12. KAPITEL

E s war zwanzig nach sieben, als Annie vorsichtig in ihren High Heels ins Wohnzimmer stöckelte. Nick, fein herausgeputzt im Smoking und mit schwarzer Fliege, stand auf. Seine Augen funkelten fast so strahlend wie das Licht, das von seinen blonden Haaren reflektiert wurde. Mit ausgestreckten Armen trat er ihr entgegen, küsste sie auf beide Wangen und tätschelte ihr dann die Schulter.

„Perfekt“, sagte er und zeigte seine strahlend weißen Zähne. „Ich hätte mir kein besseres Kleid erträumen können. Du siehst zum Anbeißen aus, süße Annie. Ganz New York wird dir zu Füßen liegen. Es gefällt mir, wenn du die Haare hochsteckst, Liebes. So siehst du ein bisschen wie ein kleines Mädchen aus, das große Dame spielt.“

Pete stand schweigend in der Tür und betrachtete Annie. York hatte recht, stellte er fest. Mit der eleganten Steckfrisur und den frechen Löckchen über der Stirn, den großen blauen Augen und den vollen Lippen sah Annie tatsächlich jünger aus als mit offenen Haaren. Ihr Kleid jedoch zeigte sehr deutlich, dass sie eine erwachsene Frau war. Es war aus blauem Samt, schulterfrei und mit tiefem Ausschnitt. Eng anliegend und kurz, betonte es ihre weibliche Figur. An den endlos langen Beinen trug sie hauchdünne Seidenstrümpfe und schwarze hochhackige Wildlederpumps. Dazu als Schmuck nur ein Paar silberne Ohrhänger. Eine Diné-Arbeit, wie Pete feststellte.

„Hal-lo.“ Jetzt hatte Nick ihn entdeckt. „Wen haben wir denn da?“

Annies Augen weiteten sich, als sie Pete entdeckte. Sein Smoking war eine perfekte Maßarbeit und saß hervorragend an seinem durchtrainierten Körper. Die Haare zurückgekämmt, die Wangen glatt rasiert, erinnerten nur noch seine blitzenden dunklen Augen an den gefährlich aussehenden jungen Mann, der vor wenigen Stunden mit bloßem Oberkörper ihren Rasen abgeharkt hatte.

Pete konnte nicht anders. Unfreiwillig glitt sein Blick an ihrem Körper hinab und dann wieder zurück nach oben, blieb dabei an ihren langen Beinen und der sanften, halb entblößten Rundung ihrer Brüste hängen. Ihre Blicke trafen sich, und er sah ihr an, dass er sein Verlangen nach ihr nicht länger verbergen konnte. Hastig wandte er sich ab, zwang sich, blind auf den Perserteppich zu starren, der auf dem Fußboden lag.

Annie hatte Mühe, ihren Atem zu beruhigen. Sie fragte sich, ob sie sich das wilde Verlangen in Petes Augen nur eingebildet hatte. Nein, sie wusste genau, was sie gesehen hatte. Auch wenn es vollkommen unbegreiflich war.

„Nick, das ist Pete Taylor“, sagte sie und versuchte ihre plötzliche Atemlosigkeit zu überspielen. „Er hat dir die Tür geöffnet, erinnerst du dich? Pete, Dr. Nicholas York.“

Die beiden Männer schüttelten einander die Hände. Annie konnte sehen, wie Pete sein Gegenüber schweigend taxierte. Nick ging etwas weniger subtil vor und musterte Pete unverhohlen von oben bis unten.

„Ich dachte, Sie seien der Gärtner“, meinte Nick. „Offenbar habe ich mich geirrt.“ Er wandte sich an Annie. „Liebes, du hast mir gar nicht erzählt, dass du einen neuen Forschungsassistenten hast.“

„Taylor ist mein Leibwächter.“

„Ein Leibwächter.“ Nick drehte sich um und musterte Pete noch einmal. „Du machst Witze.“

„Annie hat mehrfach Todesdrohungen erhalten“, erläuterte Pete. Wieder schaute er Annie kurz in die Augen, bevor er hastig wegsah.

„So, so, hat Annie das?“, fragte Nick und betonte dabei ihren Vornamen. Er schaute zu Annie hinüber. „Weißt du, genau da liegt das Problem bei euch Amerikanern. Ihr legt so viel Wert auf Gleichheit, dass ihr euren Dienstboten erlaubt, euch beim Vornamen zu nennen.“ Er wandte sich wieder Pete zu. „Nehmen Sie sich heute Abend frei, alter Junge. Ich kann sie ebenso gut beschützen wie Sie. Nein, ganz sicher besser. Mein IQ ist bestimmt doppelt so hoch wie Ihrer.“

„Benimm dich nicht wie ein Idiot, Nick“, mahnte Annie scharf.

Nick schlang ihr die Arme um die Taille und zog sie an sich heran. „Ich habe einen sehr romantischen Abend geplant“, flüsterte er. „Ich wollte dich auf dem Weg in die Stadt auf der Rückbank der Limousine verführen.“

Pete biss die Zähne zusammen. Es konnte kaum dem Drang widerstehen, Nick York am Hemdkragen zu packen und ihm die perfekte sonnengebräunte Visage zu polieren. Das war an sich schon schlimm genug. Aber etwas anderes erschreckte Pete noch viel mehr: dass er diesen Drang überhaupt verspürte. Er hatte kein Recht auf Annie. Er hatte seine Chance bekommen, sie aber nicht wahrgenommen. Er hatte sie ausgeschlagen, und jetzt hatte er nicht das Recht, irgendetwas zu sagen oder zu tun.

„Eine Limousine?“, fragte Annie und löste sich von Nick.

Nick grinste. „Ich brauche unbedingt Sponsorengelder. Bin abgebrannt bis auf den letzten Cent. Aber heute Abend liegt eine Unmenge von Geld praktisch auf der Straße, und da dachte ich mir: Die Leute unterstützen am liebsten Siegertypen, richtig? Siegertypen fahren in Limousinen vor. Apropos vorfahren, wir sollten uns beeilen. Wir möchten doch das Büfett nicht verpassen – meine einzige anständige Mahlzeit in dieser Woche.“

„Ich bin gleich fertig. Muss mich nur noch überzeugen, dass alles sicher verschlossen ist.“ Annie eilte davon in Richtung Labor, Pete und Nick folgten ihr.

Als Nick sich der Eingangstür zuwandte, ging Annie ins Büro und schaltete die Lampen aus. Dann überprüfte sie das Labor. Die Instrumente waren verstaut, die Waschbecken gesäubert, die Arbeitsflächen aufgeräumt. Alles war in Ordnung, der Tresor sicher verschlossen. Sie wandte sich zur Tür um und sah sich plötzlich Auge in Auge Pete gegenüber.

Ihre Blicke trafen sich, und wieder sah sie das Feuer in seinen Augen. Diesmal wandte er den Blick nicht ab.

„Du siehst wunderschön aus“, sagte er leise.

Annie starrte wie hypnotisiert zu ihm hoch. „Danke“, murmelte sie.

Pete konnte nicht anders. Er trat einen Schritt näher. Noch einen Schritt. Sie fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, und heftige Begierde durchzuckte ihn, heiß, stechend und sehr schmerzhaft.

Gott helfe mir, ich muss sie einfach küssen …

Von draußen erklang Nicks Stimme. „Liebling, ich dränge nur äußerst ungern, aber wir sollten jetzt wirklich fahren.“

Pete wandte sich abrupt ab. Eine Welle von Zorn und Frust schlug über ihm zusammen. Er hätte nicht sagen können, über wen er sich mehr ärgerte: über York, weil er sie störte, oder über sich selbst, weil er beinahe schwach geworden wäre.

Annie schaltete das Licht im Labor aus und eilte an Pete vorbei zur Tür hinaus.

„Fertig, Süße?“ Nick lächelte, nahm ihren Arm und geleitete sie auf den Hof, wo die Stretchlimousine wartete.

Pete nahm Annies Reisetasche und seinen Rucksack und verstaute beides im Kofferraum. Er wollte gerade zu Annie einsteigen, als Nick ihn aufhielt.

„Dienstboten sitzen vorn“, stellte Nick kalt klar. „Sie können beim Fahrer sitzen.“

Pete verzog keine Miene. „In diesem Fall nicht“, erwiderte er und stieg hinten ein. Er setzte sich Annie gegenüber und versank tief im weichen Ledersitz.

Als Nick sich neben Annie niederließ und die Limousine langsam aus der Einfahrt rollte, schaute Pete aus dem Fenster. Ihm stand ein langer Abend bevor, und er wappnete sich innerlich. Annie beobachtete ihn, das konnte er spüren. Ihre Verwirrung war beinah mit Händen greifbar, und er wusste, dass er ihr besser nicht noch einmal in die Augen schauen sollte. Das würde alles nur noch schlimmer machen.

Aber er konnte nicht anders. Er schaute auf. Eigentlich wollte er ihr nur einen kurzen Blick zuwerfen, aber ihre Blicke trafen sich und ließen einander nicht wieder los.

Er starrte ins bodenlose Blau ihrer Augen und wusste endgültig, dass er die Kontrolle verloren hatte.

Der Empfang im Museum für Moderne Kunst war bereits in vollem Gange. Im Foyer spielte ein Orchester, und es wurde getanzt. Ein Büfett war aufgebaut worden. Es ächzte unter der Last wunderbar aromatischer Speisen.

Pete gab Annies Jacke und ihr Gepäck an der Garderobe ab, ohne Annie dabei aus den Augen zu lassen.

Nick hatte sie auf den Tanzboden entführt, und sie wiegten sich elegant zu einem alten Song. Stardust, schoss es Pete durch den Kopf. Das war der Songtitel: Stardust. Er hielt sich am Rand der Menge, wo er Annie und Nick gut sehen konnte.

Annie fiel auf zwischen den Leuten. Ihre schimmernden Haare, ihr langer anmutig geschwungener Hals, ihre cremeweißen Schultern über dem Mitternachtsblau des Kleides … Sie sah so aus, als gehörte sie hierher, in den Glanz der feinen New Yorker Gesellschaft. Und Nick York sah so aus, als gehörte er an ihre Seite.

Pete sah, wie Nick sich zu Annie hinabbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie lächelte, sichtlich nicht bei der Sache. Sie schaute sich um, ihr Blick schweifte suchend über die Menge … und landete auf Pete. Mit atemberaubender Plötzlichkeit wurde ihm klar, dass sie nach ihm Ausschau gehalten hatte.

Trotz der Entfernung zwischen ihnen sprühten förmlich die Funken, als ihre Blicke sich trafen. Aber dann schwang York Annie herum, sodass sie Pete den Rücken zudrehte.

Pete holte tief Atem und sah sich um. Gab es irgendwo Anzeichen für drohenden Ärger? Irgendetwas Ungewöhnliches? In einer Menschenmenge wie dieser wäre es einem Mörder ein Leichtes, ganz nah an sein Opfer heranzukommen und es beispielsweise mit einem Messer zu verletzen. Ein rascher Stich, und das Opfer würde nicht einmal fallen, weil das Gedränge ringsum dies verhinderte. Mann, was gäbe er darum, jetzt an Annies Seite zu sein, sie mit seinem eigenen Körper schützen zu können. Was gäbe er darum, mit ihr tanzen zu dürfen und sie in den Armen zu halten …

Das Orchester beendete das Stück, und die Tänzer applaudierten. Pete sah zu, wie York sich wieder zu Annies Ohr hinabbeugte und zum Büfett hinüberdeutete.

Annie ließ sich von Nick zum Büfett geleiten. Sie warf einen Blick zurück über die Menge, dorthin, wo sie Pete zuletzt gesehen hatte. Aber er war fort.

Er hatte den ganzen Tanz hindurch dort gestanden und sie beobachtet. Sein Blick war dabei genauso intensiv gewesen wie vorhin in ihrem Haus und während der gesamten Fahrt in der Limousine. Was war los? Als er in jener Nacht fluchtartig ihr Zimmer verlassen hatte, hätte er kaum deutlicher sagen können, dass er sie nicht wollte. Also warum schaute er sie plötzlich so an, als wollte er sie doch? Hatte das was mit männlichen Besitzansprüchen zu tun? Annie runzelte leicht die Stirn. Vielleicht war es ja so, dass Pete sie zwar nicht haben wollte, sie aber auch keinem anderen gönnte. Vielleicht spielte er aber auch einfach nur gern mit ihr. Vielleicht genoss er es, sie hinter sich herhecheln zu sehen. Vielleicht …

Pete stand am Büfett und schaute sie an, als wäre sie der Hauptgang. Sein Blick glitt über ihr Gesicht, blieb einen oder zwei Herzschläge länger als nötig an ihren Lippen hängen. Schweigend bot er ihr einen Teller an, aber sie schüttelte den Kopf.

„Nein, danke“, lehnte sie ab. „Ich habe keinen großen Hunger.“

Inmitten der Gäste entdeckte sie Jerry Tillet. „Entschuldige mich“, murmelte sie Nick zu und löste sich von seinem Arm. Als sie sich Tillet näherte, sah sie, dass er in ein ernstes Gespräch mit einem großen breitschultrigen Mann mit zerfurchtem Gesicht verwickelt war. Erst als sie näher kam, erkannte sie Steven Marshall – den Käufer der Totenmaske und Petes Arbeitgeber. Lächelnd begrüßte sie die beiden Männer.

„Dr. Tillet, ich wusste gar nicht, dass du Mr Marshall kennst“, sagte sie.

Trotz seines Lächelns schien Jerry sich nicht wohlzufühlen. „Ja, nun“, meinte er. „In diesem Metier kennt jeder jeden. Du weißt ja, wie das ist.“

Marshall schüttelte Annie die Hand und führte sie dann an seine Lippen. „Wie geht es Ihnen, Darling?“, fragte er. „Alles in Ordnung?“

Annie entzog ihm ihre Hand. „Um ehrlich zu sein, es gerät alles ein wenig außer Kontrolle.“

Marshalls hellbraune Augen funkelten amüsiert. „Dr. Tillet hat mir von den Fledermäusen erzählt. Das muss ordentlich Leben in Ihre Bude gebracht haben.“

Ein Kellner mit einem Tablett voller Champagnergläser ging vorbei. Marshall griff sich geschickt zwei Gläser, reichte eines davon mit einer leichten Verbeugung weiter an Annie. Sie nippte davon und schaute sich um – direkt in Petes Augen. Er stand etwa fünf Meter entfernt an einer Wand und beobachtete sie. Sie wandte ihm nachdrücklich den Rücken zu.

„Ich habe die Arbeit an der Totenmaske vorgezogen“, informierte Annie Marshall. „In ein paar Tagen kann ich sie vermutlich schon für die Röntgenfluoreszenzanalyse weitergeben.“

Marshalls Lächeln wurde breiter. „Oh, schön“, sagte er. „Bei Ihnen regnet’s, und mein Garten profitiert davon. Aber so ist das Leben, nicht wahr?“

„Ja, so ist das Leben“, stimmte Annie zu.

Tillet war sichtlich nervös, und Annie begriff, dass sie das Gespräch unterbrochen hatte, bevor er Marshall um Fördergelder bitten konnte. „Hat Dr. Tillet Ihnen von seinem neuesten Maya-Projekt erzählt?“, fragte sie. „Es ist faszinierend.“

Mit dankbarem Lächeln legte Tillet los. Annie kannte seinen Vortrag bereits in- und auswendig, deshalb hörte sie nur mit einem Ohr hin, nippte an ihrem Champagner und sah sich um.

Pete Taylor hatte den Standort gewechselt und stand jetzt wieder genau in ihrer Blickrichtung. Annie versuchte ihn so lange unverwandt anzusehen, bis er den Blick abwenden musste, aber das fachte die Glut in seinen Augen nur an. Das ist ein Spiel, dachte sie. Er spielt mit mir, will wissen, wer den stärkeren Willen hat. Sie klammerte sich an ihrer Wut fest und versuchte mit aller Kraft, dem heißen Verlangen, das sich in ihr breitmachte, nicht nachzugeben.

Doch in Wahrheit waren Spiele etwas für Kinder. Abrupt wandte Annie sich ab und eilte zurück zum Büfett, auf der Suche nach Nick und der Sicherheit, die er ihr bot. Bei dem Gedanken musste sie lachen. Nick wäre sicherlich ziemlich beleidigt, wenn er erfuhr, dass sie sich bei ihm sicher fühlte.

Aber er war in eine lebhafte Unterhaltung mit drei sehr wohlhabend wirkenden Damen verwickelt. Zweifellos versuchte er sie mit Schmeicheleien dazu zu bringen, ihm eine beachtliche Summe Fördergelder zukommen zu lassen.

Annie blickte stirnrunzelnd auf das Büfett und wünschte sich, sie wäre zu Hause geblieben. Ihr gefiel nicht, wie ihre Kollegen katzbuckeln und sich abmühen mussten, um Forschungsgelder aufzutreiben. Seitdem die Regierung de facto keine Gelder mehr zur Verfügung stellte, mussten geniale Wissenschaftler fast ihre ganze Freizeit opfern, um Projekte am Laufen zu halten. Und nicht nur ihre Freizeit, sondern auch einen großen Teil jener Zeit, die sie ihrer Forschung widmen sollten.

Immer noch stirnrunzelnd spießte Annie eine schwarze Olive mit einem Zahnstocher auf, steckte sie in den Mund und wandte sich vom Tisch ab.

„Sag nicht, dass das alles ist, was du essen willst.“

Überrascht blickte sie auf, direkt in Petes Augen. Er stand viel zu nah, nur Zentimeter von ihr entfernt.

Sie wich zurück. „Du verhältst dich nicht sehr unauffällig“, tadelte sie ihn.

Er trat näher. „Soll ich dir einen Teller holen?“, fragte er. „Dort drüben sind Tische frei, falls du dich setzen möchtest.“

Annie starrte ihn an. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine seltsame Mischung aus Unglauben und Sehnsucht. Trotzdem rückte er noch näher, blieb erst stehen, als kaum noch Luft zwischen ihnen war. Wenn sie jetzt tief ausatmet, ging es ihm durch den Kopf, dann berühren mich ihre Brüste.

„Pete, warum tust du das?“, fragte sie leise.

Gute Frage. Warum tue ich das? Er wusste ganz genau, dass er alles riskierte, wenn er heute Nacht mit ihr schlief. Doch sie wünschte es sich. Und er wünschte es sich auch. Einen kurzen Moment kam ihm der verrückte Gedanke, Annie zu schnappen und mit ihr abzuhauen. Sie könnten das Land verlassen, die Ermittlungen wegen der Kunstraube vergessen, Kendall Peterson vergessen. Er könnte für immer als Pete Taylor weiterleben. Annie müsste nie etwas erfahren. Er würde ihr nie sagen müssen, wer er wirklich war und dass er sie belogen hatte.

„Was willst du von mir?“, flüsterte sie.

„Tanz mit mir, Annie“, antwortete er heiser.

Annie spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. Sie sammelte Kraft, verbot sich zu weinen. „Hör auf damit“, sagte sie. All ihren Bemühungen zum Trotz zitterte ihr die Stimme. „Spiel nicht mit meinen Gefühlen, Taylor. Du weißt ganz genau, dass ich …“ Sie schloss die Augen und holte tief Luft. „… dich haben will. Also. Ich gebe es zu. Du hast gewonnen. Jetzt lass mich in Ruhe.“

Sie drehte sich um und stürzte davon. Mühsam zurückgehaltene Tränen brannten in ihren Augen, aber sie zwang sich, den Menschen, die sie in der Menge erkannte, fröhlich zuzulächeln. Sie wollte nur noch nach Hause. Aber ihr Zuhause war unerreichbar für sie. Unsicher, solange die neue, bessere Alarmanlage noch nicht installiert war.

Als sie die Bar entdeckte, die eine ganze Wand des grellbunt dekorierten Foyers einnahm, steuerte sie darauf zu. Was sie jetzt brauchte, war ein großes Glas eisgekühltes Mineralwasser. Dann würde sie Cara suchen und sich mit ihr auf die Damentoilette zurückziehen, weit weg von Pete Taylor …

„Dr. Morrow – welch angenehme Überraschung!“

Sie drehte sich um und fand sich einem kleinen Mann mit lockigem braunen Haar gegenüber. Er trug eine dicke Goldkette am Handgelenk und eine weiße Nelke im Knopfloch seines Smokings. Alistair Golden, ihr schärfster Konkurrent.

„Dr. Golden“, sagte sie und ergriff die Hand, die er ihr entgegenstreckte.

„Was macht die Arbeit?“, fragte er und musterte sie prüfend aus grünen Augen.

Wenn man sich mit diesem Mann unterhielt, fühlte man sich fast wie bei einem Verhör. Das lag weniger an seinen Worten, sondern vor allem an seinem durchdringenden Blick. Er erinnerte Annie an einen Frosch, der eine Fliege beobachtete, die er zum Mittagessen verspeisen wollte. Und sie war die Fliege.

„Läuft gut“, log sie. „Und wie steht es bei Ihnen?“

„Läuft gut“, gab er zurück, und sie fragte sich, ob er ebenfalls log. „Ich habe gehört, Sie hätten neuerdings ein paar Sicherheitsprobleme. Irgendwas mit … bösen Geistern?“

„Das verbreitet sich wohl wie ein Lauffeuer“, murmelte Annie und warf einen sehnsüchtigen Blick hinüber zur Bar.

Die Aufmerksamkeit des Mannes richtete sich auf etwas hinter Annies rechter Schulter, und sie drehte sich um. Pete stand da.

„Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet“, meinte Dr. Golden.

„Dr. Alistair Golden. Pete Taylor“, stellte Annie die beiden kurz vor. Sie schüttelten sich die Hände.

„Taylor arbeitet für mich“, erläuterte sie und erweckte bewusst den Eindruck, er sei nur ein Angestellter. „Er ist ein Wachmann.“ Sie nannte ihn nicht Leibwächter, weil diese persönliche Beziehung ihr gegen den Strich ging. „Entschuldigen Sie mich“, fügte sie hinzu und nutzte die Gelegenheit, sowohl Goldens forschendem Blick als auch Petes Gegenwart zu entkommen.

Noch etwa sechs Meter trennten sie von der Bar, als sich eine Hand um ihren Arm legte. Sie erstarrte, drehte sich aber nicht um. Das konnte nur Pete sein.

„Annie, wir müssen reden“, sagte er leise, aber dennoch gut vernehmlich trotz der vielen lachenden und plaudernden Gäste und des Orchesters, das gerade einen alten romantischen Song spielte.

Da endlich drehte sie sich um. „Nein, müssen wir nicht“, sagte sie. „Hör endlich auf, Taylor. Bitte! Mir ist nicht nach Reden zumute.“

„Dann tanz mit mir.“

Ihre Augen blitzten zornig auf. „Spreche ich chinesisch, Junge? Ich sagte Nein. Verstanden? Nein!“

Sie wandte sich ab, aber er griff nach ihrem Handgelenk und zog sie zurück. „Dann hör mir zu. Du musst nicht reden. Du brauchst nichts zu sagen.“

„Ich will dir nicht zuhören.“

„Annie, hab Erbarmen mit mir …“

„Süße Annie!“ Unerwartet tauchte Nick York neben ihnen auf. Erschreckt fuhren Pete und Annie zusammen. „Annie, sie spielen unser Lied!“

Damit zog Nick sie auf die Tanzfläche und legte seine Arme um sie. Annie schaute ihm über die Schulter. Sie sah, wie Pete frustriert den Kopf schüttelte. Als er aufschaute und ihre Blicke sich trafen, hielt Annie den Atem an. Da war er wieder, dieser Blick, der sie nun schon seit Wochen verwirrte.

Warum wollte Pete jetzt plötzlich ohne jede Vorwarnung mit ihr tanzen? Das machte keinen Sinn. Nichts von dem, was geschah, machte Sinn.

Erschöpfung überkam sie, und sie stolperte. Nur der Umstand, dass Nick sie in den Armen hielt, verhinderte, dass sie stürzte.

„Nick, ich bin fix und fertig“, sagte sie und schaute ihrem Freund in die Augen. „Ich möchte nach Hause.“

„Soll ich dir ein Taxi rufen?“, fragte er. Dann wurde ihm bewusst, wie gleichgültig das klang, und er fügte hinzu: „Ich kann jetzt noch nicht gehen, Annie.“ Er schaute sie ernsthaft an und wirkte sogar leicht beschämt. „Es tut mir leid, Liebes, aber ich habe da ein paar Eisen im Feuer, ein paar Geldgeber, die …“

„Schon gut“, sagte sie und meinte es so. Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass Nick den Empfang drei Stunden zu früh verließ. Gehofft schon, aber nicht erwartet. „Ich rufe mir selbst ein Taxi.“

„Oh Gott, da sind Mr und Mrs Hampton-Hayes“, fiel Nick ihr ins Wort, „und sie sehen aus, als wollten sie gehen. Annie, die sind reicher als Gott selbst, und ich muss einfach mit ihnen reden. Ruf mich an, Süße!“

Damit war er fort, ließ sie einfach mitten auf der Tanzfläche stehen. Guter alter Nick. Wenn man sich auf dich verlässt, ist man verlassen.

„Ich wollte um den nächsten Tanz bitten, aber es sieht ganz so aus, als wäre dein Tanzpartner gerade abgesprungen.“

Pete.

Annie drehte sich um. Er stand hinter ihr, und bevor sie auch nur den Mund öffnen konnte, bevor sie sich rühren konnte, hatte er sie schon in den Arm genommen.

Es war der Himmel auf Erden.

Er hielt sie so eng an sich gedrückt, dass sie seinen Herzschlag spürte. Seine starken Arme umfingen sie sanft, eine Hand lag auf ihrer Hüfte, die andere umschloss ihre Hand.

Annie schloss die Augen und ließ sich gegen ihn sinken. Dies musste ein Traum sein. Oft genug hatte sie geträumt, dass Pete sie so hielt wie jetzt. Schlagartig war ihr Widerstand zusammengebrochen. Sie löste ihre Hand aus seiner und legte sie in seinen Nacken, zog ihn dichter an sich, ließ ihre Finger durch seine weichen Haare gleiten.

Seine Arme umschlossen ihre Taille noch fester, und als sie zu ihm hochschaute, sah sie das wachsende Begehren in seinen Augen. Er schob eine Hand auf ihrem Rücken hoch, sodass sie auf dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides zu ruhen kam, ließ seine Finger leicht über ihre bloße Haut wandern, bis zu den Schultern hinauf und wieder zurück.

Pete fühlte den leisen Ton, den sie unter seiner Berührung von sich gab, mehr, als er ihn hörte. Es war beinah zu viel für ihn.

„Annie“, hauchte er, „Annie …“

Er hatte den Verstand verloren, ohne jeden Zweifel. Er hatte ihr gesagt, dass er mit ihr reden musste, aber was sollte er ihr eigentlich sagen? Er konnte ihr nicht sagen, dass er zur CIA gehörte. Er konnte es einfach nicht.

Er konnte ihr sagen, dass er sie liebte.

Konnte darum beten, dass sie ihn auch liebte. Dass sie ihn genug liebte, um ihm all seine Lügen, seine Halbwahrheiten, seinen Betrug zu verzeihen.

Er presste seine Hüften an sie, während sie sich zur Musik wiegten. Sie tanzten nicht wirklich, taten nur so, und Annie schaute erneut zu ihm hoch, verlor sich in der bodenlosen Tiefe seiner Augen.

Warum küsst er mich nicht?

Sie hielt es keine Sekunde länger aus, stellte sich auf die Zehen, zog seinen Kopf zu sich herunter und streifte seine Lippen mit den ihren. „Küss mich, Taylor“, sagte sie leise und öffnete einladend den Mund.

Er gab einen Laut von sich, der halb ein Lachen, halb ein Stöhnen war. „Ich kann nicht.“

Sie rückte so weit von ihm ab, wie ihr das möglich war, obwohl er sie immer noch in den Armen hielt. „Warum nicht?“

Pete sah die Frustration in ihren Augen. Frustration, Fragen, leisen Schmerz. Sie verstand nicht. Sie glaubte, er wolle sie nicht küssen. Wenn sie doch nur wüsste …

Er hob die Hand und berührte ihr Gesicht, zog sanft ihre Lippen mit dem Daumen nach. „Annie, ich möchte es“, sagte er leise, „aber ich soll dich beschützen. Wie kann ich auf dich aufpassen, wenn ich dich küsse?“

Er spürte, wie sie in seinen Armen erzitterte. „Dann küss mich mit offenen Augen.“

„Niemals.“ Pete schüttelte den Kopf. „Wenn ich dich küsse, dann richtig.“

Sekundenlang blieben ihre Blicke aneinander hängen, und Annie verschlug es den Atem. Warum jetzt? Die Frage ging ihr immer wieder durch den Kopf. In der Nacht, in der sie sich ihm angeboten hatte, war er davongerannt. Er hätte sie haben können, hatte sie aber abgewiesen. Warum also wollte er sie jetzt?

Denk nicht nach, befahl sie sich. Überleg nicht, stell keine Fragen, mach jetzt nicht alles kaputt. Und dann hält das hier vielleicht für immer …

Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. „Wenn du mich nicht mit offenen Augen küssen willst, sollten wir vielleicht irgendwohin gehen, wo du es für sicher genug hältst, die Augen zu schließen.“

Sie spürte seine Finger in ihrem Nacken. Er streichelte sanft ihre Haut. „Das halte ich für eine großartige Idee“, sagte er.

Er nahm Annie bei der Hand und geleitete sie von der Tanzfläche. Natürlich wusste er, dass es ein Fehler war, das Licht und die Menge zu verlassen. Heute Nacht würden sie ein Hotelzimmer teilen, und wenn ihn nicht ein plötzlicher Anfall von Selbstbeherrschung ereilte, würde er auch das Bett mit ihr teilen.

Pete schaute die Frau an, die ihm folgte. Prägte sich ihre weiche glatte Haut, ihr hübsches Gesicht, ihre blauen Augen ein, die ihn so offen und vertrauensvoll anschauten … Er fluchte im Stillen. Keine Frage, dass seine Selbstbeherrschung längst dahin war. Er konnte nur beten, dass sie ihm vergab, wenn sie die Wahrheit erfuhr.