Annie hängte ihre Jacke über die Rückenlehne des Bürostuhls und drückte die Wiedergabetaste ihres Anrufbeantworters.

Die erste Stimme, die erklang, gehörte Nick. Er machte sich nicht die Mühe, seinen Namen zu nennen, denn er ging davon aus, dass sie seine Stimme schon erkennen würde. Damit hatte er natürlich recht.

„Süße Annie“, erklärte er, „ich mache mich allmählich mit dem Gedanken vertraut, nicht dich, sondern deinen Anrufbeantworter zum Empfang im Museum mitzunehmen. Jedenfalls habe ich in den letzten Wochen sehr viel öfter mit dem Gerät gesprochen als mit dir. Wo steckst du? MacLeish behauptet, du bist sehr beschäftigt, aber du warst noch nie zu beschäftigt für mich. Was ist los? Ruf mich an.“

Pete hatte seinen bevorzugten Platz eingenommen: Er lehnte im Türrahmen.

„Das war Nick York“, erläuterte Annie.

„Ich weiß. Warum rufen Sie ihn nicht zurück?“

Annie seufzte und unterbrach kurz die Wiedergabe der eingegangenen Anrufe. „Weil er mich darum bitten wird, irgendeinen kleinen, aber ungemein wichtigen archäologischen Fund für ihn zu authentifizieren. Natürlich wird es ganz leicht sein, mich nur ein paar Stunden meiner Zeit kosten und bestimmt kann ich ihn ganz einfach irgendwo zwischenschieben. Nur leider wird ganz überraschend etwas schiefgehen. Irgendwelche Informationen fehlen, und das Ende vom Lied: Ich werde vier Nächte in Folge durcharbeiten müssen.“ Sie seufzte erneut. „Irgendwie schafft Nick es immer wieder, mich zu überreden, etwas für ihn zu tun. Diesmal habe ich aber wirklich absolut keine Zeit. Also gehe ich ihm aus dem Weg. Das ist leichter für mich.“ Sie begegnete Petes Blick und lächelte kläglich. „Ich weiß, das ist ein feiger Ausweg. Ich weiß auch, dass er mich über kurz oder lang doch erwischen wird. Allerspätestens bei dem Sponsorenempfang im Museum für Moderne Kunst.“

Pete bemühte sich, keine Regung zu zeigen. Hoffentlich konnte sie ihm die Eifersucht nicht ansehen, die ihn befallen hatte, als er Yorks Stimme auf dem Anrufbeantworter hörte. Eifersucht? Was zum Teufel geht in mir vor? Woher nehme ich mir das Recht, eifersüchtig zu sein? Ich habe kein Recht dazu, nicht im Geringsten. Also hör gefälligst auf damit, rief er sich zur Ordnung.

Er räusperte sich. „Was ist sonst noch auf dem Anrufbeantworter?“

Annie drückte erneut die Wiedergabetaste.

Eine weitere Nachricht war von der Archäologischen Gesellschaft Westchester. Eine Anfrage, ob Dr. Morrow in den nächsten Monaten ein wenig freie Zeit hätte und bei einem der monatlichen Treffen einen Vortrag halten würde.

„Freie Zeit!“ Annie lachte. „Wenn die wüssten …“

Die nächsten vier Anrufer hatten aufgelegt, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Dann meldete sich wieder eine Stimme.

„Ich rufe im Namen von Stands Against the Storm an.“ Annie blickte hastig zu Pete hinüber. Er hatte sich nicht gerührt, aber dennoch war er sofort voll konzentriert. Er schaute sie an, und in seinen dunklen Augen brannte ein Feuer, während sie beide sich die Nachricht anhörten. Die Stimme war die eines Mannes. Er sprach ohne hörbaren Akzent und leise.

„Sie müssen die Totenmaske herausgeben“, sagte er beinahe freundlich. „Geben Sie sie dem Volk der Diné zurück. Ich sage Ihnen das nur zu Ihrem Besten. Der böse Geist in der Maske wird erwachen, wenn Sie seine Ruhe stören. Fassen Sie die Maske nicht an, nehmen Sie sie nicht in die Hand – oder Sie werden den Zorn des Geists zu spüren bekommen. Dann wird von Ihrem bisherigen Leben nichts übrig bleiben. Warten Sie auf weitere Anweisungen.“

Dann klickte es, und der Anrufbeantworter gab zwei kurze Pieptöne von sich: keine weiteren Nachrichten vorhanden.

Annie saß so still an ihrem Tisch, dass Pete das Ticken der Wanduhr vernehmen konnte, wenn der Sekundenzeiger vorrückte. Aber energiegeladen, wie sie war, hielt sie das Stillsitzen nicht lange aus. Sie stand plötzlich auf, drängte sich an ihm vorbei aus dem Büro und ging den Flur hinunter. Er folgte ihr ins Labor, wo sie die Deckenbeleuchtung einschaltete und direkt zum großen Tresor ging.

Ein paar schnelle Drehungen am Kombinationsschloss, und die massive Tür schwang auf. Wortlos nahm Annie die Kiste aus England aus dem Tresor und trug sie zu dem geräumigen Labortisch hinüber. Dort setzte sie die schwere Last vorsichtig ab und zog einen Hammer aus einer der Schrankschubladen.

Pete fragte nicht, was sie vorhatte. Er wusste es auch so.

„Wissen Sie“, sagte Annie trocken, „dieses Ding macht mir nichts als Ärger. Dabei habe ich noch keinen einzigen Blick darauf geworfen.“

Mit der Spitze des Hammers löste sie behutsam den Deckel. Gefüllt war die Kiste mit großen Verpackungschips. Annie durchwühlte die Chips mit den Händen und stieß in etwa fünfzehn Zentimetern Tiefe auf die Oberseite des schweren Artefakts. Sie zog es vorsichtig heraus, sorgsam bemüht, keine Verpackungschips auf den Tisch fallen zu lassen.

Die Totenmaske war von mehreren Lagen Luftpolsterfolie geschützt. Annie wickelte die Folie ab. Zum Vorschein kam die in ein weiches Tuch gehüllte Maske. Annie wickelte sie vorsichtig aus, breitete das Tuch auf dem Labortisch aus und legte die Maske darauf ab.

Es war ein wirklich bemerkenswertes Kunstwerk. Vor sich hatte sie das goldglänzende Gesicht von Stands Against the Storm. Die kurz nach seinem Tod angefertigte Maske bewahrte jede Runzel, jeden erschlafften Muskel im Gesicht des alten Mannes für die Nachwelt. Seine Augen waren geschlossen, und er wirkte unglaublich müde und traurig. Annie versuchte sich vorzustellen, wie seine Augen im Leben gewesen sein mochten. Waren sie so wie Petes Augen: dunkel und feurig, voller Kraft und Leben?

Annie schaute zu Pete auf. „Ich glaube nicht an Flüche“, sagte sie und nahm die Maske hoch, hielt das kühle Metall in ihren Händen. Nichts geschah. Sie wurde weder vom Blitz getroffen noch von einer Horde kreischender böser Geister angegriffen. Und was ihr Leben anging – nun, viel schlimmer konnte es kaum noch kommen, oder?

Sie trug die Totenmaske hinüber auf die andere Seite des Labors, wo eine riesige Lupe an einem ausziehbaren Arm an der Arbeitsplatte befestigt war. Dann schaltete sie eine zusätzliche Lampe ein und betrachtete die Maske eingehend unter dem Vergrößerungsglas.

Pete zog sich einen Stuhl heran und schaute ihr zu.

Annie untersuchte sorgfältig die Gussnähte und nahm jeden Quadratzentimeter der Maske unter die Lupe. Schließlich sah sie wieder zu Pete hinüber.

„Ist sie echt?“, fragte er.

Annie antwortete nicht sofort. Stattdessen hob sie die Maske an ihren Mund und leckte daran. Als sie sah, wie Petes Augenbrauen in die Höhe schossen, lachte sie. „Nun, sie besteht zumindest aus echtem Gold“, erklärte sie.

„Das können Sie am Geschmack feststellen?“

Annie nickte. „Ja, kann ich.“

„Besonders wissenschaftlich kommt mir das nicht vor. Sie haben hier jede Menge technische Ausrüstung im Labor, und Sie benutzen Ihre Zunge!“

„Das war nur ein vorläufiger Test. Wenn ich mehr Zeit habe, untersuche ich die genaue Zusammensetzung der Metalllegierung. Aber ich glaube, um endgültig über die Echtheit zu befinden, muss eine Röntgenfluoreszenzanalyse gemacht werden.“

„Warum?“

Sie hatte die Totenmaske wieder auf die Arbeitsplatte gelegt. Jetzt strich sie sich die langen Haare aus dem Gesicht, fasste sie zusammen und band sie mit einem Haargummi zu einem Pferdeschwanz. Sie trug ihre ausgewaschenen Jeans und dazu einen roten Pullover, dessen weiches Material förmlich dazu einlud, mit den Händen darüberzustreichen. Pete hakte seine Daumen hinter seine Gürtelschlaufen und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was Annie sagte.

„Nun, sie hält jedenfalls einer flüchtigen Erstuntersuchung stand“, sagte sie. „Die Gussmarken sehen alle so aus, als könnte es sich um eine englische Arbeit des neunzehnten Jahrhunderts handeln. Aber ohne schriftliche Belege – Quittungen, Rechnungen, andere Dokumente – gibt es nur eine Möglichkeit, halbwegs sicher auszuschließen, dass sie erst vor einem Monat in Liverpool hergestellt wurde: die Röntgenfluoreszenzanalyse.“

Pete beugte sich vor, um einen genaueren Blick auf die Maske werfen zu können. „Und wie viel Zeit benötigt so ein Test?“

Sie drehte sich zu ihm um und fand sich beinahe Nase an Nase mit ihm. Aus der Nähe betrachtet, waren seine Augen wunderschön: elegant geformt und von dichten schwarzen Wimpern gerahmt. Aber sein Gesichtsausdruck war so verschlossen, so zurückhaltend, dass er ebenso gut eine Statue hätte sein können. Er schien nicht zu merken, dass er längst ihre Privatsphäre verletzte. Dass seine körperliche Nähe viel besser zu einer Umarmung passte als zu einer Unterhaltung.

Sie schluckte und fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. „Selbst wenn ich die Tests sofort in Angriff nehme, dauert es vermutlich Wochen, bis ich Ergebnisse vorliegen habe. Eine Röntgenfluoreszenzanalyse kann ich nicht selbst durchführen. Damit muss ich ein Fremdlabor beauftragen.“

Erleichterung blitzte in seinen dunklen Augen auf, und Annies Herz machte einen Hüpfer. Er war froh. Er wollte noch eine Weile bleiben. Stärker als je zuvor wünschte sie sich, dass er sie küsste. Küss mich, dachte sie und starrte ihm in die Augen in der Hoffnung, er könne ihre Gedanken lesen.

Aber er rührte sich nicht.

Ihr wurde klar, dass sie die Initiative würde ergreifen müssen. Sie musste ihn küssen. Sie schaute zur Seite und nahm all ihren Mut zusammen. Was kann schon schlimmstenfalls passieren? Er kann mich auslachen. Na und? Also tu es einfach …

Pete richtete sich auf und schob seinen Stuhl zurück, außer Reichweite.

Verdammt, dachte Annie. Der günstige Moment war vorbei. Was zum Donnerwetter stimmte eigentlich nicht mit ihr? Zeigte sie ihm ihr Interesse etwa nicht deutlich genug? Oder liegt es vielleicht an Pete selbst, fragte sie sich bedrückt. Vielleicht hat er einen guten Grund, sich gegen die Verlockung zu wehren, die sich jedes Mal bemerkbar macht, wenn wir in einem Raum zusammen sind. Vielleicht liebt er eine andere. Verflixt, vielleicht ist er sogar verheiratet …

Sie blieb eine ganze Weile an der Arbeitsplatte im Labor sitzen und tat so, als würde sie die Totenmaske untersuchen. In Wirklichkeit dachte sie jedoch sehr intensiv über Pete Taylor nach.

Annie schaltete das Licht neben ihrem Bett aus. Sie hatte vor wenigen Minuten beim Zähneputzen im Bad eine Entscheidung getroffen und war entschlossen, ihrem Vorsatz treu zu bleiben: Sie wollte diesem Mann nicht nachstellen. Sie hatte ihn wissen lassen – natürlich auf subtile Weise, aber Pete Taylor war schließlich kein Dummkopf –, dass sie Interesse an ihm hatte. Also wäre es an ihm gewesen, den ersten Schritt zu tun. Oder eben nicht.

Offensichtlich hatte er sich für ‚Oder eben nicht‘ entschieden.

Na schön. Dann sollte es eben so sein. Sie war eine erwachsene Frau und konnte mit Zurückweisung umgehen.

Aber es würde ihr ganz und gar nicht guttun, im Dunkeln zu liegen und bis in die frühen Morgenstunden mit ihm zu reden. Womöglich noch mehr ihrer Geheimnisse preiszugeben. Oder gar, sich in ihn zu verlieben.

Sie lag schweigend im Dunkeln und hoffte aus tiefster Seele, dass es nicht schon zu spät war.

Die Minuten vergingen. Lange, endlos scheinende Minuten, in denen sie sich damit beschäftigte, ihre Arbeit für morgen zu planen. Anschließend versuchte sie sich möglichst viele Songs ins Gedächtnis zu rufen, die mit dem Wörtchen „I“ begannen. „I Think I Love You“, „I Wanna Hold Your Hand“, „I Had The Craziest Dream“, „I Do“, „I’m Dreaming Of a White Christmas“ … Halt, nein, das Letzte war nur der Anfang eines Songs, nicht der Titel.

Sie gab auf. „Taylor, sind Sie wach?“

„Ja.“

Am anderen Ende des Raums schloss Pete kurz seine Augen. Annie hatte so lange geschwiegen, dass er schon vermutet hatte, sie wäre entgegen ihrer bisherigen Gewohnheit bereits eingeschlafen.

„Glauben Sie, der Kerl am Telefon wollte mir zu verstehen geben, dass er wieder anrufen und mir mitteilen wird, wohin ich die Maske bringen soll? Oder was hat er gemeint, als er sagte: ‚Warten Sie auf weitere Anweisungen‘?“

Pete wusste genau, von wem sie redete. „Vermutlich wird er sich noch einmal melden“, antwortete er. „Aber ich glaube, zunächst werden er und seine Kumpane versuchen, Ihnen ordentlich Angst einzujagen, damit Sie die Polizei aus dem Spiel lassen.“

„Dafür ist es längst zu spät, die Polizei ist schon eingeschaltet“, gab Annie zurück. „Was glauben diese Typen denn, was ich tue? Soll ich ihnen etwa ernstlich ein Stück Gold aushändigen, das etliche Zehntausend Dollar wert ist? Reiner Materialwert, wohlgemerkt. Der historische Wert steht noch auf einem ganz anderen Blatt. Und selbst wenn ich die Maske hergebe, was dann? Soll ich Ben Sullivan anrufen und sagen: ‚Hoppla, tut mir leid, mir ist Ihr Eigentum abhandengekommen‘?“

„Ich weiß, dass Sie das nicht tun werden“, erwiderte Pete, „aber diese Leute kennen Sie nicht. Sie wissen nicht, dass man Ihnen nicht so leicht Angst einjagen kann.“

„Vielleicht kennen Sie mich auch nicht, Taylor“, sagte Annie leise. „Manchmal glaube ich, dass ich vor allem Angst habe.“

„Sich vor etwas zu fürchten ist eine Sache“, antwortete Pete, „wie weit man sich davon beeinträchtigen lässt, ist eine ganz andere.“

„Denken Sie nur an meine Angst vor Fledermäusen“, meinte Annie trocken.

„Offensichtlich haben Sie diese Angst ganz gut im Griff“, gab er zurück. „Immerhin bin ich der Einzige, der davon weiß.“

„Gibt es Dinge, vor denen Sie Angst haben, Taylor?“

Pete starrte lange zu den Fenstern hinüber, bevor er antwortete. „Ja“, äußerte er sich schließlich. „Ich bekomme es mit der Angst zu tun, wenn sich die Grenzen zwischen Recht und Unrecht verwischen. Neuerdings scheint es keine scharfe Trennung mehr zu geben, und das macht mir ganz gewaltig Angst.“

Eine Weile blieb es still. Dann lachte er, aber völlig ohne Humor. „Außerdem fürchte ich, dass ich dem Namen, den mein Großvater mir gab, nicht gerecht geworden bin.“

Pete hatte nicht in den Krieg gehen wollen. Er hatte ernstlich darüber nachgedacht, sich in den Rocky Mountains zu verstecken, ähnlich wie seine Vorfahren es getan hatten, wenn die Regierung ihnen Befehle erteilte, die ihnen gegen den Strich gingen.

Aber er war dann doch dem Befehl gefolgt. Zunächst fragte er sich noch, was jemand mit dem Namen ‚Der den Frieden herbeiredet‘ eigentlich in diesem fremden Land zu suchen hatte, mit seiner automatischen Waffe und seiner Tarnausrüstung. Aber er begriff relativ schnell, dass er gut darin war, am Leben zu bleiben, und ganz besonders gut darin, auch die Männer um ihn herum am Leben zu erhalten. Und irgendwie ergab es sich nach dem Ende des Krieges und dem Abzug der amerikanischen Truppen, dass er zurückblieb. Als Teil der Sondereinsatztruppe, die die amerikanischen Kriegsgefangenen und Vermissten aufspüren und retten sollte.

Er war in jenem Sommer achtzehn geworden. In manchen Bundesstaaten durften Jugendliche in diesem Alter noch nicht einmal Alkohol kaufen. Aber für den Krieg war er offenbar alt genug gewesen. Und seit diesem verhängnisvollen Sommer trug er immer eine Waffe bei sich. Er konnte sie jetzt fühlen, ein harter Klumpen unter seinem Schlafsack, jederzeit griffbereit, wenn er sie brauchte.

„Ein Mann des Friedens braucht keine Waffe“, hatte sein Großvater immer wieder gesagt. „Nur ein Gewissen, einen Willen und eine Stimme, die laut genug ist, um gehört zu werden.“

„Mann, der den Frieden herbeiredet“, unterbrach Annie seine Gedanken. „Warum wurden Sie so genannt?“

Er schwieg so lange, dass sie schon glaubte, er wolle nicht antworten.

„Ich habe seit Langem nicht mehr darüber nachgedacht“, sagte er schließlich. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt darüber reden will.“

„Entschuldigen Sie. Ich dachte nur … Ich hätte nicht …“

„Ich war dreizehn“, fiel er ihr ins Wort. „In dem Sommer starb meine Tante, die Schwester meiner Mutter. Meine Cousins gerieten dadurch völlig aus dem Tritt. Sie kamen auf unsere Ranch, um bei uns zu leben. Sie waren zu fünft. Jack war der Älteste, er war zwölf. Dann waren da noch Will, Thomas, Eddie und Chris, der noch ganz klein war. Er kann höchstens fünf gewesen sein. Er vermisste seine Mutter ganz besonders. Sie vermissten sie alle, aber nur Chris weinte. Er weinte, und Tom hänselte ihn deswegen. Sagte, dass Jungs nicht weinten, das täten nur Babys. Jack wurde dann immer wütend, fiel über Tom her und verprügelte ihn, und im Nu prügelten sie sich alle.

Nun ja, den ganzen Juli spielte ich den Vermittler, versuchte den Frieden zwischen den fünf Jungs zu wahren. Ich war älter als sie, und sie schauten zu mir auf. Aber trotzdem brauchte ich ihnen nur kurz den Rücken zuzuwenden, und schon hatte sich wieder jemand ein blaues Auge eingehandelt.

Nach ein paar Wochen begann ich zu begreifen, dass der Kleine, Chris, immer zu denselben Zeiten nach seiner Mutter weinte. Meistens gleich nach dem Aufwachen am Morgen und zu einer bestimmten Zeit am Nachmittag – gegen eins, glaube ich. Als seine Mutter noch lebte, hatte sie dann immer eine halbe Stunde nur mit ihm verbracht. In dieser Zeit las sie ihm vor, spielte mit ihm, schenkte ihm ihre ganze Aufmerksamkeit, während die anderen Jungs alle in der Schule waren.

Also begann ich ihn abzulenken. Ich übernahm es, ihn morgens zu wecken, und ich beschäftigte ihn so intensiv, dass er gar nicht merkte, was fehlte. Genauso hielt ich es am Nachmittag, und er brach immer seltener in Tränen aus.“

Annie lauschte seinen Worten und bemerkte plötzlich, dass sie beinahe den Atem angehalten hatte. Pete hatte noch nie, seitdem sie ihn kannte, so lange gesprochen. Schon gar nicht über sich selbst und seine Kindheit.

„Leider konnte man nicht dasselbe über die Prügeleien sagen“, fuhr er leise lachend fort. „Auch als Chris gar nicht mehr weinte, fanden die älteren Jungen genügend Anlässe, um aufeinander loszugehen. Ich konnte einfach nicht herausfinden, was in sie gefahren war. Sie hatten sich vorher nie gestritten – jedenfalls nicht so heftig.“

Er hielt inne. Nicht aufhören, dachte Annie. Sie stellte sich ihn als dreizehnjährigen Jungen vor, hochgewachsen und ernsthaft, mit diesen feurigen dunklen Augen. „Was geschah dann?“, fragte sie leise.

„Ich ging zu meinem Großvater und sprach mit ihm darüber. Ich fragte ihn, warum meine Cousins sich ständig prügelten. Er sagte mir, das sei ihre Art, um ihre Mutter zu trauern. Darüber musste ich ein paar Tage nachdenken. Dann musste ich mit ansehen, wie Will seinem Bruder Jack die Nase brach und Jack beinahe Tom den Arm gebrochen hätte, und ich entschied, dass die Jungs einen anderen Weg finden mussten, mit dem Tod ihrer Mutter fertigzuwerden.

Ich nahm die ganze Bande mit auf eine Wanderung in die Berge, zu einem Ort, den ich kannte, einem Platz, an dem man das ganze Tal überblicken konnte. Dort oben fühlte man sich dem Himmel ganz nah. Man konnte die Ranch meines Vaters überblicken, die Felder, die wie ein Flickenteppich tief unter uns lagen. Überall blühte das Leben. Es gab so viele Schattierungen von Grün, und der Himmel war so blau, dass es wehtat, zu ihm hochzuschauen.

Wir setzten uns auf ein paar Felsblöcke, und die Jungs waren endlich einmal still und ließen einfach nur die Landschaft auf sich wirken. Ich saß da und dachte an meine Tante Peg, ihre Mutter. Ich dachte an sie, und schon nach kurzer Zeit begann ich zu weinen. Ich saß einfach nur da, die Tränen liefen mir die Wangen hinunter, und nach und nach bemerkten die Jungs, dass ich weinte. Sie waren schockiert, zutiefst schockiert, denn – wie Tom so gern betonte – Jungs sollten eigentlich nicht weinen.

Will fragte mich schließlich, warum ich weinte, und ich sagte ihm, ich täte das, weil ich seine Mutter vermissen würde. Ich sagte ihnen, dass manchmal sogar erwachsene Männer weinen müssen, und wenn Männer weinen dürften, dann dürften Jungs das erst recht. Und sie glaubten mir, weil ich älter war als sie. Schon bald fing auch Chris zu weinen an – das ging bei ihm immer sehr schnell –, dann brach Tom zusammen, dann Will und Eddie, und schließlich weinte sogar Jack. Wir saßen bestimmt eine Stunde nur da und weinten. Dann erzählte ich ihnen, dass dieser Ort, an den ich sie geführt hatte, mein ganz besonderer Zufluchtsort sei, dass sie ihn aber jederzeit aufsuchen dürften, wenn sie das Bedürfnis hätten.

Wir stiegen wieder den Berg hinunter. Von diesem Tag an gab es fast keine Prügeleien mehr. Am Ende jenes Sommers gab mir mein Großvater den Namen Hastin Naat’aanni, also ‚Mann, der den Frieden herbeiredet‘. Das war der Name eines großen Diné-Häuptlings, der vor mehr als hundert Jahren lebte.“

Er war so stolz gewesen, so jung und voller Hoffnungen und Träume. Pete brauchte sich nicht zu fragen, was geschehen war, was ihn so verändert hatte. Er wusste es verdammt genau. Die Army.

„Das ist eine tolle Geschichte“, sagte Annie leise in der Dunkelheit. „Danke, dass Sie sie mir erzählt haben. Ihr Großvater muss ein großartiger Mensch gewesen sein.“

„Ja“, sagte Pete und schloss die Augen, während er sich erinnerte. „Er war ein reiner Diné. Er muss damals schon über sechzig gewesen sein, aber er hatte noch lange schwarze Haare, die er mit einem Stirnband aus dem Gesicht hielt. Er war Silberschmied und ständig auf Achse. Seinen Schmuck verkaufte er auf Jahrmärkten und Rodeo-Veranstaltungen. Wenn er uns besuchte, errichtete er in unserer Scheune seine Werkstatt. Er wollte mich nicht gehen lassen.“

„Gehen lassen? Wohin?“

In den Krieg. Pete öffnete die Augen. Verdammt, was tue ich hier eigentlich? Habe ich allen Ernstes vergessen, wer ich bin und warum ich hier bin? Pete Taylor ist nie in irgendeinem Kriegsgebiet. „An die New Yorker Universität“, antwortete er, froh, dass ihm eine Antwort eingefallen war.

„Warum gingen Sie trotzdem?“, fragte sie. Ihre Stimme geisterte durch das Zimmer, als wäre sie etwas Lebendiges, nach dem er greifen und das er berühren konnte.

„Weil ich musste“, antwortete er schlicht.

„Sie mussten nicht“, widersprach sie. „Niemand muss etwas tun, wenn er es nicht will.“

„Das stimmt nicht. Es gibt Dinge, die lassen einem keine Wahl.“

Er musste dringend die Kontrolle zurückerlangen. Sie durften nicht länger über ihn reden, sondern mussten das Gespräch auf sie zurückbringen. Er musste sie dazu bringen, über Athen, England und die Leute zu reden, die sie dort getroffen hatte. Aber wie sollte er das anstellen?

„Annie.“

Sie schloss ihre Augen und genoss, wie er ihren Namen aussprach – obwohl sie wusste, dass es besser war, das nicht zu tun. „Mhmm?“

„Wenn Sie jemals in Schwierigkeiten geraten“, sagte er langsam und suchte dabei nach den richtigen Worten, „dann hoffe ich, dass Sie sich an mich wenden und mir erlauben, Ihnen zu helfen.“

Schlagartig war es still im Raum. Sämtliche Geräusche, die von Annie ausgingen – unruhige Bewegungen, das Rascheln ihrer Decken, selbst das Geräusch ihres Atems –, verstummten. Fünfzehn Sekunden, zwanzig Sekunden, das Schweigen zog sich endlos in die Länge …

„Taylor, ich verstehe nicht, was Sie mir sagen wollen“, antwortete sie schließlich. „Warum tun Sie mir nicht den Gefallen und sprechen es einfach aus?“

Pete musste lachen. Er konnte nicht anders. Junge, diese Frau war einfach zu viel für ihn. „Na schön“, sagte er. „Ich schätze, ich wollte Folgendes sagen: Wenn Sie irgendwas mit dieser Kunstraubsache zu tun haben, wenn Sie zu tief mit drinhängen, dann möchte ich, dass Sie mir das sagen. Ich kann Ihnen nämlich helfen.“

Wieder blieb es einige Sekunden still. Dann sagte Annie: „Danke, Taylor, das ist lieb von Ihnen. Gute Nacht.“