2. KAPITEL
Annie steuerte ihren kleinen Honda in die Einfahrt und schaltete den Motor aus. Verdammt, war sie müde. Zum Teufel mit der CIA, zum Teufel mit dem FBI, zum Teufel mit all den Leuten, die sich solche Mühe gaben, ihr das Leben schwer zu machen.
Fünf Monate. Seit fünf Monaten wurde sie nun schon pausenlos schikaniert. Und jetzt, nach der Bombenexplosion in England, konnte es nur noch schlimmer werden. Dabei wusste auch so schon jeder in der Stadt, dass das FBI gegen sie ermittelte. Die Agenten hatten mit jedem gesprochen, den sie kannte, und vermutlich auch mit vielen, die sie nicht kannte. Selbst ihre ehemalige Zimmerkollegin aus Collegezeiten hatte vor einem Monat bei ihr angerufen und erzählt, sie sei vom FBI befragt worden. Dabei hatten sie sich das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen …
Verdammt, verdammt, verdammt! Ganz besonders verfluchte sie den schrecklichen Kerl hinter der Spiegelwand, der mit ihr gesprochen hatte. Irgendwer hatte ihn Agent Peterson genannt. Wenn er ihr jemals über den Weg laufen sollte, dann würde sie ihm einen gezielten Tritt verpassen. Dorthin, wo es richtig wehtat. Nur leider hatte sie keine Ahnung, wie er aussah. Sie würde ihn nicht einmal an der Stimme erkennen können, weil die billigen Lautsprecher im Verhörzimmer die Töne so verzerrten.
Sie stieg aus dem Wagen und ging um ihn herum, um das Paket aus England vom Beifahrersitz zu nehmen. Innerlich stieß sie einen weiteren Fluch aus. Sie konnte die Kiste kaum heben. Wieso mussten diese Dinger immer mindestens eine Tonne wiegen!
Das Auto ihrer Assistentin stand noch in der Einfahrt. Deshalb ging Annie nicht hinauf in ihre Wohnung im obersten Stockwerk des Hauses, sondern ins Labor. Sie konnte die Tastatur des Computers klappern hören und folgte dem Geräusch in das Hinterzimmer, in dem sie ihr Büro eingerichtet hatte.
Cara MacLeish gab – wie immer in halsbrecherischer Geschwindigkeit – Daten ein und ließ sich dabei auch nicht stören. Immerhin schaute sie auf und lächelte.
„Willkommen daheim“, sagte sie. Kurze braune Löckchen kringelten sich um ihren Kopf, und die Augen hinter der Hornbrille leuchteten voller Wärme. „Ich hatte dich früher erwartet. Vor etwa sechs Stunden schon.“
Annie stellte die Kiste mit der goldenen Totenmaske auf ihrem Schreibtisch ab und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Man hat mich festgehalten“, erklärte sie kurz.
Jetzt nahm Cara doch die Hände von der Tastatur, schaute ihre Chefin voller Mitgefühl an und ließ ein paar erlesene Flüche vom Stapel.
„Du nimmst mir die Worte aus dem Mund.“ Annie lächelte kläglich.
„Schon wieder das FBI?“
„FBI, CIA.“ Annie zuckte die Achseln. „Die reißen sich alle um mich.“
„Hmm, sieh es von der positiven Seite.“
Die beiden Frauen schwiegen einen Moment. Es war gar nicht so einfach, der Sache etwas Positives abzugewinnen.
„Bis jetzt haben sie dir nichts anhängen können“, meinte Cara schließlich.
Annie zog einen Drehstuhl an den Computertisch und ließ sich hineinfallen.
„Und du hast deswegen noch keinen einzigen Auftrag verloren“, fuhr Cara fort. Bestimmt würde ihr gleich noch mehr einfallen. Sie streckte ihre dünnen Arme über den Kopf, gähnte und stand dann auf, um ihre Beine ein wenig zu lockern. „Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass das Geschäft davon profitiert. Während du weg warst, sind jede Menge Anrufe gekommen.“
Annie sah zu, wie ihre Assistentin zum Anrufbeantworter hinüberging. Gleich neben dem Gerät stand eine leuchtend rote Holzente, die in ihrem Schnabel – einer Wäscheklammer – viele rosa Notizzettel hielt.
„Jerry Tillet hat angerufen“, fuhr Cara fort. „Er ist zurück aus Südamerika, und er möchte, dass du dir einige Maya-Kunstwerke anschaust.“
„Hast du mit ihm gesprochen, oder war er auf dem Anrufbeantworter?“, fragte Annie.
Cara errötete. „Ich habe mit ihm gesprochen.“
„Wollte er sich wieder mit dir verabreden?“ Annie lächelte spitzbübisch.
„Ja.“
„Und?“
„Wir verabreden uns nicht mit Kunden. Schon vergessen?“
Annie widersprach: „Jerry ist kein Kunde. Er ist ein Freund.“
„Er ist auch ein Kunde.“
„Na schön, er ist also auch ein Kunde“, räumte Annie ein. „Aber nur, weil ich mich nicht auf Kunden einlassen möchte, musst du nicht auch darauf verzichten, Cara. Willst du dem Mann nicht wenigstens eine Chance geben?“
„Das habe ich.“
„Du hast … was?“
Annies Assistentin lächelte zufrieden, strich sich die Haare aus der Stirn und setzte sich auf den Schreibtisch. „Ich habe ihm gesagt, dass ich bereit bin, mich mit ihm zu verabreden. Er kommt am Samstag vorbei und bringt uns seine Funde. Anschließend gehen wir aus.“
Annie schaute sich in dem gemütlichen Büro um. Das Zimmer war eigentlich recht groß, aber mit den beiden Schreibtischen, zwei Computern, einem Faxgerät, einem Kopierer und jeder Menge Stühle und Bücherregalen war es so vollgestellt, dass man sich kaum darin bewegen konnte. Cara MacLeish gehörte zum unverzichtbaren Inventar. „Lass dir ja nicht einfallen zu heiraten, MacLeish“, sagte sie streng. „Kommt überhaupt nicht infrage, dass du mit Jerry Tillet nach Südamerika durchbrennst.“
Cara lachte. „Ich gehe nur mit ihm ins Kino. Als Nächstes käme vielleicht eine Einladung zum Essen infrage. Von Heiraten kann keine Rede sein.“
„Du kennst Tillet längst nicht so gut wie ich“, murmelte Annie. „Der Mann hat es definitiv auf dich abgesehen …“
„Wo wir gerade vom Heiraten reden“, warf Cara ein und blätterte die Telefonnotizen durch. „Nick York hat angerufen. Insgesamt fünf Mal. Es geht um einen Empfang im Museum für Moderne Kunst, irgendwann diesen Monat.“
Annie zog das Haargummi von ihrem Pferdeschwanz und schüttelte die glänzenden braunen Haare aus. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Computertisch. „Schäm dich, Cara. Du weißt ganz genau, dass die Begriffe ‚Heiraten‘ und ‚York‘ unmöglich in einem Satz untergebracht werden können. York will nur zwei Dinge von mir. Erstens: Laborarbeit, die ihn nichts kostet. Zweitens: etwas, das nichts mit Heiraten zu tun hat. Wer hat sonst noch angerufen?“
„Jemand von der Frachtabteilung am Westchester Airport. Er hat für Samstag ein Paket aus Frankreich angekündigt.“
„Großartig.“ Annie seufzte. „Als ob ich auch nur die geringste Chance hätte, mich innerhalb der nächsten zehn Jahre damit zu befassen.“ Sie schloss die Augen. „Na schön, ich hole das Paket am Samstag ab. Sonst noch was?“
„Ein Typ namens Benjamin Sullivan. Sagt dir der Name was?“
Annie öffnete die Augen. „Ja, natürlich. Der Eigentümer der Goldmaske, die ich gerade abgeholt habe. Was wollte er?“
„Er hat eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen: Falls Alistair Golden anruft, sollen wir ihn einfach ignorieren.“ Cara lachte. „Sullivans Name hat mir nichts gesagt, aber die Aufforderung, Golden zu ignorieren, hat sich sehr gut angefühlt. Ich ignoriere Alistair Golden immer. Alistair Golden zu ignorieren gehört zu den Dingen, die ich am allerbesten kann.“
Golden war Annies schärfster Konkurrent. Normalerweise kümmerte er sich um alle von der English Gallery in die Vereinigten Staaten eingeführten Kunstwerke und Artefakte.
„Und natürlich“, fuhr Cara kichernd fort, „hat das kleine Wiesel angerufen. Er war ziemlich stinkig und hat mir die Ohren vollgejammert. Leider weiß ich nicht, worum es eigentlich ging, weil ich mir größte Mühe gab, ihn zu ignorieren.“
Annie lachte. „Ich glaube, ich weiß, welche Laus ihm über die Leber gelaufen ist. Als ich in der Gallery ankam, war Sullivans Paket schon fertig verpackt und versiegelt. Golden war sich offenbar ganz sicher, dass er das Stück begutachten würde. Deshalb hatte er schon mal das Verpacken übernommen.“
„Golden hat die Kiste für dich gepackt?“ Die Vorstellung bereitete Cara sichtlich Vergnügen. „Kein Wunder, dass sein Gejammer so ohrenbetäubend war. Er wollte, dass du ihn zurückrufst. Aber wenn du nicht willst, dass er dir geschlagene fünfundvierzig Minuten die Ohren volldröhnt, täte ich das an deiner Stelle nicht. Ich erlaube dir hiermit ganz offiziell, bei seinem nächsten Anruf zu behaupten, deine Angestellte hätte ein Gedächtnis wie ein Sieb und vergessen, dich zu informieren.“
Annie lächelte. „Danke. Hat Ben Sullivan um Rückruf gebeten?“
„Er sagte, er sei in nächster Zeit nicht in der Stadt“, antwortete Cara mit kurzem Blick auf die Telefonnotiz. „Wer ist er? Woher kennst du ihn? Nun komm schon, lass mich nicht dumm sterben. Wie groß, wie schwer, solo oder verheiratet?“
„Soweit ich weiß, ist er alleinstehend“, antwortete Annie und fuhr dann lächelnd fort: „Und er ist knackige fünfundsiebzig Jahre alt. Schmink dir also deine Ambitionen, mich mit ihm zu verkuppeln, zügig wieder ab.“
Cara verzog enttäuscht das Gesicht.
„Ben ist ein alter Freund meiner Eltern.“ Annie lehnte sich wieder in ihrem Stuhl zurück und atmete tief durch. „Ich glaube, ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich, warte mal, seit ich ungefähr fünfzehn war. Offenbar hatte er kürzlich Kontakt zu meinen Eltern, und sie haben ihm von mir erzählt. Du weißt schon … dass ich mich vor ein paar Jahren mit diesem Labor selbstständig gemacht habe. Als ihm diese Goldmaske zum Kauf angeboten wurde, hat er deshalb darauf bestanden, dass mir der Auftrag für die notwendige Authentifizierung gegeben wird.“
„Statt ihn Golden zu geben“, warf Cara ein.
Annie schmunzelte. „Statt ihn Golden zu geben.“ Sie richtete sich auf und streckte sich. „Sonst noch irgendwelche Anrufe?“
Cara nickte. „Ja. Das Beste habe ich bis zum Schluss aufgehoben. Das war auf dem Anrufbeantworter, und du hörst es dir besser selbst an.“
Damit glitt sie vom Schreibtisch herunter, reichte Annie die Telefonnotizen und drückte die Abspieltaste am Anrufbeantworter.
Die Stimme, die daraufhin ertönte, klang merkwürdig. Ein heiseres, seltsam verzerrtes Flüstern, so als hätte der Anrufer sich bewusst bemüht, seine Stimme zu verstellen: „Die Maske, die in Ihren Besitz gelangt ist, gehört nicht in die Welt der Lebenden. Sie ist Eigentum von Stands Against the Storm. Geben Sie diese Maske sofort seinem Volk zurück. Wenn Sie das nicht tun, bekommen Sie den Zorn seines bösen Geistes zu spüren. Die Türen zur Dämmerwelt stehen weit offen, und Stands Against the Storm wird kommen und Sie holen.“
Cara drückte die Stopp-Taste und lächelte amüsiert. „Das war’s. Wer deiner durchgedrehten Freunde hat diese Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen? Und wer zum Teufel soll Stands Against the Storm sein?“
Aber Annie lachte nicht. Im Gegenteil, sie fluchte leise in sich hinein, stand auf, hob die schwere Kiste mit der Totenmaske vom Tisch und schleppte sie durch den Flur Richtung Labor. Caras amüsiertes Lächeln erstarb, während sie aufsprang und ihrer Chefin folgte.
„Was ist los?“, fragte sie und sah verblüfft zu, wie Annie die Kiste abstellte, zur Eingangstür eilte und abschloss. „Was ist denn los, Annie?“
„Wir müssen das hier im Tresor einschließen“, antwortete Annie und hob die Kiste wieder auf.
„Annie, wer war das auf dem Anrufbeantworter?“ Caras Augen wurden schmal.
„Irgendein Spinner“, antwortete Annie und schleppte die Kiste in den Tresorraum mitten im Haus. Er lag zwischen dem Labor im vorderen Bereich und dem Büro hinten. Dieser Raum war sicher, hier kam kein Einbrecher so leicht herein. Sie würde sich gleich sehr viel wohler fühlen, wenn sie die goldene Totenmaske im Tresor eingeschlossen hatte.
„Wenn das einfach nur ein Spinner war“, ließ Cara nicht locker, „warum bist du dann zur Eingangstür gerannt, um abzuschließen?“
Annie öffnete die völlig unverfänglich wirkende Tür eines Wandschranks, hinter der sich das Kombinationsschloss des großen Tresors verbarg. Sie drehte die rote Wählscheibe etliche Male, bevor sie die richtigen Ziffern eingab. „Weil es leichtsinnig und dumm wäre, nicht auf Nummer sicher zu gehen, unabhängig von diesem Spinner.“ Sie drehte sich zu ihrer Assistentin um. „Du hattest offenbar keine Gelegenheit, die Hintergrundinformationen zu lesen, die ich dir zu diesem Projekt zusammengestellt hatte?“
Cara zuckte die Achseln. „Ich will dir nichts vormachen. Gestern Abend hatte ich etwa eine Stunde Freizeit, und die habe ich dazu benutzt, mir eine Folge von ‚Zurück in die Vergangenheit‘ anzuschauen, statt mich mit irgendwelchen Indianerhäuptlingen aus dem neunzehnten Jahrhundert zu befassen.“
Annie stellte die Kiste im obersten Fach des Tresors ab, zog die schwere Tür wieder zu und verschloss sie sicher. „Amerikanische Ureinwohner, nicht Indianer“, korrigierte sie Cara. „Um es kurz zu machen: In dieser Kiste ist vermutlich eine Totenmaske aus Gold, und zwar von einem Diné – sie wurden früher Navajo genannt – namens Stands Against the Storm. Er war einer der wichtigsten Anführer der amerikanischen Ureinwohner. Ein hochintelligenter Mann, der die westliche Kultur verstand und durchschaute. Er versuchte, den weißen Anführern die Gebräuche seines eigenen Volkes nahezubringen.“
Cara folgte ihr zurück ins Büro. „Und wie kommt es, dass ich noch nie von ihm gehört habe?“, fragte sie. „Ich meine, praktisch jeder kennt Sitting Bull und Geronimo. Aber diesen Typen?“
Annie setzte sich an ihren Schreibtisch und runzelte die Stirn angesichts der Unordnung darauf. Warum vermehrte sich der Papierkram immer auf wundersame Weise, wenn sie für ein paar Tage unterwegs war? „Sitting Bull und Geronimo waren Krieger“, antwortete sie. „Stands Against the Storm war ein Mann des Friedens. Er erregte nicht so viel Interesse wie die großen Krieger, aber versucht hat er es. Übrigens hielt er sich in England auf und bemühte sich dort um Unterstützung für seine Landsleute, als er starb.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sein Tod war ein schwerer Schlag für die Sache der Diné.“
„Wenn Stands Against the Storm so ein friedfertiger Mensch war“, bohrte Cara nach, „warum sollte er dann einen bösen Geist haben?“
„Die Diné glauben, dass Menschen zu Geistern werden, wenn sie sterben“, erläuterte Annie. „Dabei ist es egal, wie gütig, menschlich oder freundlich der Betreffende im Leben war. Wenn er stirbt, wird er böse und rächt sich an all den Leuten, die ihm während seines Lebens unrecht getan haben. Es ist sogar wahrscheinlich, dass der Geist eines Verstorbenen noch viel böser wird, wenn der Mensch im Leben sehr nett war. Ganz einfach, weil nette Menschen mehr Unrecht hinnehmen. Die Rache folgt dann nach dem Tod.“
„Aber wenn Stands Against the Storm in England starb, wie kann es dann sein, dass sein Geist hinter dir her ist? Immer vorausgesetzt, die Diné liegen mit ihrem Glauben richtig.“
„Der Tod ist für einen Diné ein gewaltiges Problem“, sagte Annie. Sie lächelte. „Naja, soweit ich weiß, gibt es nicht allzu viele Kulturen, in denen man dem Tod freudig entgegensieht, aber die Diné verabscheuen ihn wirklich. Wenn jemand in einem Haus stirbt, dann kann es heute noch passieren, dass das Haus aufgegeben wird. Schau, die Diné glauben, dass der Ort, an dem ein Mensch stirbt, und die Dinge, mit denen er vor oder auch nach seinem Tod in Berührung kommt, seinen bösen Geist beherbergen können. Eine Totenmaske anzufertigen kommt also einer Einladung für allergrößtes Unheil gleich. Die Diné würden niemals so etwas wie eine Totenmaske anfertigen. Aber in England war es damals üblich, einen Gesichtsabdruck von Verstorbenen zu nehmen und nach diesem Abdruck eine Maske anzufertigen, um ein möglichst ähnliches Abbild zu erhalten. Ich vermute, dass Stands Against the Storm eine Art Berühmtheit war. Auf jeden Fall aber ein Kuriosum, eine echte Rothaut aus dem Wilden Westen. Deshalb wurde eine Totenmaske von ihm angefertigt, als er starb.“
Annie schaute kurz zum Anrufbeantworter hinüber. Ihr wollte nicht in den Kopf, woher der Anrufer wusste, dass sie die Echtheit dieser Totenmaske überprüfen sollte. Vielleicht hatte Ben Sullivan mit der Presse darüber geredet. Oder der Käufer, Steven Marshall, hatte etwas durchsickern lassen.
„Du, Annie?“
Annie schob ihre Gedanken beiseite und schaute auf, direkt in Caras besorgt dreinblickende braune Augen.
„Mir ist gerade bewusst geworden, dass die Nachricht auf dem Anrufbeantworter im Grunde eine … Naja, das ist eine Morddrohung.“
„Das war nur ein Spinner“, wehrte Annie ab. „Außerdem glaube ich nicht an Geister.“
„Du musst aber zugeben, dass das Ganze ziemlich unheimlich ist“, beharrte Cara auf ihrer Meinung. „Vielleicht sollten wir … ich weiß auch nicht. Sollten wir nicht die Polizei informieren?“
Annie stöhnte auf und stützte ihren Kopf schwer in ihre Hände. „Ich will nichts mehr von der Polizei oder vom FBI hören. Keine Polizei, auf gar keinen Fall. Lieber nehme ich in Kauf, dass mich der Geist von Stands Against the Storm heimsucht.“
Annie setzte sich im Bett auf und starrte erschrocken in die Dunkelheit, als die Alarmanlage schrillte.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, weil sie aus dem Tiefschlaf geholt worden war. Sie schaltete das Licht an und griff nach ihrem Morgenmantel. Grundgütiger! Der verdammte Alarm würde noch die ganze Nachbarschaft wecken.
Jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte sie die Treppen hinunter. Auf dem Weg zur Schalttafel schaltete sie das Licht im Foyer ein.
Oh mein Gott, durchfuhr es Annie. Das war kein Fehlalarm. An der Schalttafel leuchtete das Signal für einen Einbruch im ersten Stock. Offenbar war jemand durch ein Fenster des Labors eingedrungen.
Plötzlich war sie sehr dankbar für das Schrillen der Sirene. In den Häusern auf der anderen Seite der Straße gingen bereits die Lichter an, und sie wusste: Die Nachbarn würden die Polizei rufen. Das taten sie immer. Annie rannte in ihr Zimmer zurück und riss die Schublade ihres Nachtschränkchens auf. Oh verdammt, verdammt, verdammt, wo war das blöde Ding?
Sie zerrte die Schublade heraus und kippte sie auf ihrem Bett aus. Da war sie.
Hastig schnappte sie sich die Spielzeugpistole, befreite sie von einem Stück Schnur, das sich um den Lauf gewickelt hatte, und eilte wieder in Richtung Treppe. Sie rannte hinunter, stieß die Tür zum Labor auf, schaltete mit dem Ellbogen die Deckenbeleuchtung ein, und schon lag der Raum in hellem Licht vor ihr.
Er war leer, niemand zu sehen. Kein Mensch, kein Geist.
Aber die Fensterscheibe war zertrümmert worden.
Jetzt kam Annie sich ein bisschen albern vor mit ihrer Spielzeugpistole. Sie legte sie auf den Labortisch und trat vorsichtig an den großen Stein heran, der durchs Fenster geworfen worden war. Jemand hatte mit einem Gummiband ein Stück Papier daran befestigt.
Aha, die Polizei rückte an. Zwei Einsatzwagen mit eingeschaltetem Blaulicht bogen in die Einfahrt ein. Annie konnte die zuckenden Lichter durchs Fenster sehen. Sie ging zurück zur Eingangstür und deaktivierte den Alarm. Das grässliche Schrillen der Sirene verstummte augenblicklich. Annie atmete tief durch und öffnete den Polizisten die Tür.
Sie kamen herein, schauten sich die zerbrochene Fensterscheibe an. Einer sah sich kurz im ganzen Haus um und überprüfte, ob alle anderen Fenster und Türen intakt und geschlossen waren. Ein anderer erstattete über Funk Meldung.
Für eine Kleinstadt war ein Vorfall wie dieser eine große Sache. Annie seufzte. Sie ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Das würde bestimmt eine lange Nacht werden.
Peterson war sofort wach und ging nach nur einem Läuten des Handys dran.
„Ja“, meldete er sich und warf gleichzeitig einen Blick auf die Leuchtziffern seines Weckers. Drei Uhr siebenundvierzig. Er strich sich mit der Hand übers Gesicht. „Ich hoffe für Sie, dass dieser Anruf einen guten Grund hat.“
„Ich bin es. Scott. Können Sie reden?“ Whitley Scott, leicht an seinem New-Jersey-Akzent zu erkennen.
„Ja, ich bin wach“, antwortete Pete, setzte sich auf und schaltete das Licht an.
„Nein, ich meine … sind Sie allein?“
„Ja, ich bin allein.“ Pete rieb sich die Augen. „Wenn Sie einen Blick in meine Akte werfen, werden Sie feststellen, dass ich seit letztem März keine Beziehung mehr hatte.“
„Ihre Akte habe ich mir längst angesehen“, gab der FBI-Agent ungerührt zurück, „und daraus geht hervor, dass Sie den Ruf eines streunenden Katers haben.“
Pete schwieg. Für einen Moment kam ihm die neue Verwaltungsassistentin im New Yorker Büro in den Sinn. Carolyn Dingsbums. Sie hatte lockiges braunes Haar und endlos lange Beine. Dazu Augen, die ihm mehr als deutlich zu verstehen gaben, dass sie Interesse an ihm hatte und dabei nicht an eine feste Bindung dachte. Sie hatte ihn am Abend zuvor auf einen Drink eingeladen. Wenn er mit ihr gegangen wäre, läge sie jetzt vermutlich neben ihm im Bett.
Aber er hatte ihr einen Korb gegeben.
Warum eigentlich? Vielleicht weil er es satthatte, ehrgeizigen jungen Frauen auf dem Weg nach oben als Eroberung des Monats zu dienen. Wobei er zugeben musste, dass er die Frauen ganz genauso benutzte.
Er war nicht gerade groß, wusste aber doch, dass er mit seinen schwarzen Haaren und den dunkelbraunen Augen nicht nur sehr attraktiv war, sondern auch faszinierend und geheimnisvoll wirkte.
Jahrelang hatte er Vorteile aus seinem attraktiven Äußeren geschlagen, aber seit einiger Zeit behagte ihm das nicht mehr. Seine Beziehungen, die selten länger als ein paar Monate hielten, wurden immer kürzer. Als er am Abend zuvor diese Verwaltungsassistentin angeschaut hatte, war ihm plötzlich bewusst geworden, dass etwas fehlte: Ihm wurde nicht heiß bei dem Gedanken, dass sie ihn begehrte. Er empfand nichts, höchstens Verachtung.
In den letzten Monaten hatte er öfter als einmal daran gedacht, aus der CIA auszuscheiden. Je näher sein vierzigster Geburtstag rückte, desto bewusster wurde ihm eine gewisse Leere in seinem Leben.
Er hätte nicht sagen können, wonach er eigentlich suchte. Um noch an echte Liebe zu glauben, war er viel zu abgebrüht. Im Grunde war er sogar zu abgebrüht, um überhaupt an so etwas wie Liebe zu glauben. Und wenn ihn jetzt nicht einmal mehr Affären locken konnten, die auf nichts weiter als Sex beruhten, dann lagen sehr, sehr viele kalte und einsame Nächte vor ihm …
„Sind Sie noch da?“, fragte Whitley Scott.
„Ja.“
„Wir haben eine Möglichkeit gefunden, wie Sie an Anne Morrow herankommen“, sagte Scott. „Dr. Morrow hat sie uns quasi auf dem Silbertablett serviert.“
Pete lauschte aufmerksam, während Scott erklärte. Das würde funktionieren. So würde es garantiert funktionieren.
Nachdem er aufgelegt und das Licht wieder ausgeschaltet hatte, starrte Pete noch eine Weile in die Dunkelheit. Erwartung und Vorfreude erfüllten ihn mit Macht. Das Gefühl war so intensiv, dass es fast sexueller Erregung glich. Vor seinem inneren Blick tauchten plötzlich Erinnerungsbilder auf: schwarze Spitze auf blasser Haut und ein Paar großer blauer Augen …
„Auf dem Zettel stand was?“, hakte Cara scharf nach.
„Nichts als Blödsinn“, antwortete Annie und versuchte ein wenig Ordnung auf ihrem Schreibtisch zu schaffen. „Ich begreife einfach nicht, wieso die Polizei so etwas ernst nimmt.“
„Wenn sich jemand die Mühe macht, dich so nachdrücklich zu warnen – und ein Stein, der durchs Fenster fliegt, ist eine ziemlich nachdrückliche Warnung –, dann sollte das vermutlich schon ernst genommen werden“, gab Cara verärgert zurück.
„Ja, vielleicht schon, aber mussten sie unbedingt das FBI einschalten? Weißt du, die FBI-Agenten waren verflixt schnell hier. Ich frage mich, ob sie nicht irgendwie dahinterstecken. Sieh mal, sie schikanieren mich seit geraumer Zeit, wie und wo sie nur können. Da traue ich ihnen durchaus zu, dass sie mir einen Stein durchs Fenster werfen.“
„Mit einem Zettel, auf dem steht: ‚Bereite dich auf deinen Tod vor‘?“ Cara schüttelte den Kopf. „Das bezweifle ich, Annie.“
„Und ich hege ernsthafte Zweifel daran, dass eine Gruppe amerikanischer Ureinwohner zu solch unsinnigen Drohungen greifen würde. Selbst radikale Randgruppen täten das nicht. Soll das FBI ruhig ermitteln, aber ich halte das für Zeitverschwendung.“ Annie ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken. Ihre blauen Augen schauten müde und erschöpft. „Es ist nur so, dass ich schon mehr als genug um die Ohren habe und den FBI-Zirkus drum herum nicht auch noch gebrauchen kann. Weißt du, sie wollen mir Personenschutz geben. Rund um die Uhr. Ich würde das eher als Überwachung bezeichnen. Deshalb habe ich ihnen auch gesagt, dass ich ihren Schutz nicht brauche und allein auf mich aufpassen kann. Nein, danke.“
„Ich schätze, du hast ihnen nicht gesagt, dass der Hauptverdächtige ein Geist namens Stands Against the Storm ist“, meinte Cara. „Vielleicht hätten wir die Ghostbusters rufen sollen, statt uns an die Polizei zu wenden.“ Sie stimmte den bekannten Titelsong des Films an.
Annie lachte, kramte nach einem handlichen Gegenstand auf ihrem Schreibtisch, den sie nach ihrer Freundin werfen konnte, und entschied sich für einen abgebrochenen Bleistift.
Cara wich dem Wurfgeschoss mit Leichtigkeit aus und lächelte amüsiert. „Wenn ein Geist als Hauptverdächtiger noch nicht abgedreht genug ist, kann man ja jederzeit auf die Diné-Hexen ausweichen.“
Annie schloss müde die Augen. „Wie ich sehe, hast du inzwischen die Hintergrundinformationen gelesen, die ich dir zusammengestellt hatte.“
„Gestern Abend lief nicht eine einzige Wiederholung von ‚Zurück in die Vergangenheit‘, also hatte ich ein bisschen Zeit. Faszinierendes Material. Besonders gefallen hat mir die Vorstellung der Diné, dass manche Menschen, die tagsüber als ganz normale Zeitgenossen erscheinen, in Wirklichkeit Hexen sind, die Menschen und Tiere verzaubern und Chaos anrichten können. Natürlich handelt es sich um ganz besondere Hexen. Sie können sich nämlich bei Bedarf in riesige Wölfe verwandeln, die auf der Suche nach Beute durch die Gegend streifen. Wirklich nett.“
„In den meisten Kulturen gibt es die Vorstellung von Geschöpfen der Finsternis“, erwiderte Annie. „Werwölfe sind ja auch nichts Neues.“
„Ja, schon, aber diese Werwölfe sind Nachbarn, ja sogar Verwandte“, widersprach Cara. „Und sie fangen mit ihrer Hexerei an, wenn sie jemandem den Wohlstand oder das Glück missgönnen oder … He, das ist es!“ Cara feixte. „Pfeif das FBI zurück. Ich habe alles durchschaut. In Wirklichkeit ist Alistair Golden eine solche Hexe, und er hat dich mit einem grässlichen Fluch belegt, weil du anfängst, ihm zu viel Konkurrenz zu machen. Obwohl ich ihn mir eher als Werwiesel vorstellen kann denn als Werwolf.“
„Deine Theorie hat ein Riesenloch“, warf Annie ein. „Golden ist kein Diné.“
„Da ist was dran.“ Cara musterte Annie und nahm besorgt wahr, wie blass und müde ihre Freundin aussah. „Der Typ, der das Fenster repariert, braucht bestimmt noch eine Stunde oder länger“, fuhr sie fort. „Warum gehst du nicht nach oben und gönnst dir ein bisschen Schlaf? Ich kann solange die Stellung halten.“
Das Telefon klingelte.
„Das ist bestimmt für mich. Ein Anruf aus Dallas“, sagte Annie. „Ich habe bei Ben Sullivan angerufen, aber der ist zurzeit auf einer Ausgrabung in der Türkei und schwer zu erreichen. Deshalb muss ich mich direkt an den Käufer der Totenmaske wenden: Steven Marshall.“
Cara nahm das Gespräch entgegen. „Büro von Dr. Morrow, MacLeish am Apparat.“ Sie hörte einen Moment zu und zog dabei die Augenbrauen immer höher. „Einen Augenblick, bitte“, sagte sie dann und legte eine Hand über das Mikrofon des Hörers, bevor sie ihn an Annie weiterreichte. „Bist du jetzt etwa auch noch unter die Hellseher gegangen? Steven Marshall. Aus Dallas.“
Annie lächelte matt und nahm den Hörer. „Hallo?“
„Dr. Morrow“, tönte es in breitestem Texanisch. „Meine Sekretärin sagte mir, Sie hätten versucht, mich zu erreichen?“
„Ja, Mr Marshall. Danke, dass Sie so schnell zurückrufen. Wir haben hier ein kleines Problem.“
Sie beschrieb knapp, was geschehen war: den Drohanruf und den Drohbrief, der ihr mit einem Stein durchs Fenster geworfen worden war.
„Ich glaube nicht an eine echte Gefahr“, fuhr Annie fort, „aber ich hielt es für angebracht, Sie darüber zu informieren, damit Sie Gelegenheit haben, die Maske von einer Institution begutachten zu lassen, die über bessere Sicherheitsvorkehrungen verfügt als wir.“
Einen Moment blieb es still am anderen Ende der Leitung. Dann sagte Marshall: „Aber … soweit ich weiß, sind Sie die Beste auf Ihrem Gebiet, nicht wahr?“
„Nun ja, das bilde ich mir zumindest ein.“
„Ich mache mir mehr Sorgen um Ihre persönliche Sicherheit“, fuhr Marshall fort. „Haben Sie Angst? Möchten Sie den Auftrag loswerden?“
„Nein, ganz und gar nicht. Ich denke nur, dass meine Sicherheitseinrichtungen möglicherweise nicht ausreichend sind, um Ihre Maske zu schützen.“
„Ach, das ist doch höchstens ein klitzekleines Problemchen“, gab Marshall mit einer Lässigkeit zurück, die sich nur wirklich Wohlhabende leisten konnten. „Für die Sicherheit werde ich sorgen, Darling. Ich schicke Ihnen heute Nachmittag einen Mann vorbei. Der wird für die Sicherheit meines Eigentums verantwortlich sein – und außerdem als Ihr Leibwächter fungieren.“
Großartig, genau das, was ich brauche: ein Muskelmann, der mich auf Schritt und Tritt begleitet. Sie atmete tief durch, um die Ruhe zu bewahren. „Mr Marshall, das ist wirklich nicht nötig …“
„Doch, doch, Schätzchen, ich bestehe darauf.“
„Aber ich habe noch jede Menge unerledigte Arbeit hier liegen“, protestierte Annie. „Es wird Wochen dauern, bevor ich auch nur einen Blick auf die Maske werfen kann. Und die Tests, denen ich sie unterziehen muss, werden noch mal so viel Zeit kosten. Laut Vertrag soll ich meine Expertise bis Mitte Dezember fertigstellen. Das sind noch mehr als zwei Monate …“
„Ich werde dem Mann sagen, er soll sich darauf einstellen, eine Weile bei Ihnen zu bleiben.“
„Aber …“
„Ich muss wieder an die Arbeit“, unterbrach Marshall sie. „Hat mich gefreut, mit Ihnen zu plaudern. Sie hören wieder von mir.“
„Aber …“
Er legte auf.
„Aber ich will keinen Leibwächter“, protestierte Annie. Vergebens, Marshall hörte sie längst nicht mehr.
„Wie bitte?“, fragte Cara.
Leise fluchend legte Annie den Hörer auf. „Ich lege mich ein Weilchen hin“, sagte sie und ging müde zur Tür. „Vielleicht ist dieser Albtraum ja vorbei, wenn ich wieder aufwache.“
„Sagtest du eben etwas von einem Leibwächter?“, rief Cara ihr nach.
Annie gab keine Antwort.
Über Caras Gesicht kroch ein sehr zufriedenes Lächeln. Ein Leibwächter. Für Annie. Das würde hochinteressant und sehr amüsant werden.