16. KAPITEL
Als Annie ins Büro zurückkam, hing Pete schon wieder am Telefon.
Vor ihm lag ein Computerausdruck mit Namen, Daten und Transaktionen. Annie schaute ihm kurz über die Schulter, um zu sehen, ob sie sich einen Reim darauf machen konnte.
Er legte auf und drehte sich zu ihr um.
„Irgendwas rausgefunden?“, fragte sie.
„Kennst du jemanden namens Steadman?“, fragte er und deutete auf die Liste. Er war ein Käufer, und sein Name tauchte verhältnismäßig oft auf.
Annie schüttelte den Kopf.
„Er kauft in der English Gallery ein, als wäre es der Sommerschlussverkauf in einem Kaufhaus. Außer ihm tauchen noch ein paar andere Käufer und Gesellschaften häufiger auf.“
„Aber das sind alles seriöse Transaktionen“, wandte Annie ein und studierte noch einmal die Liste. „Einige dieser Stücke sind gut bekannt, und die Preise sind alle reell.“
Auf der Jagd nach weiteren Informationen verbrachte Pete den Rest des Morgens und fast den ganzen Nachmittag am Telefon.
Annie ging nach oben und machte sich daran, das Chaos zu beseitigen, das die Fledermäuse in ihrem Schlafzimmer hinterlassen hatten. Sie gab sich Mühe, dabei nicht an Peterson zu denken. Aber während sie den Fußboden schrubbte, hörte sie in ihrem Kopf immer wieder dieselbe Frage: Habe ich bei dir überhaupt noch eine Chance? Nein, sagte sie sich wieder und wieder. Absolut nicht. Ich liebe ihn nicht. Sie weigerte sich, ihn zu lieben. Zwar fand sie ihn körperlich anziehend …
Einen Moment schloss sie die Augen, erinnerte sich an die gemeinsam verbrachte Nacht. Die Nacht, in der sie sich geliebt hatten. War das wirklich erst zwei Tage her? Ihr kam es vor, als seien mindestens eine Million Jahre vergangen, seit er sie in den Armen gehalten hatte …
„Alles in Ordnung?“
Erschrocken öffnete Annie die Augen. Pete stand in der Tür. „Ja“, sagte sie und rückte dem Fußboden mit neuem Elan zu Leibe. „Was hast du herausgefunden? Hast du überhaupt irgendetwas herausgefunden?“
Pete hockte sich neben den Eimer, fischte den zweiten Schwamm aus dem Putzwasser und begann damit den Fußboden zu bearbeiten. „Ja, da ist was“, sagte er. „Ich warte noch auf ein paar Anrufe, die mir die restlichen Informationen liefern sollen, die ich brauche. Anscheinend kauft Mr J. J. Steadman auf die eine oder andere Weise die meisten Stücke, die aus der English Gallery kommen. Er ist Anteilseigner von jeder der Firmen, die auf der Käuferliste stehen.“
Annie unterbrach ihre Arbeit. „Ein ganz schön eifriger Sammler.“
Pete lächelte, und Annie musste den Blick abwenden. „Oh ja. Und obendrein kein sonderlich geschickter, wie es scheint. Er behält selten mal ein Stück länger als ein paar Monate, und oft macht er beim Weiterverkauf einen geringen Verlust.“
„Na und?“, fragte Annie. „Kein Gesetz schreibt vor, dass reiche Leute nicht dumm sein dürfen.“
„Ja“, sagte Pete. Die Muskeln in seinem Rücken und seinen Armen zeichneten sich deutlich ab, als er mit dem Schwamm den schmutzigen Fußboden bearbeitete. „Aber es kommt noch besser.“ Er lächelte sie an und spülte den Schwamm im Eimer aus. „Rate mal, wer noch Anteile an J. J. Steadmans Firmen hält? Ich gebe dir einen Tipp. Seltsame grüne Augen, Goldarmband, eine Art Klapperschlange im Smoking?“
Annie musste lächeln. „Hmm, lass mich überlegen … Könnte es Alistair Golden sein?“
Sie lächelten einander in die Augen. Dann schaute Annie weg, ihr Gesichtsausdruck war plötzlich verschlossen und distanziert.
Ein paar Minuten schrubbten sie beide schweigend den Boden. Dann hockte Annie sich auf ihre Fersen und richtete sich auf. „Weißt du, Agent Peterson, ich kenne nicht einmal deinen Vornamen.“
Pete blickte auf. „Kendall. Aber kein Mensch nennt mich so. Jeder ruft mich Pete.“
„Auch deine Mutter?“
„Die nennt mich Hastin Naat’aanni.“
Mann, der den Frieden herbeiredet, sein Diné-Name.
„Ist das wirklich passiert?“, fragte Annie. „Die Geschichte, die du mir erzählt hast? Von deinen Cousins und all dem, was nach dem Tod deiner Tante vorgefallen ist?“
Pete warf seinen Schwamm in den Eimer, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und legte die Arme um seine Knie. „Bis auf meinen Namen, meinen Beruf und mein College habe ich dir nichts vorgelogen, sondern nur Dinge verschwiegen. Alles, was ich dir sonst so erzählt habe, entspricht der Wahrheit. Ich habe dir nur nicht genug erzählt.“
Eine Weile schwieg Annie. „Warum hast du mir vorgelogen, du seist in New York auf die Universität gegangen? Wo hast du wirklich studiert?“
„Gar nicht. Ich war in der Army. Ich wurde Soldat, als ich achtzehn war.“
„Darüber hat sich dein Großvater also so aufgeregt“, folgerte Annie in plötzlicher Erkenntnis.
Pete nickte und starrte in die Seifenlauge. „Er konnte nicht verstehen, warum ein Junge namens Mann, der den Frieden herbeiredet, in einen Krieg am anderen Ende der Welt ziehen sollte. Ich verstand es genauso wenig.“ Aber er lächelte, und Annie erschrak angesichts des harten Ausdrucks in seinen Augen. „Aber ich war gut darin, Krieg zu führen. Und am Leben zu bleiben. Und Such- und Rettungsaktionen durchzuführen. Die meiste Zeit hielt ich mich in Feindesland auf, immer auf der Suche nach verwundeten Soldaten, die ich in Sicherheit brachte. Als schließlich die letzten Truppen abgezogen wurden, bat man mich, zu bleiben.“
„Zu bleiben?“, fragte Annie entsetzt. „Warum um alles in der Welt solltest du das tun wollen?“
„Ich wollte nicht. Aber man bat mich, in eine CIA-Einheit einzutreten, deren Aufgabe es war, Kriegsgefangene und Vermisste aufzuspüren und zu befreien“, antwortete Pete leise.
„Also bist du geblieben.“
„Ich bin geblieben. Vier Jahre lang. Und während der Rest der Welt den Frieden feierte, habe ich getan, was ich am besten konnte: weiter Krieg führen.“
„Du hast Leben gerettet“, widersprach Annie. „Wie viele Männer hast du geholfen zu befreien?“
Pete schaute sie überrascht an. Sie verteidigte ihn. Sein Herz setzte einen Moment lang aus, aber er versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Das hatte nichts zu bedeuten. „Die genauen Zahlen kenne ich nicht. Aber es waren Hunderte.“
„Seit deinem Eintritt in die CIA?“, fragte Annie.
Sie wollte mehr über ihn wissen. Steckte reine Neugier dahinter oder … Pete wagte es nicht zu hoffen. Er nickte. „Bei verschiedenen Einsätzen.“
„Du hast also den größten Teil der letzten zwanzig Jahre damit verbracht, dein Leben zu riskieren.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Nicht permanent.“
„Oh, ich schätze, ihr bekommt alle paar Jahre ein freies Wochenende. Wie kann man so leben? Ständig in Lebensgefahr?“
„Sieh es mal von meiner Warte aus“, meinte Pete. „Wenn ich in Colorado geblieben wäre, wären wir uns nie begegnet.“
Annies Augen wurden schmal. „Dann wärst du definitiv besser in Colorado geblieben“, fauchte sie. Sie stand abrupt auf und trug den Eimer ins Bad, wo sie ihn in die Toilette entleerte.
Pete folgte ihr. „In meinem Leben, bei meinem Beruf, muss ich häufig sehr schnell entscheiden“, sagte er leise und betont. „Wenn ich zögere, bin ich tot. Meine Instinkte sind ziemlich gut. Aber gelegentlich unterläuft mir ein Fehler. Ich treffe eine ganz schlechte Entscheidung. Wenn ich die Überraschung überwunden habe, dass ich trotzdem noch am Leben bin, ergreife ich meine zweite Chance und lasse sie nicht wieder los. Und ich sorge dafür, dass dieser Fehler nie wieder vorkommt.“
Sie schaute ihn mit großen Augen an. Er konnte nicht anders, ging einen Schritt auf sie zu, dann noch einen und noch einen. Bevor er sich fangen konnte, hatte er sie schon in seine Arme gezogen. Sie zitterte, machte aber keine Anstalten, sich loszureißen. „Annie, gib mir eine zweite Chance“, flüsterte er. „Ich liebe dich. Gott, bitte. Ich brauche dich in meinem Leben …“
Und immer noch riss sie sich nicht los. Bei jedem Atemzug hoben und senkten sich ihre Brüste, als hätte sie gerade einen Tausendmeterlauf hinter sich. Pete fühlte, wie sein Herz hämmerte. Er hatte Angst, sie zu erschrecken, aber gleichzeitig ungeheures Verlangen nach ihr. Das Verlangen siegte über die Angst, und er küsste sie.
Ihr Mund war so weich, so warm und so einladend, wie er es in Erinnerung hatte. Er spürte, wie sie ihn in die Arme schloss, wie sie auf seinen Körper reagierte, und er betete – ach was, er bettelte die Götter an, ihm eine zweite Chance zu geben.
Sie öffnete ihre Lippen, und er hätte fast geweint. Aber statt ihn zu küssen, stieß sie ihn plötzlich von sich. Er ließ sie sofort los, und sie starrte ihn anklagend an.
„Nein“, sagte sie, „ich kann das nicht.“
Dann drehte sie sich um und rannte aus dem Zimmer. Pete blieb allein zurück.
Das Telefon klingelte schrill und riss Annie aus ihrem unruhigen Schlaf. Die Uhr auf ihrem Nachttischchen zeigte zwei Uhr morgens, aber in der Küche brannte noch Licht. Das konnte sie durch die offene Schlafzimmertür sehen. Sie hörte Pete mit jemandem telefonieren. Er sprach leise, um sie nicht zu stören.
Annie stand auf und ging in Richtung des Lichts. Pete saß am Küchentisch und machte sich während des Telefonats Notizen. Das T-Shirt hatte er ausgezogen, und seine Haare waren wirr. Die rot geränderten Augen wiesen darauf hin, dass er wohl noch immer keinen Schlaf bekommen hatte.
„Ja, ich habe alles“, sagte er ins Telefon und schaute zu Annie hoch. Sie stand im Türrahmen und blinzelte ins helle Licht der Küche. „Danke, du hast was gut bei mir.“
Pete legte auf, und Annie entdeckte, dass er nur Boxershorts trug. Verlegen schaute sie weg, beschämt von der sofortigen Reaktion ihres Körpers auf seine Männlichkeit. Bloß nicht dabei erwischen lassen, wie sie ihn anstarrte.
Er bemerkte ihr Unbehagen sofort. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Ich habe geschlafen, als das Telefon klingelte. Ich wollte nicht, dass du von dem Gespräch geweckt wirst. Deshalb bin ich in die Küche gegangen.“
Annie ging hinüber zur Arbeitsplatte und schaltete den Wasserkessel an, um sich Tee zu machen. „Was hast du herausgefunden?“, erkundigte sie sich, mit dem Rücken zu ihm.
„Lass mich erst meine Jeans anziehen, dann erzähle ich es dir.“
„Möchtest du auch eine Tasse Tee?“, fragte Annie, als Pete vollständig angezogen wieder in die Küche kam. Jetzt fühlte sie sich unvollständig bekleidet, da sie nur ihren Schlafanzug trug.
„Danke, gern.“
Sie nahm einen zweiten Becher aus dem Geschirrschrank, hängte einen Teebeutel hinein, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, die Arme vor der Brust verschränkt, und wartete darauf, dass das Teewasser kochte.
Pete holte eine Zitrone aus dem Kühlschrank, nahm ein Schneidebrett vom Regal und öffnete die Messerschublade. Er kennt sich in meiner Küche aus, stellte Annie fest. Er wusste, wo alles war; er wusste, wo Teller und Gläser standen. Er wusste sogar, wo sie die Schokolade versteckte, die sie manchmal einfach brauchte. Er wusste das alles. Kendall Peterson, ehemaliger Angehöriger der Army und jetzt CIA-Agent, wusste alle möglichen privaten und persönlichen Dinge über sie. Weil Kendall Peterson sich an all das erinnerte, was Pete Taylor gesehen und gehört hatte.
„Wie machst du das?“, fragte Annie.
Er schaute auf und fuhr dann fort, die Zitrone säuberlich in Achtel zu zerteilen. „Wie mache ich was?“
„Wie kannst du für so lange Zeit eine völlig andere Identität annehmen?“, fragte Annie. „Geht dein eigenes Ich dabei nicht verloren?“
Pete schüttelte den Kopf. „Annie, das ist nicht wie bei einem Schauspieler.“ Er drehte sich zu ihr um, versuchte sich ihr verständlich zu machen. „Ich nehme nur einen anderen Namen an, ein anderes Etikett. Es ist egal, ob man mich Agent Peterson oder Taylor oder Hastin Naat’aanni nennt, ob mein Führerschein als Wohnsitz Colorado oder New York angibt. Ich bin immer derselbe Mann. Ich bin ich – ich bin Pete.“
„Du siehst dich selbst als Pete“, meinte Annie, „nicht als Hastin Naat’aanni, Mann, der den Frieden herbeiredet?“
Pete schwieg einen Augenblick und musterte seine nackten Füße auf dem schwarz-weißen Fliesenboden. „Ich bin Hastin Naat’aanni. Ich werde es immer sein. Aber im Krieg haben die Männer meiner Einheit mich Maschine genannt. Als Kürzel für Kriegsmaschine. Ich bin auch das.“
Das Wasser begann zu kochen, Annie drehte sich zur Arbeitsplatte um und schaltete den Kessel aus. Sie füllte beide Becher mit kochendem Wasser und stellte sie auf den Tisch. Pete brachte den Teller mit den Zitronenstücken an den Tisch und setzte sich ihr gegenüber.
Annie tunkte ihren Teebeutel ein paarmal in ihrem Becher unter. Sie beobachtete, wie das heiße Wasser sich langsam braun färbte.
„Willst du wissen, was ich herausgefunden habe?“, fragte Pete.
„Gutes oder Schlechtes?“
„Merkwürdiges.“
„Schieß los.“
„Okay. Bisher haben wir J. J. Steadman – wer immer das auch sein mag – und Alistair Golden als Partner in ein paar ziemlich schwachen Kunsthandelsfirmen. Und wir wissen auch schon, dass Golden alles begutachtet, was aus der English Gallery kommt. Alles bis auf ein Stück, die Totenmaske.“ Einen Moment dachte Pete nach, dann fragte er: „Ist es aus deiner Sicht eigentlich notwendig, dass Golden vor jeder einzelnen Transaktion nach England fliegt?“
„Kaum“, gab Annie zurück und nippte an ihrem Tee, um zu prüfen, ob er lange genug gezogen hatte. „Aber Golden ist nicht unbedingt das, was ich als einen vernünftigen Menschen bezeichnen würde. Anscheinend besteht er darauf, alle Kunstwerke und Antiquitäten selbst für den Versand zu verpacken. Ich halte ihn für analfixiert.“
Schweigend zog sie den Teebeutel aus ihrem Becher, warf ihn in den Mülleimer, presste den Saft aus einem der Zitronenstücke in ihren Tee und nahm einen Schluck. „Ich habe Sullivan angerufen und ihm erzählt, in welcher Klemme ich stecke“, fuhr sie fort. „Ich sagte ihm, dass ich ihm die Totenmaske zurückschicke. Er hat mich gebeten, ihm einen Gutachter zu empfehlen. Jemand anderen als Golden. Offenbar hat Golden sich heftig danebenbenommen, als er erfuhr, dass er den Auftrag nicht bekommen sollte. Er hat Ben angerufen und ihn am Telefon angebrüllt. Ben war alles andere als begeistert.“
Die Totenmaske zurückschicken.
Die Totenmaske.
Irgendwie hing das abgekartete Spiel gegen Annie mit dieser Totenmaske zusammen.
Und obwohl Pete nicht hätte sagen können, warum, schien es ihm noch gefährlicher, die Totenmaske zu Sullivan zurückzuschicken, als sie im Haus zu behalten.