9. KAPITEL
Annie war im Labor. Sie hörte, wie die Eingangstür hinter Cara ins Schloss fiel, wie Pete abschloss, die Riegel vorschob und die Alarmanlage aktivierte.
Es war so weit. Jetzt waren sie allein im Haus, nur sie beide, niemand sonst.
Sie lauschte Petes Schritten auf dem Dielenboden des Flurs, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Als sie sich umdrehte, stand er in der Tür. Sein Gesicht zeigte keine Regung, aber die Anspannung war ihm trotzdem anzusehen: Seine Schultern wirkten kaum merklich verkrampft, und Annie wurde bewusst, dass er genauso nervös war wie sie.
„Ich lasse eine Pizza kommen“, sagte er.
Der erste vollständige Satz, den er an sie richtete, seit sie vom Supermarkt nach Hause gekommen waren. Seit ihrem Kuss.
„Wollen wir eine teilen?“, fragte er. „Es gibt einen Lieferservice in der Stadt. Tony’s. Es sei denn, Sie wissen etwas Besseres …“
Er versuchte so zu tun, als sei nichts geschehen. Stand da und redete über den besten Pizza-Lieferservice der Stadt. Dabei wäre es viel sinnvoller gewesen, sich darüber auszusprechen, was am Morgen geschehen war. Darüber, dass er sie in die Arme genommen und sie geküsst hatte, dass ihr Hören und Sehen vergangen war.
Seine betonte Gleichgültigkeit überraschte sie nicht. Schließlich war er ihr schon den ganzen Tag aus dem Weg gegangen. Auch ohne dass er es direkt sagte, war klar, was er ihr damit zu verstehen gab. Er bereute es, sie geküsst zu haben. In seinen Augen war es ein Fehler.
Enttäuschung machte sich in ihr breit, und sie wandte sich ab. Sie wollte nicht, dass er ihr ansah, was in ihr vorging.
„Wenn Sie noch eine Weile arbeiten wollen, kann ich auch warten“, bot Pete an. „Wenn ich jetzt anrufe, dauert es etwa eine Dreiviertelstunde, bis die Pizza geliefert wird.“
Annie hatte sich wieder so weit gefangen, dass sie ihn anschauen konnte. Von den Stiefelspitzen bis zu den kurzen dunklen Haaren war Pete Taylor einfach ein Bild von einem Mann. Selbst die weit geschnittene ausgebleichte Jeans konnte nicht ganz verbergen, wie muskulös seine Beine waren. Der schlichte braune Ledergürtel mit der Silberschnalle betonte seine schmalen Hüften. Die sonnengebräunte Haut wurde effektvoll von dem grob gewebten weißen Leinenhemd betont, das er am Hals offen trug. Die Ärmel waren bis zum Ellbogen aufgekrempelt, der Hemdstoff spannte über den Armmuskeln, den breiten Schultern und dem kräftigen Brustkorb. Die Hände hatte er tief in den Hosentaschen vergraben.
Und das waren nur seine körperlichen Vorzüge.
In diesem Körper, in dem fein geschnittenen Kopf, hinter den so lebendigen dunklen Augen, dem dichten schwarzen Haar und dem Gesicht, das einem Filmstar alle Ehre gemacht hätte, steckte eine Seele, die Annie einfach gernhaben musste. Sie konnte nicht anders, als sich in Pete Taylor zu verlieben.
Aber er wollte sie nicht. Jedenfalls nicht so, wie sie ihn wollte. Denn wenn er sie wirklich begehrte, dann würde er doch nicht so tun, als wäre nichts gewesen, oder?
„Pizza klingt gut, Taylor“, sagte sie leichthin, „und in fünfundvierzig Minuten kann ich hier fertig sein.“
Er wandte sich ab, sodass sein Gesicht im Schatten lag. „Gut. Ich gehe ins Büro und rufe von dort aus an“, sagte er und ging.
Als sie später beim Essen zusammensaßen, war Annie noch mehr davon überzeugt, dass Pete in dem Kuss, den er ihr am Morgen gegeben hatte, einen Irrtum sah, ein Versehen, einen Fehler. Ihre Unterhaltung lief sehr viel glatter und freundlicher, als sie befürchtet hatte, aber es war die Freundlichkeit, mit der zwei Fremde einander begegneten. Das Feuer, das sie am Morgen in Petes Augen entdeckt hatte, entzündete sich nicht wieder. Nicht einmal bei ihrem Zusammenstoß in der kleinen Küche, als sie den Salat zur Pizza vorbereitete. Sie trat einen Schritt rückwärts, stolperte, und er hielt sie fest, damit sie nicht stürzte. Für einen Sekundenbruchteil schöpfte sie Hoffnung. Aber Petes Blick blieb kühl und unbewegt.
Nach dem Essen verbrachte Annie noch ein paar unruhige Stunden im Büro, ohne allzu viel von dem angehäuften Papierkram erledigen zu können. Die ganze Zeit über hatte sie Petes Gesicht vor Augen. Obwohl er nicht einmal im selben Zimmer war, konnte sie seine Augen sehen, die Gleichgültigkeit und die Kälte in seinem Blick.
Oh Gott, durchfuhr es sie plötzlich, und sie setzte sich kerzengerade auf. Wenn ich nun diejenige war? Wenn ich mich ihm an den Hals geworfen habe heute Morgen?
Wie genau war das Ganze abgelaufen? Wer hatte wen zuerst geküsst? Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern.
Pete war so wütend gewesen. Er hatte ihre Arme so fest gepackt, dass er ihr wehtat. Sie hatte versucht, sich loszureißen. Aber er hielt einfach fest, ließ nicht los. Sie erinnerte sich, dass sie zu ihm hochgeschaut hatte, fasziniert von dem wütenden Funkeln seiner Augen, erschrocken über die Heftigkeit seines Gefühlsausbruchs. Ihr fiel wieder ein, dass sie gesehen hatte, wie das Feuer in seinen Augen plötzlich eine ganz andere Qualität annahm. Und dann beugte er sich vor, um sie zu küssen.
Ja. Er hat mich geküsst, dachte sie erleichtert, definitiv war er derjenige gewesen. Er hat mich geküsst. Nur gut, dass ich mich daran erinnern kann. Es war nicht so schlimm, sich zum Narren zu machen. Schlimm war nur, wenn man es nicht einmal mehr bemerkte. Ein unerträglicher Gedanke. Aber zum Glück war das hier nicht der Fall. Ich habe nicht …
„Arbeiten Sie oder schlafen Sie?“ Petes heisere Stimme holte sie aus ihren Gedanken, und sie riss die Augen auf. Er stand im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete sie.
Annie lächelte schief. „Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, weder noch?“
„Es ist kurz vor Mitternacht“, antwortete er leise. Mit den Augen folgte er ihren Bewegungen, als sie ihren Computer herunterfuhr und die Akten, an denen sie gesessen hatte, zusammenräumte. Als sie ihr glänzendes Haar hinter die Ohren strich. Als sie unbewusst mit der Zunge über ihre Lippen fuhr, als sie …
Oh verdammt, dachte Pete. Er hatte den ganzen Tag versucht sich selbst einzureden, dass dieser Kuss ihm nichts ausgemacht hatte. Er hatte versucht, die Tatsache zu ignorieren, dass sie seinen Kuss erwidert hatte. Sie begehrte ihn. Sogar jetzt konnte er das in ihren Augen sehen, obwohl sie bemüht war, es zu verbergen.
Er bräuchte nur ein Wort zu sagen, und schon wäre sie sein.
Doch wenn er mit ihr schlief, würde das zwar das drängende Problem des heutigen Abends lösen. Aber dummerweise würden sich daraus sofort noch viel mehr und weitaus schwerwiegendere Probleme ergeben. Wenn er sie liebte, ohne ihr zu sagen, wer er wirklich war, würde sie ihn hassen. Und wenn er ihr sagte, wer er war, bevor er sie liebte, würde sie ihn nicht mehr wollen und ihn vermutlich trotzdem hassen.
Nur vielleicht nicht ganz so sehr.
Pete folgte Annie die Treppe hinauf und kontrollierte die Fenster im Schlafzimmer, während sie im Bad war und sich bettfertig machte.
Vielleicht bekam er ja doch eine Chance, wenn sie ihn nicht ganz so sehr hasste …
Eine Chance worauf?
Auf eine gemeinsame Zukunft?
Er erstickte diesen Gedanken im Keim und schob ihn weit von sich.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit auf die Geräusche im Bad. Wasser lief, Annie putzte sich die Zähne. Gleich würde sie fertig sein und rauskommen.
Er verschloss die Schlafzimmertür und ließ sich auf seinen Schlafsack fallen.
Morgen schon würde alles ein wenig leichter sein, dachte er. Wenn er erst einmal diese Nacht überstanden hatte … Er schloss die Augen und flehte alle ihm bekannten Götter an, dass Annie nicht versuchen würde, mit ihm über den Kuss zu reden.
Beim Abendessen hatte er die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie etwas sagte. Statt Pizza hätte er ebenso gut Pappe essen können – er hatte sowieso nichts geschmeckt, weil er so angespannt war. Halb hatte er erwartet, dass sie die Hand nach ihm ausstreckte, ihn berührte, zu Ende zu bringen versuchte, was sie begonnen hatte.
Erwartet? Oder nicht doch vielmehr gehofft?
Nein, er konnte nicht darauf hoffen. Sosehr er sich auch wünschte, sie noch einmal zu küssen, er konnte sich das nicht erlauben.
Denn wenn sie ihn berührte, dann würde sie Bescheid wissen. Und wie sollte er ihr erklären, dass er nicht mit ihr schlafen wollte, wenn er sie doch so offensichtlich begehrte? Wenn er vor Verlangen nach ihr zitterte?
Die Badezimmertür öffnete sich, und Annie trat heraus.
Sie trug wieder den zu großen karierten Schlafanzug und bürstete sich das Haar.
Pete konnte ihr nicht dabei zusehen. Er ließ sich auf sein Kissen sinken und schloss die Augen.
Es half nicht.
Annie legte die Bürste auf ihrem Nachttischchen ab, wie sie das jeden Abend tat, und schaltete das Licht aus. Sie schlüpfte unter die Decke, legte sich auf die Seite und zog die Knie eng an den Körper.
„Gute Nacht, Taylor“, flüsterte sie, aber Pete gab keine Antwort.
Ausnahmsweise konnte sie ihn atmen hören, langsam und gleichmäßig, als wäre er bereits eingeschlafen.
Sie seufzte und drehte sich auf den Rücken, um eine bequemere Schlafposition zu finden. Dann lag sie wach, starrte in der Dunkelheit an die Decke und versuchte sich zu entspannen.
Stell dir vor, du bist an einem Tropenstrand, sagte sie sich und schloss die Augen. Vor wenigen Nächten hatte Pete sie auf diese Weise in den Schlaf gelullt. Annie stellte sich vor, wie sie hinauswatete in den warmen Pazifik. Wie das türkis schimmernde Wasser all ihre Probleme von ihr abspülte. Wie sie aus den Wellen stieg und zu dem Strandtuch hinüberging, das auf dem Sand ausgebreitet lag, ihren dummen karierten Schlafanzug abstreifte. Sie stellte sich vor, dass Pete Taylor auf dem Tuch lag, genauso nackt wie sie selbst. Er lächelte sie an, streckte die Hand nach ihr aus und zog sie an sich, küsste sie …
Annie öffnete die Augen. Was zum Teufel tue ich da? Das soll eine Entspannungstechnik sein, keine Foltermethode. Wie konnte sie nur eigenhändig Salz in ihre Wunden reiben und von einem Mann träumen, von dem sie wusste, dass er sich nicht für sie interessierte?
Aber …
Annie spähte hinauf zur Decke. Halt, warte, Augenblick mal.
Ich weiß doch gar nicht, ob er sich nicht für mich interessiert. Ich nehme es nur an. Er hat nie gesagt, dass er nur an Freundschaft denkt. Er hat nie gesagt, dass wir nicht weitergehen sollen.
Verdammt, ich bin Wissenschaftlerin. Ich weiß, wie blöd es ist, Vermutungen anzustellen und dabei von einem ganzen Haufen unbewiesener Annahmen auszugehen …
„Taylor, sind Sie wach?“
Ihre Stimme durchschnitt die Dunkelheit, und Pete wäre beinahe zusammengezuckt. Aber nur beinahe. In letzter Sekunde gelang es ihm, sich zu beherrschen. Sein Atem blieb ruhig und gleichmäßig, als würde er tief und fest schlafen.
Du Feigling, schalt er sich schweigend.
„Taylor?“, fragte sie noch einmal. Dann: „Pete!“
Als sie seinen Vornamen aussprach, wäre es beinahe um ihn geschehen. Aber er schaffte es dennoch irgendwie, sich nicht zu rühren, nicht zu antworten.
Komm schon, Annie, dachte er. Dreh dich endlich um und schlaf ein.
Ihre Bettdecke raschelte, aber nicht weil sie sich abwandte. Sie schlug die Decke zurück. Er konnte ihre bloßen Füße auf dem Holzboden hören. Oh verdammt, sie ist aufgestanden. Sie kommt auf mich zu …
„Pete, wach auf“, sagte sie, ihre Stimme ganz nah in der Dunkelheit.
Er öffnete die Augen und sah, dass sie neben ihm am Boden kauerte. Er konnte im schwachen Licht, das durch einen Spalt in den Vorhängen hereinfiel, so gerade eben ihre Gesichtszüge ausmachen.
„Geh wieder ins Bett“, antwortete er. Überzeugend klang das nicht, nicht einmal für ihn selbst.
Annie setzte sich im Schneidersitz neben ihn. Offensichtlich wollte sie nicht weggehen. Jedenfalls nicht so bald. „Wir müssen reden“, sagte sie.
Pete setzte sich auf und lehnte sich mit dem nackten Rücken an die Wand. So gewann er ein paar Zentimeter Abstand zu ihr, aber sie saß immer noch viel zu nah. Er konnte ihren Duft wahrnehmen und erahnen, wie ihre Halsschlagader zwischen Hals und Schlüsselbein pulsierte. Sein Blick wanderte automatisch zum tiefen Ausschnitt ihrer Schlafanzugjacke. Er zwang sich, wegzuschauen.
„Annie, geh wieder ins Bett“, sagte er noch einmal, diesmal etwas lauter. Ihre Blicke trafen sich und ließen einander nicht mehr los. „Bitte“, fügte er hinzu, aber mehr als ein Flüstern brachte er nicht mehr zustande.
Er wandte den Kopf ab, aber es war zu spät. Annie hatte das kurze Aufblitzen in seinen Augen gesehen, das sanfte Glühen darin. Nur kurz, aber es war da, und es verriet denselben gierigen Hunger, den sie am Morgen wahrgenommen hatte, bevor er sie küsste.
„Pete, warum hast du mich geküsst?“, fragte sie heiser.
„Ich hätte das nicht tun sollen“, gab er zurück. „Ich habe mich danebenbenommen.“ Er nahm sich zusammen und schaute sie an, bemüht, keine Regung zu zeigen. „Es tut mir leid.“
„Aber mir nicht.“ Sie runzelte leicht die Stirn. „Du hast meine Frage nicht beantwortet. Schau, ich kann einfach nicht verstehen, warum du mich erst küsst und dann so tust, als hätte ich die Pest. Wo liegt das Problem? Bist du verheiratet?“
„Nein.“
„Anderweitig gebunden?“
Er war bereits viel stärker gebunden, als er wollte, und es wurde von Sekunde zu Sekunde schlimmer. „Nein. Annie, bitte …“
„Also warum hast du mich geküsst, Taylor?“
„Können wir das Thema nicht einfach fallen lassen …“
„Ich will das Thema nicht fallen lassen“, entgegnete sie scharf. Er sagte ihr mit Worten ganz etwas anderes als mit seinen Blicken. „Wenn es ein Problem gibt, dann sag es mir. Wenn es kein Problem gibt …“ Sie wartete, bis er sie wieder anschaute. „Dann küss mich noch einmal.“
Pete bekam kaum Luft. „Du kennst mich nicht. Du weißt nicht … wer ich wirklich bin“, sagte er und konnte den Blick nicht von ihr wenden.
„Ich weiß genug“, widersprach sie. Ihre Haare schimmerten in einem Lichtstrahl, der durch einen Spalt in den Vorhängen hereinfiel. Ihre Augen wirkten farblos und geheimnisvoll. Sie streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren, aber er griff nach ihrem Handgelenk und stoppte sie.
„Du würdest mich nicht mögen“, stieß er hervor. Seine Stimme versagte ihm fast den Dienst.
„Meinst du nicht, dass ich darüber selbst entscheiden muss?“
Es wäre so einfach, sie zu küssen. Sie beugte sich über ihn, lud ihn ein …
„Ich kann mich nicht auf dich einlassen“, sagte er scharf und ließ ihr Handgelenk los, als hätte er sich daran verbrannt. „Es geht nicht. Es ist unklug …“
Er sah den Schmerz in ihren Augen, und das gab ihm den Rest. „Annie, glaub mir, ich habe keine Wahl“, sagte er ein wenig sanfter. „Es bringt mich beinahe um, aber ich mag dich viel zu sehr, um mit dir eine Beziehung einzugehen. Eine Beziehung, von der ich ganz genau weiß, dass sie keine Zukunft hat.“ Er legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Du wirst sehen: Es ist besser, wenn wir einfach nur Freunde bleiben.“
Dieses Mal übernahm Annie die Initiative. Wenn er bei der Behauptung blieb, nachdem sie ihn geküsst hatte, dann würde sie ihm glauben. Vorher nicht. Also küsste sie ihn.
Er stöhnte auf, voller Verzweiflung. Dann trafen seine Lippen und seine Zunge die ihren, vereinigten sich zu einem langen innigen Kuss, der seinen ganzen Körper in Brand setzte.
Pete schloss die Arme um sie, zog sie fester und fester an sich, bis sie auf seinem Schoß saß, dicht an ihn gedrückt, und immer noch hatte er das Gefühl, sie sei ihm noch nicht nah genug.
Er küsste sie wieder und wieder, und sein Verlangen nach ihr stieg mit jedem Schlag seines Herzens. Sie reagierte mit ebensolcher Leidenschaft, ließ ihre Hände fieberhaft über seinen Rücken, seine Brust und seine Arme gleiten, als könnte sie nicht genug davon kriegen, ihn zu berühren.
So viel zu seinen Worten. So viel zu seinen guten Absichten.
Sie drehte sich um, sodass sie rittlings auf ihm saß, und strich mit den Händen über die angespannten Muskeln seiner Oberschenkel. Gleichzeitig stieß seine Hand an den Saum ihrer Schlafanzugjacke, und er schob sie unter den weichen Flanell. Annie erschauerte vor Verlangen, als er ihren Rücken streichelte. Er ließ die Finger abwärts gleiten, unter den Bund ihrer Schlafanzughose, und streichelte ihren straffen glatten Po.
Ganz allmählich wurde sein Griff fester. Er zog ihre Hüften immer näher an sich heran. Natürlich wusste er ganz genau, dass er genau das auf keinen Fall tun durfte, aber er konnte einfach nicht aufhören. Es war eine Einladung, eine stumme Frage. Wollte sie mehr?
Sie gab ihm die Antwort, indem sie sich fest an ihn drückte, sich an seinem steifen Glied rieb.
Ja, sie wollte mehr.
Trotz seiner Vorsätze und obwohl er wusste, dass er das nicht tun sollte, würde er sie lieben. Jetzt war ihm klar, dass er sich die ganze Zeit nur etwas vorgemacht hatte. Er hatte keine Wahl – wenigstens das entsprach der Wahrheit. Er wollte sie so sehr, dass es wehtat. Jeder Widerstand war zwecklos. Er griff nach ihr, und da war sie, und ihre Lippen ließen einander nicht los.
Du bist ein Schwächling, klagte ihn eine leise Stimme in seinem Kopf an. Dem konnte er schlecht widersprechen. Aber andererseits war das hier ein Kampf, der einfach nicht zu gewinnen war. Denn von Anfang an waren es zwei gegen einen – sein Körper und ihr Körper gegen seinen Verstand. Er hatte nicht die geringste Chance.
Aber es ist nicht richtig. Sie kennt nicht die Wahrheit über mich.
Er küsste sie, wild entschlossen, die leise mahnende Stimme zu missachten, die ihn anklagte. Denk nicht nach, sagte er sich wieder und wieder, denk einfach nicht nach …
Annie streifte sich ihre Schlafanzugjacke ab, und Pete hörte auf nachzudenken.
In einer einzigen geschmeidigen Bewegung drehte er sich und sie um, sodass er auf ihr zu liegen kam. Ihre Augen funkelten geheimnisvoll im Halbdunkeln, als sie ihn anlächelte, und er küsste sie erneut. Er begann mit ihrem Mund und ließ seine Lippen langsam an ihrem Hals hinabwandern, über ihr Schlüsselbein hinab zu ihren Brüsten. Dort angekommen, umschloss er erst die eine, dann die andere steif aufgerichtete Brustwarze mit dem Mund und liebkoste sie mit der Zunge, bis Annie aufschrie.
Dann hob er ihren Kopf mit einer Hand an und schaute ihr tief in die Augen. Das Funkeln darin war flüssiger Lava gewichen. Wie oft hatte er sich ausgemalt, so von ihr angeschaut zu werden. Sex mit ihr zu haben. Aber die Wirklichkeit übertraf die Fantasie bei Weitem. Sex mit Annie – das war jetzt schon so schön wie nie zuvor in seinem Leben. Das hätte er nie zu träumen gewagt. Dabei war er noch nicht einmal nackt.
Sie lächelte ihn erneut an und hob ihm ihre Lippen entgegen, damit er sie küsste. Langsam senkte er sich ihr entgegen, und ihre Lippen trafen sich zu einem so sanften, zärtlichen und innigen Kuss, dass es sich anfühlte, als wollten ihre Seelen miteinander verschmelzen.
Plötzlich wurde Pete bewusst, was diesmal anders war. Zutiefst erschrocken zuckte er zurück, löste sich von ihr und stand hastig auf.
Annie setzte sich auf. „Pete?“
Ich habe eine große Dummheit begangen. Eine ganz gewaltige Dummheit. Er strich sich mit den Fingern durchs Haar. Wann ist das passiert? Wie habe ich das nur zulassen können?
„Pete?“ Annie stand nun ebenfalls auf und trat zögernd näher. „Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?“
Ich habe mich in sie verliebt.
Das ist diesmal so anders als sonst. Sex mit Annie ist nicht einfach nur Sex, nein, es ist Liebe. Oh Gott, ich liebe sie …
Sie kam noch einen Schritt näher, und Sorge stand in ihr hübsches Gesicht geschrieben.
Ich muss hier raus. Muss nachdenken. Muss überlegen, was zum Teufel ich jetzt tun soll.
„Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich …“
Abrupt drehte er sich um, stürzte zur Tür und ließ Annie zum ersten Mal in dieser Woche in ihrem Schlafzimmer allein.
Pete lehnte den Kopf an die Wand und starrte auf die geschlossene Tür zu Annies Schlafzimmer. Es war verrückt. Und lächerlich. Er hatte bisher nicht einmal geglaubt, dass es so etwas wie Liebe gab. Aber die Symptome ließen sich nicht leugnen. Er liebte Annie, kein Zweifel. Es fühlte sich wirklich ganz genauso an, wie all die dummen Songs es beschrieben, über die er sich all die Jahre nur lustig gemacht hatte. Im Grunde war es zum Lachen, nur dass ihm im Moment ganz und gar nicht nach Lachen zumute war.
Zum ersten Mal seit seiner Kindheit wusste er genau, was er wollte. Er wollte Annie. Er wollte, dass sie sich in ihn verliebte. Er wollte eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft. Er wollte … für immer.
Für immer. Wenn das kein guter Witz war! Welche Chancen hatte er denn, dass sie für immer mit ihm leben wollte, wenn sie herausfand, dass er ein CIA-Agent war, der ihr ein Verbrechen nachweisen sollte?
Zum wohl hundertsten Mal fuhr Pete sich mit den Fingern durchs Haar und schaute auf die Uhr. Drei Uhr fünfzehn. Wollte diese Nacht denn nie zu Ende gehen?
Er fluchte lautlos in sich hinein und wusste, dass er viel zu tief drinsteckte. Er hatte Gefühle entwickelt, die seiner Ermittlung im Weg standen. Eigentlich hätte er längst am Telefon hängen und Scott Whitley informieren sollen, um von diesem Fall abgezogen zu werden.
Aber wenn er von diesem Fall abgezogen wurde, wen würden sie dann an seiner Stelle schicken? Was wäre, wenn sein Ersatzmann Annie nicht beschützen konnte? Unter keinen Umständen konnte er ihr Leben einem anderen anvertrauen. Niemals.
Für einen Moment schloss er die Augen. Verdammt, ihm tat alles weh.
Er ließ den Kopf in seine Hände sinken und sah wieder Annies Gesichtsausdruck vor sich, als er aus dem Zimmer flüchtete. So viel zum Thema Koitus Interruptus, schoss es ihm durch den Kopf, und er stöhnte gequält auf. Sie muss mich für komplett durchgeknallt halten. So aufzuspringen und davonzustürzen, mitten in einem derart intensiven Moment!
Wieder entrang sich ihm ein Stöhnen. Bestimmt war Annie im Moment nicht sehr gut auf ihn zu sprechen. Er bezweifelte, dass die Benimmbücher in den Buchhandlungen auch Regeln für den gesitteten Beischlaf enthielten. Aber sollte es diese Regeln doch geben, kamen Männer, die eine Frau erst ordentlich heißmachten und sie dann im Regen stehen ließen, bestimmt nicht gut weg.
Andererseits, wenn er mit Annie geschlafen hätte, wenn sie bis zum Letzten gegangen wären, dann hätte er sich jede Chance auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr zerstört. Wenn sie herausfand, dass er zur CIA gehörte, dann würde sie annehmen, dass er sie verführt hatte, um auf diese Weise an Informationen über die Kunstdiebstähle zu gelangen. Was ja auch stimmte. Weshalb er auf keinen Fall … Ach, das Ganze war viel zu verwickelt.
Annie erwachte, als sich der Radiowecker einschaltete. Sie blieb mindestens eine halbe Stunde liegen, lauschte der Countrymusic des Senders und wünschte sich, Pete läge neben ihr.
Aber Pete wollte sie nicht.
Eine Träne rollte ihr die Wange hinunter, und sie wischte sie hastig weg.
Warum habe ich nicht auf ihn gehört? Eben diese Frage hatte sie die ganze Nacht lang wach gehalten, und immer wieder war sie zu derselben Schlussfolgerung gelangt: weil ich eine Idiotin bin. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht mehr wollte als Freundschaft. Aber nein, sie musste sich ihm trotzdem an den Hals werfen. Sie musste ihm unbedingt zu beweisen versuchen, dass er sich irrte. Und jetzt stellte sich heraus, dass nicht er, sondern sie im Irrtum gewesen war.
Das war nicht fair, aber Liebe war niemals fair. Es gab nie eine Garantie dafür, dass zwei Menschen dasselbe füreinander empfanden. Im Gegenteil, auf Gegenseitigkeit beruhende Liebe schien eher die Ausnahme denn die Regel zu sein. Warum sonst sollte es so viele Lieder über gebrochene Herzen geben? Vier der sieben Countrysongs, die sie an diesem Morgen gehört hatte, drehten sich um das uralte Thema: Du liebst mich nicht so sehr, wie ich dich liebe.
Eine zweite Träne rollte ihr die Wange hinab, und Annie wischte auch sie fort. Was war doch noch gleich Caras Lieblingsspruch? Sieh es von der positiven Seite.
Sie starrte hinauf zur Decke und suchte nach der positiven Seite, als der nächste Song begann. Sieh es von der positiven Seite, dachte sie. Zumindest ist es passiert, bevor ich mich richtig in ihn verliebt habe.
Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie sich selbst belog.
In der nächsten Nacht lag Pete hellwach in seinem Schlafsack und wartete darauf, dass Annie ihn fragte, ob er wach sei.
Der Tag war ihm endlos vorgekommen. Annie wich seinen Blicken aus und war zurückhaltend höflich, wenn sie ihm nicht aus dem Weg gehen konnte.
Er hatte sie um Entschuldigung gebeten. Sie hatte die Achseln gezuckt, gesagt, er solle es vergessen. Das Ganze sei ihre Schuld gewesen.
Pete runzelte die Stirn. Sie wirkte so leichtfertig, so gelassen. Konnte es sein, dass es ihr wirklich nichts ausmachte? Konnte es sein, dass sie wirklich nur mal ganz unverbindlich mit ihm hatte schlafen wollen?
Nein. Er konnte ihr ansehen, wie verletzt sie war. Obwohl sie sich große Mühe gab, gelang es ihr nicht, den Schmerz zu verbergen. Er schloss seine Augen, als ihn Scham und Reue überwältigten. Sein einziger Trost bestand darin, dass er sich keinen Deut besser gefühlt hätte, wenn er mit ihr geschlafen hätte. Im Gegenteil. Zu Scham und Reue hätten sich dann auch noch massive Schuldgefühle gesellt.
Komm schon, Annie, dachte er, während er auf dem Fußboden ihres Schlafzimmers lag. Rede mit mir.
Aber sie sagte kein Wort.