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|55|Konsumcollagen – Persönliche Aneignung versus kommerzielle Verwertung im Möbeldesign

Thilo Schwer

Aneignung als alltägliche Praxis

Produkte aus der Massenfertigung haben – im Vergleich zu handwerklich hervorgebrachten – keinen einzigartigen Charakter. Im Gegenteil: ihre Uniformität widerspricht dem Wunsch der Käufer nach Selbstbestimmung und Einzigartigkeit. Hersteller versuchen diesen Mangel auszugleichen, indem sie Markenpersönlichkeiten kreieren und diese über Werbung vermitteln. Konsumenten wiederum entwickeln ihrerseits Strategien, um die Produkte aus der Anonymität der Warenwelt herauszulösen und in den persönlichen Besitz zu überführen. Dieser aktiv gestaltete Prozess wird mit dem Begriff der Aneignung bezeichnet, der weit mehr als den Kaufakt selbst umfasst: Man möchte sich ein Produkt zu eigen machen, sich mit ihm identifizieren und es als persönliches Statement verstehen. Dabei unterscheiden sich die Vorgehensweisen, Absichten und ihr jeweiliger Stellenwert erheblich. Sie reichen von »kleinen, starrsinnig anmutenden Gesten der Identifikation mit Objekten« (Boehe/Selle 1986: 33f.) über individuelle Kombinationen und Umcodierungen bis hin zu umfassenden Modifikationen, nach denen das Ursprungsobjekt fast nicht mehr zu erkennen ist.

Viele dieser Aneignungsprozesse laufen in unserem Alltag automatisch und unbewusst ab. So bilden Gebrauchserfahrungen, wie die Auswahl eines Kugelschreibers nach Griffigkeit oder das Testen eines Sofas auf Bequemlichkeit erste individuelle Unterscheidungskriterien, um ein Produkt aus der Masse herauszuheben. Die Vielschichtigkeit dieser Gebrauchserfahrungen steigt mit dem Erfahrungshorizont ständig an, worunter die Handhabbarkeit jedoch nicht zwangsläufig leidet. Im Bereich der Mode gehen die als alltäglich empfundenen Praktiken der Aneignung noch weiter. Durch die Auswahl und Kombination der persönlichen Kleidungsstücke wird neben dem individuellen Stil auch die Zugehörigkeit zu Konsum-, Stil und Wertegemeinschaften ausgedrückt. Zusätzlich zur Zusammenstellung |56|des Outfits erzeugt die Trageweise der Kleidung – wie etwa das Anziehen eines T-Shirts über einem Hemd – Bedeutung. Das gezielte Verändern, zum Beispiel durch das Abtrennen von Ärmeln, markiert eine weitere Form der individuellen Aneignung. Diese Form, Produkte durch Modifikationen zu einem Teil des Selbst zu machen, ist im Automobilbereich sehr häufig anzutreffen. Vor allem in der Tuning- oder Hot-Rod-Szene ist sie schon fast Selbstzweck. Denn die Fahrzeuge dienen hier häufig nur noch als Leinwand, auf der Auto-Fans ihre eigene Vision von der perfekten (meist stehenden) Fahrmaschine verwirklichen.

 

Aneignung als Prozess

Die Kulturhistoriker Jutta Boehe und Gert Selle erweitern in ihrer Untersuchung der deutschen Wohnkultur den Begriff der Aneignung auf die »ganze Beziehungsarbeit eines Lebens« (Boehe/Selle 1986: 51), also sämtliche Erfahrungen des Subjekts mit sich, den umgebenden Gegenständen sowie der engeren und weiteren sozialen Umwelt. Um den damit sehr umfassenden Begriff handhabbar zu machen, führen sie die drei folgenden Ebenen ein:

»In der gesellschaftlichen Aneignung kumuliert letztlich die Gesamtheit aller historischen Erfahrungen am Gegenstand – von den ersten menschlichen Werkzeugentwürfen bis zur hochentwickelten Industriekultur. In der sozialen Aneignung treffen die gegenständlichen Gebrauchserinnerungen und -erfahrungen aus der Sozialgeschichte mit den sozial differenzierten und sozial differenzierenden aktuellen Gebrauchsweisen zusammen. Und in der individuellen Aneignung handelt es sich um die Gesamtheit der lebenslang aufgebauten gegenständlichen Beziehungen und intimen Erfahrungen, in denen sich die Bestimmungen aus den anderen Ebenen brechen.« (ebd.: 49)

Obwohl diese Begriffsdefinition die verschiedenen Konnotationen der Aneignung beleuchtet, bleibt der aktive Teil dieses Prozesses weitgehend im Dunkeln. Schließlich ist uns im Bereich der Mode der »kreative Umgang mit Konsumwaren« (Richard 1998: 51f.) schon länger vertraut, wie Birgit Richard in einem Aufsatz über Mode als ästhetischen Komplex darlegt. Diese Praxis kann aber auch in allen anderen Bereichen der Konsumgüter gefunden werden. Auf der Website iWrap1 können beispielsweise Schutzoder |57|Schmuckhüllen für iPods und andere Gegenstände selbst gestaltet, heruntergeladen und gebastelt werden. Neben dem eigentlichen Hand anlegen ist aber auch der reflexive Umgang mit den Modifikationen sowie den damit verbundenen Erlebnissen in die alltägliche Routine übergegangen. Der Soziologe Gerhard Schulze beschreibt den Reflexions-Prozess folgendermaßen:

»Gelungene Erlebnisse sind nicht einfach gegebene Eindrücke, die man zuerst hat, um sie dann mehr oder weniger kompetent zu beschreiben; vielmehr sind Erlebnisse Konstruktionen, deren Eigenart unweigerlich durch die Beschreibung mitgeprägt wird. Gefühle sind psychophysisches Rohmaterial, aus dem sich ganz unterschiedliche Gestalten bilden lassen. Was schließlich als Erlebnis herauskommt, hängt maßgeblich von der reflexiven Aneignung der Gefühle ab.« (Schulze 2003: 224)

Der erfinderische Umgang mit alltagsästhetischem Rohmaterial und die reflexive Bedeutungszuschreibung erzeugen demzufolge Formen und Bedeutungen, die weit über die Intention des jeweiligen Produzenten hinausgehen, diese teilweise sogar in das Gegenteil umkehren (vgl. Winter 1995: 120f.). So werden Weck-Gläser, die vielen vom Einkochen von Früchten aus Großmutters Küche bekannt sind, heute als Kuchenbackform genutzt und damit zum trendigen Mitbringsel auf Partys. Subversive Techniken werden im Rahmen der Aneignung folglich sichtbar und unsichtbar, bewusst und unbewusst verfolgt. Überträgt man die Metapher des Guerilla-Kampfes auf diesen Sachverhalt, so verlaufen die Fronten in diesem Konsum-Krieg überkreuz. Denn die Produkte, ihre Verwendung und Bedeutungszuschreibung werden in einem gegenseitigen Aushandlungsprozess ständig neu aufgeladen und rezipiert.

 

Aneignung von Einrichtungsgegenständen

Aus der Einrichtung einer Wohnung kann man – analog zum persönlichen Kleidungsstil – auch viel über die Persönlichkeit eines Menschen erfahren. Interessant ist im Vergleich zur Kleidung jedoch der größere Bezugsrahmen. Denn Möbel werden aufgrund ihres höheren Preises seltener konsumiert und länger genutzt. So vermischen sich in den Wohnungen Stile, Materialien und Lebenszusammenhänge der letzten Jahre und Jahrzehnte zu einem Gesamtbild, das zusätzlich durch die Anordnung der Gegenstände geprägt wird. Beachtenswert ist auch das Spannungsfeld, das durch das |58|Übernehmen von Einrichtungsstilen der Eltern in Kombination mit eigenen Wohnideen entsteht.

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Abbildung 1: Reifensofa von des-in (1975)

(Quelle/Foto: Jochen Gros, 1975)

Die Bedeutung der perfekten, die eigene Persönlichkeit beziehungsweise das Ich-Ideal widerspiegelnden Einrichtung hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die große Menge von Einrichtungszeitschriften am Kiosk und das Aufgreifen dieser Thematik in anderen Medien bestätigen dies. Im Film Fight Club von David Fincher stellt sich der Protagonist tatsächlich die Frage, welche Esszimmergarnitur seine Persönlichkeit definiere. In American Psycho von Mary Harron erzeugt die durchgestylte, schneeweiß eingerichtete Wohnung des Patrick Bateman einen Eindruck von Virginität und Künstlichkeit und bildet damit einen ästhetischen Gegenpol zu seiner Gier nach Blut und Gewalt. Die zunehmende Popularität von Home-Stories bildet ein weiteres Beispiel. Hier fungieren die Wohnungen der Stars als Identitätsvorbilder für Konsumenten, die aufgegriffen und gesampelt werden können.

Aneignungsprozesse sind in diesem Spannungsfeld besonders interessant, denn die Bindungen zu Gegenständen und die Auswirkungen von Eingriffen erstrecken sich über einen längeren Zeitraum, überschneiden |59|oder verändern sich. Möbeldesigner greifen diese gewachsene, vielschichtige Ästhetik zunehmend auf und unterwandern damit die eigenen Leitbilder der Perfektion, um sie in neue Formen zu überführen. Erstmals kann ein solcher Bruch in der ästhetischen Evolution in den siebziger Jahren beobachtet werden: Die lange Vorherrschaft des Funktionalismus mit seiner kompromisslosen Perfektion und Kälte wurde damals in Frage gestellt.2

Alternativer Konsum durch Recycling-Design

Parallel zu den politischen Diskursen wurde in den Jahren nach 1968 auch die Gestaltung und der Umgang mit Produkten kritisch hinterfragt und bewertet. So beanstandete beispielsweise der Designtheoretiker Tomás Maldonado 1970 die »künstlich beschleunigte Alterung des Produktes durch frühzeitigen funktionalen Verschleiß oder ästhetischen Verfall angesichts neuer Formen am Markt« (Selle 1987: 274). Der Philosoph Wolfgang Fritz Haug ging in seinem Buch Kritik der Warenästhetik von 1971 noch weiter, indem er ausgehend von der kritischen Theorie die Manipulation der Massen untersuchte. Neben diesen konsumkritischen Überlegungen rückten aber auch erste ökologische Fragestellungen in den Blickpunkt sowie die Forderung nach einer emotionaleren Produktästhetik. Aus Protest gegen den in Institutionen nach wie vor vorherrschenden Funktionalismus schlossen sich vielfach Privatinitiativen zusammen, um losgelöst von Paradigmen an eigenen gestalterischen Antworten zu arbeiten.

Aufgrund ihres theoretisch fundierten Ansatzes, »weniger Konsum durch mehr Sinnlichkeit« (IDZ 1974: 58) hervorzurufen, ist hier vor allem die Des-In-Gruppe um Jochen Gros zu nennen. Diese Designinitiative wurde anlässlich eines Wettbewerbsbeitrages für das Internationale Design Zentrum Berlin (IDZ) gegründet. Sie widmete sich der »Wiederverwertung gebrauchter Materialien und setzte sich für selbstbestimmte Lebens- und Arbeitsformen ein« (Eisele 2005: 119). Des-In stellte in einer Produktionskommune aus Abfallprodukten wie beispielsweise Siebdruckplatten neue, |60|selbst gestaltete Waren her und verkaufte diese direkt ab Werk oder auf Flohmärkten. Es entstanden beispielsweise ein Sofa aus alten Autoreifen (Abbildung 1) oder Kastenmöbel aus Teekisten, bei denen die Suche nach geeigneten Rohstoffen, die Zusammenstellung verschiedener Abfallprodukte und die handwerkliche Zusammenfügung eine besonders enge Beziehung zum Produkt – und somit einen hohen Grad der Aneignung darstellten. Außerdem wurde damit das Ziel der Langlebigkeit verfolgt.

Die gestalterische Auswahl der einzelnen Materialstücke und das Aufbringen von Textelementen wie die Wortmarke Des-In oder Maßangaben auf Verbindungsknoten waren weitere Maßnahmen, um einen emotionalen Bezug zu den Produkten herstellen. Des-In nutzte die Strategie der Umdeutung, wie sie von Roland Barthes mit dem Satz »Ist die beste Subversion nicht die, Codes zu entstellen, statt sie zu zerstören?« (Barthes 1974: 141) beschrieben wird, auf drei Ebenen. Die Verwendung von industriellen Abfall-Materialien zur Herstellung neuer Einrichtungsgegenstände stellte Konsumgewohnheiten auf den Kopf. Ebenso die Ablehnung einer rein industriellen Produktion. Die Rückbesinnung auf eine handwerkliche Produktion in kleinen Einheiten bot für sie darüber hinaus das Potenzial, »auch gewisse Gewinneinbußen gegen Selbstbestimmung und Spaß am Arbeitsplatz aufzurechnen« (IDZ 1974: 75).

Subversive Konsum-Angebote durch Memphis

Auch in Italien rebellierten Mitte der sechziger Jahre junge Architekten und Gestalter gegen den Mainstream der Moderne, den Konsum sowie die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen. Unter dem Titel Radical-Design oder auch Anti-Design wurden antikommerzielle Entwürfe in Form von Zeichnungen, Fotomontagen, Konzepten und Utopien erstellt, denn die Gestaltung realer Produkte war für die Designer nicht mehr vorstellbar. 1979 folgte der Zusammenschluss von Entwerfern zum Studio Alchimia. Obwohl die Gruppe aus dem Radical-Design hervorging, verzichtete sie auf politische Stellungnahmen. Vielmehr stellte sie die Paradigmen der Moderne auf formalem Wege, durch subversive Techniken wie das Banal-Design3 oder das Re-Design 4in Frage. Nicht Massenprodukte, sondern »witzig |61|fantastische, poetische und ironisch handwerklich gefertigte Unikate« (Schneider 2005: 155) wurden angestrebt.

Der italienische Designer Ettore Sottsass verließ aufgrund inhaltlicher Differenzen Studio Alchimia 1981 und gründete mit anderen Designern die Gruppe Memphis. Diese Gruppe lehnte den intellektuellen und kunsthandwerklichen Ansatz von Studio Alchimia ab: Sie bekannte sich zu industrieller Produktion, zu Werbung und Vertrieb der entworfenen Produkte. Im damaligen kulturellen Kontext ist diese Entscheidung revolutionär und subversiv zugleich, denn sie unterwandert die funktionalistisch geprägte Industrie mit ihren eigenen Techniken. Auch hier stand – im Gegensatz zur Moderne – eine Emotionalisierung der Produkte und damit gefühlsmäßige Aneignung im Vordergrund. Sie wurde durch figürliche Formen, grelle Farben und vielfältige, collagehafte Oberflächen erzeugt. Vor allem das minderwertige, aus den fünfziger Jahren bekannte Laminat wurde aufgegriffen und Bestandteil eines neuen, expressiven Möbeldesigns. Die Dekore erinnerten in ihren grellen Farben und Strukturen an Comics und Kitsch, nutzten aber auch die inhaltliche Ebene, um die perfekte und damit kühle Moderne in Frage zu stellen. Das wohl bekannteste Dekor Bacterio von Ettore Sottsass greift das Spannungsfeld zwischen Schmutz und übertriebener Hygiene in der Industriegesellschaft auf, indem es eine mikroskopierte Bakterienstuktur aufnimmt und diese als stilisiertes Schmutz-Dekor wieder auf Tische, Stühle und Regale aufbringt (vgl. Fischer 1984: 32). Der Beistelltisch tony no. 3 von Ettore Sottsass (Abbildung 2) zeigt das Dekor Bacterio sowie das für Memphis charakteristische Design, das meist Grundkörper nutzt und durch verschiedene Aufteilungen der Oberflächen Farben und Strukturen collagenhaft miteinander verbindet.

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Abbildung 2: tony no. 3 von Ettore Sottsass Jr. (1973)

(Quelle: Anthologie Quartett/Foto: Kai Georg, 2001)

Instant-Collagen durch Sampling-Design

Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts kann von einer »Weltproduktkultur« (Selle 2007: 295) gesprochen werden, die ihrerseits vom Überfluss geprägt ist. Denn die Digitalisierung von Produktion, Produkten und Medien hat zu immer kürzeren Produktzyklen geführt und damit die Zahl der verfügbaren Produkte explodieren lassen. Die internationale Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Kultur hat darüber hinaus ein globalisiertes Design hervorgebracht: Die weltweit gleichen Produkte internationaler Konzerne ignorieren und verdrängen kulturelle Eigenarten. Dadurch verschwinden auch regional gewachsene Leitbilder und traditionelle Orientierungsmuster: Die funktionale Arbeitseffizienz eines Bankangestellten unter der Woche stellt keinen Widerspruch mehr zur kollektiven Ekstase auf Techno-Raves in der Freizeit dar (vgl. Böhme 2006: 22). Auch der Besuch eines Sinfoniekonzertes ist heute mit der Vorliebe für populäre elektronische Musik vereinbar – die Distinktion als eines der Leitmotive der Konsummilieus Mitte der achtziger Jahre ist obsolet geworden (vgl. Schulze 2001: 580).

|63|Der heutige Konsument zeichnet sich nach Ansicht des Soziologen Gerhard Schulze durch seine Selektionskompetenz aus und kann darum als »abwechslungsorientierter Kulturkompositeur«, als »wählender in einer Menüwelt« beschrieben werden (ebd.: 579). Zusätzlich zu dieser sehr differenzierten Auswahlfertigkeit hat sich eine Freude an der Kombination ausgebildet. Die eingangs am Beispiel der Mode beschriebe Methode, Elemente aus verschiedenen Bereichen zusammenzufügen, wird in der Popkultur auch sampling genannt. Bei ihr wird »Identität durch die Modellierung von Abweichungen und Differenzen konstituiert« (Gaugele 2005: 223f.), die feinen Unterschiede aus einem breiten Netz von Bedeutungen moduliert, wie Elke Gaugele in einem Aufsatz zum Thema Individualität und Uniformität darstellt. Auch bei Schulze wird die ästhetische Wirkung eines Produktes anhand seiner Beziehung zur Gesamtcollage der Umwelt einer Person abgeleitet. Die Integration in unterschiedliche Lebenskontexte löst das Produkt dabei aus seiner »massenhaften Vorgestanztheit« (Schulze 1997: 120) heraus. Ein Beispiel macht dies deutlich: Ob die von Michele de Lucchi entworfene Schreibtischleuchte Tolomeo in einem modernen Ambiente oder einem Umfeld aus Stilmöbeln steht, verleiht der Gesamtsituation eine Aussage, die im Einzelstück nicht abzulesen ist. Erst die Komposition des Konsumenten erzeugt mit ihrer Vielzahl an Bezügen und Geschichten die letztendliche Bedeutung. Diese sehr komplexe Ästhetik wird heute von Möbeldesignern aufgenommen und in neue Produkte überführt. Die Spanierin Patricia Urquiola aus Mailand setzt bei Ihrem Polstermöbelprogramm Shanghai Tip für Moroso aus dem Jahr 2006 (Abbildung 3) unterschiedliche Stoffqualitäten und Muster ein, kombiniert diese mit Beistelltischen in verschiedenen Lackfarben und Laminaten-Dekoren. Es entsteht eine Komposition mit vielfältigen Stilbezügen, die die persönliche Zusammenstellung als ästhetisches Endprodukt feiert und durch die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten zur Addition von weiteren Elementen einlädt.

Self-Made-Ästhetik durch improvisiertes Design

Nutzt man – wie die Designerin Patricia Urquiola im Vorwort der International Design Yearbook 2007 – die Analogie des iPods zur Beschreibung der Produktwelt, so ist der im vorangegangenen Kapitel beschriebene Aneignungsprozess mit der Zusammenstellung einer playlist zu vergleichen, bei |64|der man aus einem vorgegebenen Fundus bewusst eine Folge bestimmter Titel von verschiedenen Interpreten auswählt (vgl. Urquiola 2007: 6). Eine andere Art, Titel aus dem eigenen Musikarchiv zu hören, besteht in der Random-Funktion, also der Zufalls-Wiedergabe. Diese basiert ebenfalls auf der eigenen Grundauswahl von Titeln auf dem iPod, fügt dieser Grundauswahl jedoch noch etwas Spontanes, Unvorhergesehenes hinzu.

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Abbildung 3: Shanghai Tip von Patricia Urquiola (2006)

(Quelle: Moroso/Foto: Alessandro Paderni – Eye srl, 2006)

Der Aneignungsprozess des Improvisierens nutzt die zufällige Kombination von Vorhandenem, teilweise auch Unpassendem als Anstoß für einen kreativen Prozess. In diesem Vorgang werden lineare Kausalbeziehungen zugunsten einer höheren Komplexität von Situationszusammenhängen aufgelöst (vgl. Dell 2002: 16). Das Besondere dieser Form der Aneignung besteht einerseits im Zusammenhang zwischen eigener Kreativität und dem Produkt, sowie der dadurch entstehenden höheren persönlichen Verbindung, andererseits in der Offenheit des entstandenen Ganzen: Es ist nie abgeschlossen, fordert ständig zur Optimierung oder dem Hinzufügen weiterer Elemente auf. Auch auf der ästhetischen Ebene zeichnen sich improvisierte Produkte durch unterschiedliche Stilelemente und Brüche, vielfältige Bezüge sowie eine unperfekte, rohe Erscheinung aus. Dieser Bedeutungsreichtum wird auch an andere Rezipienten weitergegeben, da unterschiedliche Sichtweisen und Anknüpfungspunkte mit den gegebenen Anschlussmöglichkeiten verbunden werden können. Diese Aneignungsstrategie provoziert somit den bewussten Bruch mit der vorgegebenen perfekten, wie Selle sagt, totalästhetisierten Produktkultur (vgl. Selle 2007: 338) unseres Alltags.

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Abbildung 4: Blossom von Hella Jongerius (2006)

(Quelle: Belux, Foto: Felix Wey, 2007)

Die Produkte der holländischen Designerin Hella Jongerius spiegeln diesen Ansatz mustergültig wider, denn sie brechen die Perfektion auf, zeigen die Suche nach neuen Materialbezügen sowie eine Verbindung von Handwerkskunst, neuen Materialien und Fertigungstechniken. Ebenso ist ein gewisses Maß an Zufälligkeit Teil des ästhetischen Reizes. Dies ist etwa an der Vasenserie Prince und Princess aus dem Jahr 2000 zu sehen, bei der dekorative Motive wie Blumen oder Drachen als Lochmuster in eine weißer Porzellanform eingebracht wurden. Diese traditionelle Technik der Unterglasur-Dekore5 wurde in ein zeitgenössisches Design überführt, indem die Löcher mit blau beziehungsweise rot eingefärbtem Silikon gefüllt wurden. Die ungleichmäßige, verschmierte Silikonfüllung macht den improvisiert wirkenden Reiz dieser Serie aus. Ein anderes Produkt ist die Leuchtenserie Blossom des Herstellers Belux von 2006 (Abbildung 4). Hier wurden Leuchtenschirme in unterschiedlichen Formen und Materialien kombiniert und an ein |66|roh wirkendes Rohr montiert. Die teils technisch, teils dekorativ wirkenden Details erwecken ebenso den Eindruck einer selbst gebauten Leuchte wie die außenliegende, undefinierte Kabelführung. Die Ästhetik der Improvisation ist hier in der Perfektion eines industriellen Serienproduktes angekommen und unterläuft die subversive Brechung des sterilen Konsumgutes durch kommerzielle Verwertung.

Individualisierte Serienprodukte?

Die vorgenannten Beispiele haben gezeigt, wie Verbraucher und in Folge auch Gestalter auf vorherrschende Stile und einheitliche Leitbilder reagieren. Denn die Reduktion von ästhetischer Vielfalt widerspricht dem Wunsch, sich originell und einzigartig darzustellen, ständig neue Erfahrungen zu machen und neue Eindrücke zu gewinnen. Auf die Nüchternheit und Kälte einer funktionalistischen Umwelt wurde in den sechziger Jahren nach kurzen Phasen des Entwurfs- beziehungsweise Konsumverzichts mit subversiven, stark abändernden Aneignungsstrategien reagiert. Das globale Design und die damit verbundene stilistische Einheitlichkeit aktueller Produkte haben zu weiteren Strategien mit dem Ziel einer »Entmassung« (Jenß 2005: 204) der Serienprodukte geführt. Das Sampeln verschiedenster Stilrichtungen zu einem neuen Gesamtbild oder der improvisierende Umgang mit Industrieprodukten zeigen den hohen Grad der Ausdifferenzierung unserer Konsumkultur. Wie stark Konsumverhalten und Produktgestaltung aneinander gekoppelt sind, ist vor allem an der Entwicklung zu einer collagenhaften Ästhetik zu sehen. Sie ist von der Kontingenz der Alltagshandlungen hochgradig geprägt und bietet für den Gestalter die Möglichkeit einer stilistischen Vielfalt.

Zwei weitere Produktstrategien bauen ebenfalls auf Aneignungsprozesse auf. Beispielsweise entwickeln Porzellanmanufakturen gemeinsam mit Designern aufwendige Serien von Porzellanfiguren, Vasen und Serviceteilen. Die entstandenen Produkte zeichnen sich durch ein hohes Maß an Handwerkskunst und ein lustvolles Spiel mit Symbolen und traditionellen Bezügen aus.6 Durch die handwerkliche Fertigung entstehen einzigartige, individuelle Produkte mit künstlerischem Ausdruck – die schon aus der Masse herausgehoben |67|wurden und die Aneignung damit quasi konsumierbar machen. Darüber hinaus lassen diese Einzelstücke auch nur wenig Raum für eigene Modifikationen. Der kontingente Umgang, mit dem die eigene Zugehörigkeit ausgelotet wird, die persönliche Bedeutungszuschreibung und Sinnstiftung erfolgt, kann hier nicht mehr stattfinden. Eine zweite Variante besteht darin, den kreativen Prozess komplett auf den Konsumenten zu übertragen. Verschiedene Versuche im Bereich des mass customization, wie etwa die kundenindividuelle Fertigung von Turnschuhen und Jeanshosen oder die Maßanfertigung von selbst gestaltbaren Möbeln haben gezeigt, dass Optionenvielfalt und Einzelanfertigung noch lange nicht zu einem eigenen Produkt führen. Schließlich sind die Suche, die Auswahl und das Finden des Produktes die erste Voraussetzung, um eine Beziehung zum Konsumgut aufzubauen und einzigartige Erlebnisse mit dem Kauf zu verbinden. Das Ziel der Produktgestaltung sollte darum vielmehr darin liegen, Inspirationen und Anregungen aus Konsumbeobachtungen aufzunehmen und diese in neue Entwürfe zu überführen, die sich durch ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Originalität auszeichnen. Dadurch könnten neue Sichtweisen den Konsum und den Prozess der Aneignung irritieren und stimulieren, anstatt persönliche Aneignung passiv konsumierbar zu machen.

Literatur

Barthes, Roland (1974), Sade, Fourier, Loyola, Frankfurt/M.

Boehe, Jutta/Selle, Gert (1986), Leben mit den schönen Dingen: Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Reinbek bei Hamburg.

Böhme, Hartmut (2006), Fetischismus und Kultur – Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg.

Dell, Christopher (2002), Prinzip Improvisation, Köln.

Eisele, Petra (2005), BRDesign: deutsches Design als Experiment seit den 1960er Jahren, Köln u.a.

Fischer, Volker/Hochschule für Gestaltung Offenbach (Hg.) (1984), »Der Fall ›Memphis‹ oder die Neo-Moderne: Offenbacher Gespräch am 25. und 26. Januar«, Offenbach/M.

Gaugele, Elke (2005), »Style-Post-Pro-Duktionen – Paradoxien des Samplings«, in: Birgit Richard/Gabriele Mentges, Schönheit der Uniformität – Körper, Kleidung, Medien, Frankfurt/M./New York.

Internationales Design-Zentrum Berlin e.V. (Hg.) (1974), Produkt und Umwelt: Ergebnisse einer Ausschreibung, Berlin.

|68|Jenß, Heike (2005), »Customize Me! Anmerkungen zur Massenindividualisierung in der Mode«, in: Birgit Richard/Gabriele Mentges, Schönheit der Uniformität – Körper, Kleidung, Medien, Frankfurt/M./New York.

Richard, Birgit (1998), »Die oberflächlichen Hüllen des Selbst – Mode als ästhetisch medialer Komplex«, in: Kunstforum International, Bd. 141, Juli–September.

Schneider, Beat (2005), Design – eine Einführung. Entwurf im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext, Basel u.a.

Schulze, Gerhard (1997), Die Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M./New York.

— (2001), »Inszenierte Individualität – Ein modernes Theater«, in: Richard van Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich – Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u.a.

(2003), Die beste aller Welten: wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?, München/Wien.

Selle, Gert (1987), Design-Geschichte in Deutschland – Produktkultur als Entwurf und Erfahrung, Köln.

(2007), Geschichte des Design in Deutschland, Frankfurt/M./New York.

Urquiola, Patricia/Hudson, Jennifer (Hg.) (2007), The International Design Yearbook 2007, London.

Winter, Rainer (1995), Der produktive Zuschauer – Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß, Berlin/München.

 
1

Vgl. http://www.iwrap.de, 15.02.2007.

2

Auch die gestalterische Avantgarde des Bauhauses entwickelte industrielle, kühl wirkende Produkte wie beispielsweise Stahlrohrmöbel. Die Produkte wurden damals jedoch nur von einem kleinen Nutzerkreis gekauft und genutzt. Aufgrund der fehlenden Verbreitung und der politischen Situation in den dreißiger Jahren kam es darum zu keinen durch den Konsum angeregten Gegenbewegungen.

3

Das Banal-Design nutzte grelle Farben und witzige Verzierungen, um banale Gegenstände aus der Massenproduktion herauszuheben und symbolisch aufzuladen.

4

Das Re-Design verfolgt demgegenüber das Ziel, auf humorvolle Weise zu zeigen, dass angesichts der Tradition innovatives Design nicht mehr möglich sei. Die Überheblichkeit der Moderne sollte in Frage gestellt werden, indem die funktionalistische Ästhetik bei Möbelklassikern wie dem Wassily-Chair durch das Hinzufügen von Ornamenten gebrochen wurde. Beide Strategien wurden von Alessandro Mendini, dem Kopf des Studio Alchimia entwickelt und theoretisch hergeleitet.

5

Vgl. http://www.jongeriuslab.com, 19.02.2008.

6

Vgl. z.B. http://www.areaware.com; http://www.royaltichelaar.com; http://www.nymphen burg.com, 08.03.2008.