8. KAPITEL

Waffeln. Annie wachte auf und verspürte Appetit auf Waffeln. Das passierte nicht allzu oft – höchstens ein- oder zweimal im Jahr –, aber wenn dieser Appetit sie überfiel, dann holte sie das Waffeleisen aus dem obersten Fach des Küchenschranks, schnappte sich ihren hundertprozentig naturreinen Ahornsirup und verbrachte tatsächlich mehr als die sonst üblichen fünf Minuten in der Küche.

Sie stieg aus dem Bett, zog sich ihren Morgenmantel über den Schlafanzug, schlüpfte in ihre Hausschuhe und tappte in die Küche.

Kurze Zeit später war der Teig fertig, das Waffeleisen heizte sich auf und Annie kramte in ihrem Kühlschrank nach dem Ahornsirup. Endlich entdeckte sie die Flasche ganz weit hinten, stürzte sich regelrecht darauf, zog sie aus dem Kühlschrank und stellte enttäuscht fest, dass sie beinah leer war.

„Oh Mist“, stieß sie ärgerlich hervor. Sie drehte die Temperatur des Waffeleisens herunter und ging zurück in ihr Schlafzimmer.

Pete war im Bad. Annie konnte hören, dass die Dusche lief. Also schlüpfte sie rasch in ihre Jeans, zog sich ein Sweatshirt über und ein paar Schuhe an. Dann kämmte sie sich rasch die Haare, band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen, schnappte sich ihre Geldbörse und den Autoschlüssel.

Sie war schon fast aus dem Haus, als ihr einfiel, dass sie Pete wohl besser eine Nachricht hinterließ. Hastig kritzelte sie ein paar Sätze auf die Rückseite eines Briefumschlags und legte diesen auf die unterste Treppenstufe.

Ihr Wagen sprang in der kühlen Morgenluft mit leisem Protestgrummeln an, und Annie bedauerte kurz, sich nicht die Zeit genommen zu haben, ihre Jacke aus dem Büro mitzunehmen. Da sie mit dem Auto nur wenige Minuten bis zum Supermarkt brauchte, ging sie nicht noch mal ins Haus, um sich die Jacke zu holen.

Sie parkte auf dem Parkplatz des Supermarkts und rannte schnell in den Laden. Die automatischen Türen öffneten sich zischend vor ihr und schlossen sich gleich wieder hinter ihr. Sie verzichtete auf einen Einkaufswagen, nahm sich nicht einmal einen Korb und eilte auf kürzestem Weg zu dem Regal mit Backzutaten und Ahornsirup. Hier belegte der billige Kunstsirup in Dutzenden Sorten mehrere Regalmeter, aber es gab nur eine einzige Sorte echten Ahornsirup, und zwar aus Vermont. Sie eilte mit der Flasche zur Schnellkasse, stellte sich dort an und vertrieb sich die Wartezeit mit den Schlagzeilen der Klatschpresse, bis jemand sie grob packte.

Erschrocken schrie sie auf, bevor sie erkannte, wer der Angreifer war.

Pete.

Barfuß, nur in Jeans, mit offenem Hemd und nassen Haaren. Er wischte sich einen Tropfen Wasser von der Nase und funkelte sie zornig an.

„Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?“, fragte er. Seine Lautstärke schwoll dabei an, bis er das letzte Wort regelrecht brüllte.

Die Kassiererin musterte ihn neugierig, während sie Annies Ahornsirup über den Scanner zog.

„Ich musste was besorgen“, antwortete Annie mit erschrocken geweiteten Augen und deutete auf den Sirup. „Sie standen gerade unter der Dusche, deshalb …“

Seine Hand umklammerte fest ihren Oberarm. „Dann hätten Sie warten sollen, bis ich fertig geduscht habe, verdammt noch mal“, zischte er.

Er war wütend und machte kein Hehl daraus. Sie konnte sehen, wie die Muskeln in seinem Unterkiefer arbeiteten und seine Augen vor Zorn sprühten. Nie zuvor hatte sie diesen so sorgsam beherrschten Mann so aufgewühlt gesehen.

„Vier Dollar und siebenundneunzig Cent“, sagte die Kassiererin und beobachtete die Szene mit unverhohlener Neugier.

Bevor Annie ihre Geldbörse zücken konnte, warf Pete eine Fünfdollarnote auf das Laufband und griff nach der Flasche Ahornsirup. Dann zog er Annie mit sich zur Tür. „Sie gehen ohne mich nirgendwohin“, stellte er mit mühsam beherrschter Stimme klar. Die automatische Tür ging ihm nicht schnell genug auf, und er half mit einem Stoß nach, dessen Heftigkeit noch einmal seine Worte unterstrich. „Nirgendwohin.“

Als sie auf den Parkplatz und damit in die kühle klare Luft hinaustraten, riss Annie sich von ihm los, nahm ihm die Flasche Ahornsirup ab und verstaute sie in ihrer Einkaufstasche. „Hören Sie auf, Taylor“, sagte sie. Jetzt wurde sie selbst wütend. Was gab ihm das Recht, sie aus dem Laden zu zerren und sie in aller Öffentlichkeit anzuschreien? Was gab ihm überhaupt das Recht, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatte?

„Nein, Annie. Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Sie sind eine kluge Frau.“ Pete gab sich große Mühe, seine Stimme weiter zu senken, und er stieß die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Auf diese Weise wirkte er fast noch bedrohlicher als eben bei seinem Wutanfall. „Wenn ich sage, nirgendwohin, dann meine ich auch nirgendwohin. Ich will nicht, dass Sie ohne mich das Haus verlassen, ist das klar?“

Als er sie im Haus nicht hatte finden können, hatte ihm das solche Angst eingejagt, dass er kaum noch Luft bekam. In der Küche stand eine Art elektrische Pfanne, und sie war eingeschaltet. Außerdem stand da eine Rührschüssel mit irgendeinem Teig darin, Eierschalen lagen auf der Arbeitsplatte, und überall war Mehl verstreut. Im ersten Moment hatte er geglaubt, man hätte sie praktisch vor seiner Nase entführt. Ihr Wagenschlüssel war nicht da, ihre Geldbörse auch nicht, aber ihre Jacke hing noch genau da, wo sie sie am Abend zuvor aufgehängt hatte. Er war verdammt nahe dran gewesen, das FBI anzurufen, als er ihre hingeworfene Nachricht am Fuß der Treppe fand.

Und die Angst, die ihm den Atem nahm, wandelte sich sofort in Zorn. Weißglühenden, brennenden, kochenden Zorn.

Aber auf dem Weg zum Supermarkt packte ihn wieder die Angst. Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich seine Stiefel anzuziehen. Was, wenn jemand das Haus beobachtet hatte? Wenn jemand nur auf so einen Moment gewartet hatte, in dem sie allein und schutzlos war?

„Übertreiben Sie nicht ein bisschen, Taylor?“, fragte Annie. Jetzt blitzten auch ihre Augen zornig. Ihr Atem kondensierte in der Kühle des Morgens und hing als feines Wölkchen in der Luft. „Ich bin doch nur kurz einkaufen gefahren, verdammt noch mal!“

Sie drehte sich auf dem Absatz um und wollte zu ihrem Wagen, aber Pete packte sie hart am Arm und wirbelte sie herum, sodass sie ihn ansehen musste.

„Glauben Sie etwa, man könne Sie in einem Supermarkt nicht umbringen?“, fragte er grob. „Schalten Sie mal Ihren Verstand ein, Annie. Ich habe schon mehr Opfer von Attentätern gesehen, als mir lieb ist. Und all diese Personen starben, weil sie unvorsichtig waren, weil sie glaubten, keinen Schutz zu brauchen, wenn sie nur kurz zur Bank oder zur Apotheke wollten. Oder zum Supermarkt.“

Annie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, aber seine Hände lagen auf ihren Schultern, und er ließ nicht los.

„Sie dürfen nicht allein aus dem Haus gehen“, sagte er. In seinen Augen brannte ein heftiges Feuer, während er ihr klarzumachen versuchte, wie wichtig das war. „Annie, da draußen ist jemand, der Sie tot sehen will. Er hat es klipp und klar gesagt.“ Seine Stimme ließ ihn kurz im Stich, weil ihn seine Gefühle übermannten. „Verdammt noch mal …“

Sie starrte zu ihm hoch, die Lippen leicht geöffnet. Ihre langen Haare hatten sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und hingen ihr offen ins Gesicht. Der Wind spielte leicht damit. Pete bemerkte den kalten Lufthauch nicht, der seine nackte Brust traf. Er spürte die spitzen Steine unter seinen bloßen Füßen nicht. Er sah und fühlte nur eines: Annie. Er war am Ertrinken. Er versank im blau schimmernden Ozean ihrer Augen …

Wie es geschah, hätte er nicht sagen können, aber plötzlich versuchte sie nicht mehr, sich von ihm loszureißen. Plötzlich lag sie in seinen Armen, und er küsste sie.

Ich darf das nicht.

Ihre Lippen öffneten sich unter seinen, und er wusste sich nicht zu helfen. Heißhungrig erforschte er ihren Mund, versuchte sie zu schmecken, nein, nicht nur zu schmecken. Er wollte sie besitzen, wollte ganz und gar eins mit ihr werden.

Ihr Mund war weicher und fühlte sich viel besser an, als er sich je hätte träumen lassen. So sanft, so weich, und doch begegnete sie dem heftigen Drängen seiner Küsse mit dem gleichen wilden Verlangen. Sie klammerte sich an ihn. Eine Hand hatte sie in sein Haar gekrallt und zog damit seinen Kopf zu sich hinunter, während sie die andere Hand unter sein Hemd schob, federleicht seinen Rücken entlangstrich und ihn damit fast wahnsinnig machte.

Ich darf das nicht.

Er stöhnte auf, zog sie noch dichter an sich, drückte ihre Hüften fest gegen sich und küsste sie. Noch tiefer, noch fester, noch inniger. Er legte all seinen Zorn und all das aufgestaute Verlangen der letzten paar Wochen in diesen Kuss. Oh Mann, er hatte diese Frau küssen wollen, seitdem er sie das erste Mal durch den Einwegspiegel in jenem Verhörzimmer auf dem Flughafen gesehen hatte.

Ich darf das nicht.

Sie bewegte sich, rieb sich an seiner Erektion, und er hörte sich aufstöhnen, ein leises, animalisches Knurren entrang sich seiner Kehle. Oh Mann, er begehrte sie mehr als alles, was er jemals im Leben begehrt hatte. Er wollte tief in sie eindringen und sich in ihrer Hitze vergraben. Er wollte sie lieben und nie, nie, nie wieder aufhören.

Hör auf.

Ich darf das nicht.

Es ist falsch.

Ich kann das nicht.

Kendall Peterson alias Pete Taylor war ein starker Mann. Aber er hatte nicht gewusst, wie stark er war, bevor er sich aus diesem Kuss löste.

Annie starrte zu ihm hoch, in ihren Augen brodelte glühende Lava, ihre Wangen waren vor Verlangen gerötet, die Lippen geschwollen, weil er sie so hart geküsst hatte. Er sah, wie ihre Brust sich bei jedem Atemzug hob und senkte, sah durch den dicken Stoff ihres Sweatshirts hindurch, dass ihre Brustwarzen sich aufgerichtet hatten.

„Pete“, hauchte sie heiser und streckte beide Arme nach ihm aus.

Irgendwie gelang es ihm, sie auf Abstand zu halten. „Steig in deinen Wagen“, sagte er heiser. „Ich fahre hinter dir her.“

Zum wohl hundertsten Mal an diesem Nachmittag starrte Annie blind auf ihre Laborausrüstung. Es gelang ihr einfach nicht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie schaute hinüber zu Pete, der in einer Ecke saß und so tat, als lese er die Zeitung. Garantiert tat er nur so, denn er hatte seit gut einer Stunde nicht mehr umgeblättert.

Er schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. Sein Gesicht war so ausdruckslos, als wäre es aus Stein gehauen. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein anderes Bild auf: sein Gesicht, nachdem er sie geküsst hatte. Sie hatte so viel in seinen Augen gelesen. Verlangen. Halt, nein, viel mehr als nur Verlangen. Hunger – ein verzehrendes Feuer. Aber sie hatte auch Verwirrung und Unsicherheit in seinen Augen entdeckt. Und Angst.

Annie seufzte und schaute hinüber auf die andere Seite des Raumes, wo Cara arbeitete. Leider war Cara schon im Büro gewesen, als sie von jenem verhängnisvollen Besuch im Supermarkt zurückgekommen waren.

Die Gelegenheit für ein Gespräch unter vier Augen war vorbei. Pete hatte Annie geküsst wie noch kein Mann vor ihm, und sie hätte ihm eine Million Dinge zu sagen gehabt. Aber nun hatten sie keine Möglichkeit mehr zu reden. Keine Möglichkeit, ungestört dort weiterzumachen, wo sie angefangen hatten. Und sie wurde den Verdacht nicht los, dass er darüber erleichtert war.

Der Verdacht wurde zur festen Überzeugung, als die Stunden vergingen und Pete sich allergrößte Mühe gab, Cara immer in der Nähe zu halten. Er benutzte sie als Anstandswauwau, und wann immer sie mal kurz nicht im Raum war, flüchtete er ans Telefon.

Annie begann den Test, den sie gerade durchgeführt hatte, noch einmal von vorne. Einen Test, um die Reinheit einer Bronzeschneide zu überprüfen. Sie seufzte zum wiederholten Male. Er hatte sie geküsst, und plötzlich schien ihr alles so klar, so offensichtlich. Natürlich, sie waren inzwischen fast so etwas wie Freunde. Es stimmte, dass sie ihn auf freundschaftlicher Ebene mochte. Aber niemals hätte sie auf den Kuss eines bloßen Freundes so reagiert. Niemals! Dieser Kuss war auf verstörende Weise intim gewesen, hatte die Grundfesten ihrer Welt ins Wanken gebracht und sie in einen Rausch versetzt, wie sie ihn so noch nie erlebt hatte.

Nein, dahinter steckte mehr als bloße Freundschaft.

Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, dann musste sie sich eingestehen: Sie hatte sich in diesen Mann verliebt.

Und er hatte Todesangst vor ihr.

Annie schaute Cara an. „Okay“, sagte sie schließlich lächelnd. „Was soll ich sagen. War ja auch höchste Zeit.“

Cara spielte nervös mit dem Plastik-Homer auf ihrem Tisch. „Es kommt mir alles so plötzlich vor“, flüsterte sie. „Ich meine, Heiraten …“

„MacLeish, du kennst den Mann jetzt seit drei Jahren.“ Annie schüttelte den Kopf.

„Wir waren Freunde“, widersprach Cara. „Wir waren einfach nur Freunde.“

„Ich kann mir keinen besseren Start vorstellen“, gab Annie leise zurück. „Steht der Hochzeitstermin schon fest?“

Cara strahlte. „Jerry will am Wochenende mit mir nach Las Vegas.“

„Der gute alte Jerry“, seufzte Annie und verdrehte die Augen. „Ein wahrer Romantiker.“

Einen Moment schwiegen beide Frauen, dann fragte Annie: „Du versuchst also deinen ganzen Mut zusammenzunehmen, um zu kündigen?“

Cara blickte erschrocken auf. „Nein! Ich meine, ich weiß nicht … Du weißt ja, Jerry sucht nach Sponsoren für seine Ausgrabung in Mexiko. Im Februar will er anfangen …“

„Du bist unersetzlich, MacLeish“, sagte Annie, „aber mach dir keine Sorgen. Ich werde schon irgendwie zurechtkommen.“

„Ich bleibe auf jeden Fall bis Ende Dezember“, entgegnete Cara. „Du weißt doch noch: Wir wollten sowieso im Januar Urlaub machen …“

Annie wandte sich ab. Sie wollte nicht, dass ihre Freundin sah, wie traurig sie war. Der Januar würde ein sehr kalter und sehr einsamer Monat werden. Sowohl MacLeish als auch Taylor würden dann für immer fortgehen … Trotzdem brachte sie ein Lächeln zustande, bevor sie den Raum verließ. „Richte Tillet bitte meine Glückwünsche aus, ja?“