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|271|Guerilla in Hochkultur: Für eine Typologie des elitären Konsums

Jörg van der Horst und Christoph Jacke

Vorspiel: Konsum des Spektakels vs. Spektakel des Konsums

Man könnte es sich einfach machen. Man könnte in den Kanon der vorherrschenden und mit Vorliebe gepflegten Vorurteile einstimmen. Man könnte sagen: Bayreuth ist das deutsche Adäquat zu Huntington Beach, der kalifornischen Kleinstadt, die sich 1999 mit Haut und Haaren an die Coca-Cola Company verkauft hat. Fortan durfte das Unternehmen für die Dauer von zehn Jahren vom exklusiven Recht Gebrauch machen, sein Logo an und in öffentlichen Gebäuden zu platzieren, Getränkeautomaten am Strand und in Parks genauso aufzustellen wie in der Polizei-, Feuerwehr und Post-Station. Seinen alljährlichen Höhepunkt erlebt das Surferparadies seitdem in Gestalt einer mehrwöchigen, groß angelegten Sommerparty, die ihrerseits und buchstäblich ganz im Zeichen des Softdrinkgiganten steht. Die Parallele liegt auf der Hand, unter dem Strand, auf dem Pflaster. Keine andere deutsche Stadt ergibt sich derart devot in ihr Produkt wie Bayreuth, die oberfränkische Opernmetropole. Nicht nur entlang der Bahnhofsstraße, die über Nibelungenstraße und Siegfried-Wagner-Allee auf direktem Weg zum Festspielhaus führt, reihen sich Apotheken, Reisebüros und Fingernagelstudios aneinander, die entweder Parsifal, Lohengrin oder – wie im Fall einer Partnerschaftsvermittlung – Tristan und Isolde heißen; Markentreue bis in den Liebestod. Dieser Hype entstammt nicht den Gründungsjahren der Richard-Wagner-Festspiele, die von geringem Zuschauerinteresse und daraus folgenden finanziellen Schwierigkeiten geprägt waren, sondern aus der Zeit des sogenannten Neu-Bayreuths, das sich seit Anfang der fünfziger Jahre, also mit Beginn der Wirtschaftswunderzeit, zu einem hochkulturellen und hochgesellschaftlichen Event entwickelt hat. Seinen alljährlichen Höhepunkt erlebt das Sangesparadies bis heute in Gestalt einer mehrwöchigen, groß angelegten Sommerparty, die ihrerseits und buchstäblich ganz im Zeichen des Gesamtkunstgiganten steht. Ob nun Bayreuth in Oberfranken |272|oder Huntington Beach, California – it ś always the real thing. Beide Phänomene ließen sich mit der Jean Baudrillard eigenen »Agonie« (Baudrillard 1978) und einigen Zitaten zur Simulation binnen weniger Sätze unter dem Postmoderne-Etikett elegant dekonstruieren (vgl. ebd.: 24–26). Doch so einfach ist es eben nicht. Also können wir es uns auch nicht so einfach machen.

Bayreuth, Wagner und Wagnerianer, die hier zum Ausgangspunkt einiger basaler Gedanken zu einer Typologie des Konsums von Kultur1 werden sollen, haben eine ganz eigene Form des Situationismus entfaltet. Ende der fünfziger Jahre vor allem von Guy Debord beschrieben, erfuhr diese zur Lebenshaltung ausgerufene Bewegung während der Pariser Unruhen im Mai 1968 ihren zweiten Frühling. Der westliche Bürger, so eine ihrer Kernforderungen, solle sich endlich seiner Rolle als Konsument bewusst werden, mehr noch solle er aus der Passivität des Verbrauchers heraustreten, sich aktiv und um der Bewusstwerdung seines existenziellen Faktors Willen in gesellschaftliche Gestaltungsprozesse einmischen. Das entspricht dem Bayreuth der Wagnerianer und Opernfetischisten. Was wir hier beschreiben, ist also nicht die »Gesellschaft des Spektakels« (Debord 1996). Was wir beschreiben, ist gerade der Versuch, sich gegen diese zur Wehr zu setzen – mit zum Teil spektakulären Mitteln, oder mit Debord: »Das Spektakel vereinigt das Getrennte, aber nur als Getrenntes.« (1996: 26) Unser vorläufiges Ziel soll es sein, den wenn auch noch jungen, so doch politisch wie ästhetisch schon wieder etikettierten Begriff der Konsumguerilla vorab zu entmystifizieren, damit ihm nicht die gleiche Verklärung zum Mythos widerfährt wie diversen Guerillas zuvor. Diese Entmystifizierung geschieht am Beispiel des einschlägigen Bayreuther Publikums, vor allem den Wagnerianern|273|.2 Der Guerillabegriff soll auf jene angewendet werden, die sich als werk- und werttreu, als politisch wie künstlerisch traditionell bis konservativ verstanden wissen wollen. Guerillatum ist kein Vorrecht derer, die ein wie auch immer geartetes System stören wollen (als historisch-theoretisierenden Überblick zu Guerilla und Gesellschaft vgl. Kastner 2007 und Kleiner 2006: 361–393). Guerillatum ist genauso auf Seiten derer zu finden, die das System stabilisieren, die die vermeintlichen Systemstörer stören wollen; dies umso mehr dort, wo es um ungestörten Konsum geht.

Subversiver Applaus als Kommunikationsstrategie

Auf eigenartige Weise erscheint es naheliegend, Bayreuth und die Festspiele als ein Mekka derer darzustellen, die dem vorliegenden Band seinen Titel geben. Es geht also gewissermaßen um eine Abweichung von der erwartbaren und systematischen Nutzung des Guerillabegriffs. Eingangs ist es nötig, den Begriff der Konsumguerilla in dem Sinn zu erklären, in dem er hier gebraucht sein soll. Allem voran bedeutet dies, den generell gültigen Begriff der Guerilla zu entkräften und neu aufzuladen, ihn schlichtweg in sein Gegenteil zu verkehren. Eine Form der Affirmation, wie sie den Guerillas, wie wir sie kennen, ja sehr ähnelt. Eine Affirmation der Affirmation, weshalb auch wir uns zugunsten unseres Spagats Alain Badiou (2007: 39) auf die Fahnen schreiben und »daran festhalten, dass eine kleine Affirmation mehr wert ist als eine große Negation«. Mit dieser Verkehrung einher geht eine entschiedene Entpolitisierung, auch Entästhetisierung des Begriffs. Er soll jedoch nicht zurechtgelegt, sondern an seiner Wurzel gepackt und in seiner bisherigen Verwendung infrage gestellt werden. Dann erst ist |274|die Konsumguerilla tatsächlich in Bayreuth angekommen, in der vermeintlichen Hochkultur, dort, wo sie keiner erwartet hat.3 Dies geschieht in drei Schritten: Erstens, indem wir die Missverständnisse benennen, aus denen sich die in der Achtundsechzigerbewegung begründeten Kommunikations und Marketingguerilleros speisen. Zweitens, indem wir aus der Richtigstellung heraus Parallelen zu jenen Gegenöffentlichkeiten ziehen, wie sie sich heute in Bayreuth, Berlin, München, Salzburg und diversen Hoch(kultur) burgen tummeln, und drittens anhand einer, wenn auch zunächst nur groben Typologisierung dieser konservativen Guerilla in drei Ordnungen. Dass deren Vertreter in ihrer eigens auferlegten Funktion als kritische Rezipienten und Genießer, sprich Konsumenten, alles andere als im Untergrund tätig sind, sollte sich dabei von selbst verstehen, erst recht, wenn wir bedenken, wie sehr die kulturellen Großereignisse insbesondere im Zuge ihrer massenmedialen Vermarktung im öffentlichen Fokus stehen.4 Der Auftritt der Konsumguerilla, um die es hier geht, zeichnet sich aber gerade |275|dadurch aus, dass er an Subversion kaum noch zu überbieten ist, will er doch den mutmaßlich subversiven Elementen – Regietheaterregisseuren, Bilderstürmern und -zertrümmerern, »Theaterhassern und Dreckverehrern« (Stadelmaier 2004: 30) – entweder an den Kragen oder sie sich durch die Beförderung zum Star gefügig machen.5 Er verfolgt ein restauratives Ziel namens Tradition, die Wahrung von Anstand und Sitte nach den Regeln der Kunst, wie sie ungeschrieben stehen. Mit anderen Worten: Diese Konsumguerilla ist reaktionär. In ihrer Exklusivität will sie vor allem eines gewahrt sehen – den Mainstream um sich von ihm abzugrenzen – und um sich innerhalb der Abgrenzung einer in ihrer ganzen Heterogenität ausgesprochen homogenen Populärkultur anzuschließen. Sie wollen alles. Die Guerillamethode, von der hier die Rede ist, ist die Beifalls- oder Unmutsbekundung. So unerheblich sie beim ersten Lesen erscheinen mögen, so sind es doch stabilisierende beziehungsweise destabilisierende Codes. Urteilssprüche mit mitunter weitreichenden Folgen. Zur wichtigsten Premierenmeldung der Opern-, Konzert- und Theaterkritik gehört regelmäßig auch die Information darüber, in welcher Lautstärke oder wie lang anhaltend applaudiert oder gebuht wurde. Diese Pressemeldung ist die Nachricht von der Existenz unserer Konsumguerilla, der Guerilla neuer Ordnung.6

Muff ’68: Quellen von Kommunikation und Marketing

Die Guerilla alter Ordnung geriert sich als praktiziertes Missionartum, das gegen das klassische Establishment in den Kleinkrieg zieht, egal ob es sich in Politik, Wirtschaft, Werbung, Kunst oder Pop manifestiert. Als gleichbleibende Taktik wählt sie die Subversion. Peter Weibel formuliert dies |276|nostalgisierend und mit den ebenfalls älter gewordenen Rolling Stones: »Ungenügend ist diesen Hungrigen die vorgesetzte Suppe: I can get no satisfaction! Die alltägliche Suppe schmeckt nicht mehr. Als Piraten der gesellschaftlichen Codes durchbrechen sie diese, nachdem sie sie durchschaut haben.« (2002: 9) Die alte Guerilla schlüpft nicht selten in die Rolle des ausgemachten Gegners und gibt sich im Anschluss an ihr Outing als politisch und/ oder neo-ästhetisch motiviert. Davon zeugen Selbstbezeichnungen wie Clowns Army, Radical Cheerleaders oder Mao-Dadaisten, ebenso die am Fließband gelieferten Rückgriffe auf Roland Barthes (2000), Umberto Eco (1967) und, seit den achtziger Jahren, Jay Conrad Levinson (1990). Die alten Kommandos, so neu sie hinsichtlich der Nutzbarmachung moderner Medien auch sind (Electrohippies, Electronic Disturbance Theater u.a.), pflegen ihre Anarchie gegen die als perfide, und in ihrer Perfidie als gleichschaltend und vereinnahmend wahrgenommenen Strategien der Veralltäglichung des Konsums. Doch die linken Politiken, die die Guerilleros vertreten, erschöpfen sich permanent in purem Aktionismus, während Trendforschung, Konsumindustrie und Medien längst das subversive Element für sich (wieder) entdeckt haben.7 Anlässlich der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Sommer 2007 mussten sich die Altvorderen des Widerstands zuletzt den Vorwurf gefallen lassen, in ihrer Kritik an einer maßlos globalisierenden Welt ihrerseits zu einer Spaßgesellschaft mutiert zu sein und dabei selbst kommerzialisiert wird: »Heute sind die Intensitäten der Überschreitung, des Anstößigen und anderer Normverletzungen entscheidende Faktoren einer kapitalistischen Ökonomie der Affekte und Aufmerksamkeiten. Man findet den Zugang zu ihnen auf den Märkten des Ereignisses.« (Holert 2007: 169) So ist auch die soziokulturelle Relevanz der stereotypen Achtundsechziger, die der Historiker Götz Aly unlängst mit Blick auf ihre Elterngeneration stark relativiert hat, auch angesichts der Guerilla alter Ordnung in Zweifel zu ziehen oder zumindest abzuschwächen: »Chinesisch, kubanisch, sowjetisch oder trotzkistisch verfremdet veranstalteten sie nach den in Deutschland gebräuchlichen Regievorlagen eine Farce, die der Tragödie von 1933 folgte. Sie inszenierten eine Variante des politisch eindimensionalen Utopismus, auf dessen Trümmern sie groß geworden |277|waren.« (Aly 2008a: 20)8 Viele ihrer revolutionär oder lediglich situationistisch eingeforderten Freiheiten endeten in den Führungsetagen des verteufelten Klassenfeindes und auf gut gepolsterten Lehrstühlen, also in bürgerlicher Sicherheit. Heute kompensieren sie ihre Weltverbesserungsansprüche in Menschlichkeit reklamierenden Firmenphilosophien, also ihrerseits in Slogans, oder in After-Work-Diskursen beim Italiener, gleichzeitig hat sich unter den Talaren der dozierenden Revoluzzer selbst schon der Muff angestaut.

Kommune Bayreuth oder: Die Guerilla der Hochkultur

Was vom Begriff übrig bleibt und eine Weiterverwendung rechtfertigt, sind die Symmetrien in den Mitteln der alten Guerilla und der Guerilla neuer Ordnung, die eine Konsum-, oder synonym, eine Kulturguerilla ist. Beiden gemein sind die Prinzipien der Verfremdung und der Überidentifizierung. Die Verfremdung verfolgt die subtile Wandlung eines wie auch immer gearteten Produkts nach eigenen Maßstäben, kommt im Rahmen unserer Konsumguerilla demnach dem Buh gleich. Die Überidentifizierung suggeriert zumindest eine Bejahung, vor deren Hintergrund man sich das Produkt zu eigen macht, in unserem Rahmen der Applaus, das Bravo. Wenden wir die von Aly benannte Regie beispielsweise auf Bayreuth an, dann folgt sie einem standardisierten Ablauf. Spätestens, wenn die Inszenierung auf der Bühne endet, inszeniert sich das Publikum davor in seiner Reaktion. Ist auch die Zeit der Claqueure vorbei, die gegen Bezahlung durch Lobbyisten das Auditorium in seiner Begeisterung oder Empörung nach Belieben manipulierten|278|, manipuliert ein Gros des Publikums heute zum Selbstzweck.9 Es ist seine eigene Lobby – und auch darin den alten Guerillas verwandt. Das Bayreuther Bravo und das Buh sind arrangiert, nicht nur jedes für sich, sondern gerade im Gegeneinander, im Kräftemessen, im Wechselspiel. Denn nichts anderes ist es, als ein Spiel für und wider das (Bühnen-)Spiel, eine inszenierte Improvisation, eine Lob-und-Tadel-Rochade, Apotheose und Exekution.10 Ihr Ziel ist nicht die Irritation, ihr Ziel ist die Schaffung klarer Verhältnisse. Für beide Parteien gilt, dass sich ihre Vertreter nicht als Anhängsel der künstlerischen Darbietung begreifen, sondern durchaus als Prosumer, als Kulturkundschaft, die Mitproduzent sein will, der mit seinen Mitteln Einfluss auf das Produkt und seine öffentliche Wahrnehmung nimmt. Es ist ihr Schritt aus dem dunklen Raum an die Öffentlichkeit, die Oberfläche. Ihr eigentliches Ziel ist der Konsens auf Basis der eigenen, als mehrheitsfähig angesehenen Anschauung. Mit dieser demonstrativen Autonomie geht nicht selten ein verhohlener Dogmatismus einher. Auch darin sind sich das auf Holzsitzen aneinander gereihte Bayreuthpublikum und – prototypisch – die an der Wand lang aufgereihten Mitglieder der »Kommune 1« ähnlicher, als man meinen mag.

Im Strudel aller Klarheiten und Definitionen, die uns noch einen Bruchteil an Orientierung und Verständnis bewahren sollen, haben genau solch eindeutige Begrifflichkeiten längst die Seiten gewechselt. Diejenigen jedoch, die sich nun des alten Guerillabegriffs beraubt sehen, können unbesorgt sein, wenn auch um den Preis der Übersichtlichkeit. Denn diejenigen wiederum, die hier als Guerilla bezeichnet werden, begreifen sich umso weniger als eben solche, als sie ja gerade ihre erklärten, ausgebuhten und bisweilen körperlich angegangenen Gegner als culture jammer oder adbuster verstehen, die sich kulturelle Programme aneignen und Kultur an sich bewusst verfremden, verunglimpfen – und physisch attackieren.

|279|Zwischenspiel: Chéreau und Schlingensief zwischen Bayreuth, Buh und Bravo

Von körperlichen Übergriffen in Bayreuth berichten kann sowohl der Regisseur des Parsifal der Jahre 2004 bis 2007, Christoph Schlingensief, als auch Patrice Chéreau, der 1976 den Ring des Nibelungen inszenierte. Für das angestammte, zu großen Teilen aus bewährten Wagnerianern bestehende Publikum ist die Premiere ein einziges Schockerlebnis. Auch im Verlauf der Folgeaufführungen ereignen sich noch im Festspielhaus Protestaktionen und Trillerpfeifenkonzerte, Flugblätter werden geschmissen, spätestens in den Pausen kommt es zu Schlägereien. Es werden Unterschriftenlisten gegen die Inszenierung ausgelegt. Wagnerianer gründen eine Bürgerinitiative, die mit Nachdruck gegen Chéreaus Interpretation interveniert und »Werkschutz für Wotan« fordert.

»Letzte Woche wurde der Bayreuther Wagner-Tempel tatsächlich zum Tollhaus, die Festspielgemeinde zum grölenden Mob. Schrill wie nie zuvor geiferten auf dem Grünen Hügel alte Kameraden und junge Pilger, Deutsche, Amerikaner und Franzosen unisono gegen Bayreuths Jubiläumsausgabe: eine Neuinszenierung des ›Ring des Nibelungen‹, für dessen Uraufführung Richard Wagner seine Gralsburg vor 100 Jahren gebaut hatte. Schon nach dem ›Rheingold‹, dem ›Vorabend‹ zum Götter- und Germanenkoloss, gellte ein hundertfacher Wutschrei der Altwagnerianer durch ihr Heiligtum. Nach der ›Walküre‹ verstärkten Trillerpfeifer den Protestchor zum Tumult. Beim ›Siegfried‹ platzten Pfeiftöne schon mitten in die Aufführung, die ›Götterdämmerung‹ versank vollends mit Rabauken und Trompeten. Zu Beginn des dritten Aktes brüllten die Radaubrüder: ›Vorhang runter‹. Vor den Fernsehkameras, die im Foyer des Festspielhauses eigentlich Jubiläumsstimmung einfangen sollten, spuckte Bayreuths Stammkundschaft Gift und Galle gegen die entartete Kunst: ›Ein Kasperltheater‹, ›brutale Vergewaltigung‹, ›der Wagner, der Richard, dreht sich im Grabe um‹. […] Erstmals in der Bayreuther Geschichte stand auf dem Grünen Hügel ein Buhmann, dem die Teutonen im Publikum – am Ende der Tetralogie deutlich die Mehrheit – fortissimo den Krieg erklärten: Patrice Chéreau, 31, laut Frankfurter Rundschau ›Frankreichs genialstes Theaterkind‹, laut Bayreuther Zwischenrufen ein ›Idiot‹, ein ›Wirrkopf‹, ›ein Schwein‹.« (N.N. 1976: 106)

Vier Sommerpartys später, anlässlich des letzten Chéreau-Rings im Rahmen der Festspiele 1980, hat die aufgrund der Jahre im Voraus gebuchten Karten in großen Teilen identische Guerilla ihr zuvor vernichtendes Urteil überwiegend revidiert. Inzwischen wird Chéreau als Schöpfer des »Jahrhundertrings« gefeiert. Ungeachtet dessen aktivieren weiterhin auch jene ihre Foren, die ihrem Wagner und ihrer Ablehnung die Treue halten.|280|

»Bayreuths inzwischen verstorbene Hohe Frau Winifried Wagner hatte vor vier Jahren Götterdämmerung über den Grünen Hügel beschworen: ›Jetzt sind wahrhaft die Irren los.‹ Gemeint war nicht das Publikum, das die Jubiläumsinszenierung des ›Ring‹ mit Trillerpfeifen bedacht hatte, sondern jenes französische Quartett, das für die Neudeutung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks verantwortlich zeichnete. Was für Patrice Chéreau, Pierre Boulez, Richard Peduzzi [Bühnenbild] und Jacques Schmidt [Kostüme] so mit einem Eklat begann, endete vergangenen Montag im Triumph: Nach dem letzten Akt der ›Götterdämmerung‹ jubelte das Publikum 85 Minuten lang und erzwang 101 Vorhänge – ein Rekord für Wagners heilige Halle. Auf seine Weise bedankte sich das Häuflein der Altwagnerianer in einer Anzeige des ›Nordbayerischen Kuriers‹ beim ›Künstlerpaar Boulez-Chereau‹, dem es‚ ohne Interesse und Verständnis für Wagners Musik ›gelungen‹ sei, ›den Ring auf die glorreichen Höhen unseres Zeitgeistes zu heben‹.« (N.N. 1980: 200)

Ähnliche Rezensionsabgleiche lassen sich anstandslos auch zum Parsifal Schlingensiefs erstellen. Ein Beispiel soll an dieser Stelle genügen:

»Christoph Schlingensief hat am Freitagabend nach einer Aufführung seiner ›Parsifal‹-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen Schläge angedroht bekommen. Einer der Festspielbesucher habe ihm auf die Schulter geboxt und von ›Fresse polieren‹ gesprochen, berichtete Schlingensief. Die Aufführung sei wieder mit Beifall und Buhrufen aufgenommen worden, einhelligen Jubel habe es diesmal für die Sänger gegeben. Bei einem Teil des Publikums habe er jedoch eine erschreckend aggressive Stimmung feststellen müssen, so Schlingensief. Es sei bemerkenswert, ›dass Menschen, die sich Opernfreunde nennen, einem in die Fresse hauen wollen‹. Andererseits: ›Polarisierung ist immer gut und zeigt auch, dass eine künstlerische Arbeit lebt.‹« (N.N. 2004: 15)

Guerilla in Ordnungen: Typen von Hochkonsumguerilleros

Innerhalb der von ihr als zunehmend deformiert aufgefassten (Hoch-) Kultur (vgl. van der Horst 2006: 284–297) sieht sich unsere offenbar gar nicht einmal so neue, elitäre Konsum- und Kulturguerilla als Gegenkultur. Vertrackter noch, verachtet sie nicht das Prädikat Kultur, wohl aber vieles, was sich unter diesem begrifflichen Deckmantel verbirgt. Sie begreifen sich als Saboteure wider die kulturelle Sabotage und sehen ihre Mission darin, Kultur zu bewahren, und das als solche Ausgestellte, Inszenierte, Musizierte, das sich dem Konsens entzieht, als die eigentliche Gegen- oder Antikultur zu brandmarken. Ausgerechnet diese Anti-Konsumguerilla-Konsumguerilla (vgl. Jacke 2004: 266–269) ist es, die bis heute mit kulturfundamentalistischen |281|Positionen eine Musealisierung der Kunst betreibt, indem sie Standards setzen und Prozesse abwehren will.

Damit ist aber lediglich eine, wenn auch die markanteste Erscheinungsform einer Guerilla umschrieben, die wir hier Kulturguerilla erster Ordnung11 nennen: Die Kulturterroristen. Für sie verschmilzt der eigene Einsatz mit künstlerischen Inhalten, sie werden zum Eigenproduzenten innerhalb der übergeordneten Produktion, die vermeintlich mit gleichen Mitteln arbeitet, um Wahrnehmungsmuster und Deutungsschemata des Publikums zu erschüttern. In Bayreuth sind dies die Alt-Wagnerianer, unerbittliche und in ihrem Kanon unhintergehbare und intolerante Hardliner. Musikalische Abweichungen und inszenatorische Andersartigkeiten im Festspielhaus werden mit seismographischer Empfindlichkeit registriert, die Eruption lässt nicht lange auf sich warten. Sie sind die Guten und als solche privilegiert, zu jeder Zeit und in jeder Form gegen das Böse vorzugehen.

In der Kulturguerilla zweiter Ordnung finden wir die Kulturtouristen, die sich durch Kunstergebenheit und eine eng damit verbundene Kritiklosigkeit auszeichnen. Sie reisen den Lang Langs und Netrebkos dieser Kunstwelt entweder hinterher oder kehren in einem rituellen Turnus oder unregelmäßigen Abständen in ihre erklärten Weihetempel ein, in das Berliner Ensemble genauso wie zu den Salzburger Festspielen. Sie sind die pilgernden Guerilleros, die gläubigen Konsumenten der so genannten Hochkultur. In Bayreuth bemühen sie sich regelmäßig um Karten, die sie genauso regelmäßig nicht bekommen. Sie sind sich dann aber auch nicht zu schade, vor dem Festspielhaus zu campieren, um auf Schildern auf ihre Kaufbereitschaft hinzuweisen. Mitunter kommt es zu ungewöhnlichen Allianzen zwischen Kulturterroristen und -touristen, nämlich wenn erstere eine Vorstellung in der Aktpause wutentbrannt verlassen und ihre Karten den Campern zur Verfügung stellen – meistens gegen Abschlagszahlung, immer spöttisch kommentiert. Beiden Ordnungen gegenüber steht die Kulturguerilla dritter Ordnung: Die Kulturtheoristen. Sie setzen sich weiterverarbeitend theoretisch auseinander und suchen Integration in der künstlerischen Praxis, nicht um der Störung, sondern um der Teilnahme sowie der Anteilnahme, der Reflexion willen. Sie sind unverkrampft und unauffällig, offen dem gegenüber, was künstlerisch geboten wird. In Bayreuth sind sie deshalb nicht mehr als eine Randerscheinung. Die Kulturtheoristen nehmen ihren Festspielhausbesuch als womöglich einmalige Chance und bis zum Ende |282|der Vorstellung wahr. Der Vorplatz zum Festspielhaus ist für sie ein Meinungsmarkt, auf den sie sich anschließend interessiert begeben. Sie sind durchaus kritisch, in ihrem Urteil aber selten vernichtend. Und wenn doch, dann versuchen sie, es deutlich, aber dennoch ausgewogen zum Ausdruck zu bringen, wenn möglich auf der Meta-Ebene der Beurteilung von Beobachtung von Beobachtung.

Nachspiel: Ritual und Konsum

Diese Typologie in drei Ordnungen, die zweifellos feingliedriger ausfallen kann, soll hier nur angerissen sein. Sie könnte einen Anlass zum Einstieg in eine medienkulturwissenschaftliche Diskussion bieten, innerhalb derer die so genannte Hochkultur in Produktion, Distribution sowie Rezeption und Weiterverarbeitung auf eine (pop-)kulturelle Ebene heruntergebrochen, in ihrer Betrachtung damit zugleich aber aufgewertet wird. Ganz ähnliche Mechanismen laufen auf den verschiedenen Stufen des Kommunikationsprozesses auf Folie verschiedener Ebenen von Kultur, die gemeinhin immer noch mit Hochkultur (hier Bayreuth) und Subkultur (hier die ursprüngliche Kultur- und Kommunikationsguerilla eines einfachen Dagegen) bezeichnet werden. Wie wir gezeigt haben, gibt es auch in Bayreuth subversive sowie affirmative Prosumer in Kultur, die ganz ähnlich denen der Popkultur zu sein scheinen. Dies gilt es zukünftig genauer zu beobachten. Der Vergleich soll zu einer Entelitisierung des Hochkulturbegriffs und seiner Akteure beitragen, einer im affirmativen Sinn Demokratisierung von Hochkultur als Bestandteil der Kultur im Allgemeinen. Es ginge demnach um eine Neuverortung von Hochkultur, um eine Transformation Darstellender und Bildender Künste. Stattdessen wird Theater neuerdings und zu Recht wieder eine ästhetische Hermetik attestiert, aus der Macher und Betrachter womöglich gar nicht ausbrechen wollen. Oper und Galerien sind da schon einen Schritt weiter, schaffen einen systemübergreifenden Anschluss, aber hauptsächlich in wirtschaftlicher Hinsicht. Bunkermentalität hier, Börsenmentalität dort: Wo die einen in die »Geschwätzigkeitsfalle« (Schaper 2008: 14) tappen, stolzieren die anderen durch die endlichen Weiten der Vermarktung, erleben dort Höhenflug und Bruchlandung. Eine konstruktive gesellschaftliche und mediale Anbindung der Hochkultur wird vernachlässigt, sogar tabuisiert. Hochkultur gilt dem Bildungsbürgertum als |283|eines der letzten Refugien unbefleckter Empfängnis. Sie wird domestiziert und verscherbelt – und unserer Guerilla zum Fraß vorgeworfen. Dabei kann, so haben wir versucht zu zeigen, auch die Hochkultur in Kultur ganz verschiedene Rezeptionen und Weiterverarbeitungen provozieren und zur Vergesellschaftung beitragen, oder wie es der Kultursoziologe Dirk Baecker (2007: 322f.) formuliert: »Sie [Werke der Kunst in Literatur, Theater, Tanz, Malerei und Plastik, J.v.d.H./C.J.] machen die Gesellschaft hörbar und lesbar, sichtbar und spürbar; und dazu gehört ebenso viel Kunst wie Kunsthandwerk, ebenso viel Schönes wie Erhabenes, ebenso viel Kitsch wie Camp, ebenso viel Populäres wie Elitäres.« Es herrscht geschäftiges Treiben auf den Kunstmessen, Eventcharakter auf Festivals und Restpostenverwaltung in Kulturinstitutionen. Ihre Zubereitung in verdaulichen Häppchen bleibt den aalglatten TV-trash-tanks – ttt (ARD), aspekte (ZDF), Foyer (3sat) oder ZDF-nachtstudio – überlassen. Nachgefragt und angeboten sind schnelle Rezepte für hungrige Gefühle, die so direkt befriedigt sein wollen wie andere Fast-Food-Bedürfnisse auch.

Je mehr aber die Künste selbst Ware werden, je mehr ihnen das Rituelle abhanden kommt, desto mehr wird ihr Konsum selbst das Ritual. Je weniger es Theater oder Oper gelingt, den Zuschauer im wahrsten Wortsinn zu verführen und zu fordern – und zwar Kulturterroristen, Kulturtouristen und Kulturtheoristen – gleichermaßen, umso eher ist er oder sie schon während der Aufführung wieder bei sich, beim Konsum – beim Buh.

Literatur

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Ein Kulturbegriff im Sinne heutiger Kulturkritik, die darunter lediglich die Gesamtheit gesellschaftlicher Symbolgehalte und immaterieller Werte (Religion, Kunst, Wissen usw.) im Gegensatz zu ihrer materiellen Aussteuer (Zivilisation) versteht, würde zu kurz greifen, da es hier ja auch um die Aufhebung solcher Gegensätze gehen soll. Unter Kultur wird deshalb im Folgenden mit Siegfried J. Schmidt (2003: 38) »das Programm der gesellschaftlich praktizierten bzw. erwarteten Bezugnahmen auf Wirklichkeitsmodelle, also auf Kategorien und semantische Differenzierungen, ihrer affektiven Besetzung und moralischen Gewichtung« verstanden. Für unsere Überlegungen nicht unwesentlich, kann Kultur als »Energie« (ebd.: 39) sowohl traditionalistisch als auch innovativ, sowohl stabilisierend als auch destabilisierend auf ihre Umwelten wirken. Darüber hinaus gilt, ebenfalls mit Schmidt (2004: 70): »Kultur ist nur in Kultur als Kultur erfahrbar und beschreibbar.« Vgl. einführend zur Kultur von Kultur Schmidt 2006. Vgl. zu den divergierenden kulturtheoretischen Beschreibungen des Kulturbegriffs sowie zu seiner Nicht-Greifbarkeit Jacke 2004.

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Einschlägige Wörterbücher definieren Wagnerianer lediglich als Anhänger der Musik Richard Wagners, was dem damit verbundenen Selbstverständnis und Pathos in keiner Weise gerecht wird. Eine nicht streng wissenschaftliche, aber unterhaltsame Beschreibung der Wagnerianer zur Bayreuther Festspielzeit liefert Georg Diez (2004: 17): »Wagnerianer sind Lemminge. Sie treten in Scharen auf, schieben sich den Hügel hoch und stürzen sich gemeinsam in einen Abgrund, den nur sie kennen. Unten warten der trunkene Tod, ein wenig Erlösung und sehr viel Musik. Dann rappeln sie sich wieder auf, klopfen sich den Staub von den Kleidern, schreien ein bisschen Buh, denn der Meister mit der Mütze hätte das auf der Bühne alles ganz anders inszeniert, verlassen müde und zufrieden das Parkett und fahren wieder nach Hause, nach Sindelfingen, Tokio, München oder Nanterre.«

3

Han-Jürgen Weiß (1992: 734) zählt zur Hochkultur neben der klassischen Musik alle Bereiche der so genannten Schönen Künste, d.h. die Malerei, die Oper, das Theater, die Bildhauerei sowie die Philosophie. Der Begriff der Hochkultur im Sinne eines praktisch nutzlosen, dafür ästhetisch hohen Prädikats kann gar nicht anders als vage sein. Dennoch – oder genau deshalb – wird er hier verwendet, weil er ein fließender ist und sowohl positiv wie negativ konnotiert. Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sieht er sich des Öfteren gesellschaftspolitischer Instrumentalisierung ausgesetzt. Die Achtundsechziger lehnten den Begriff als willentlich elitär und gegen die Masse gerichtet ab; in der Diskussion um eine deutsche Leitkultur wurde der Begriff noch in jüngster Vergangenheit von reaktionären Zirkeln als polarisierendes Schlagwort benutzt. Noch genauer ließe sich mit Gerhard Schulze (2005: 283) sagen, dass es sich im Fall unserer Konsumguerilla weniger um die Hochkultur selbst, sondern das sich ihr zugehörig fühlende »Niveaumilieu« handelt, in dem sich Achtundsechziger und Wagnerianer mittlerweile problemlos begegnen können: »[…] Man liest überregionale Tageszeitungen, Zeit und Spiegel, Belletristik. Musikalisch dominiert die klassische Musik. Auch die Fernsehpräferenzen haben einen hochkulturellen Einschlag. Man sieht bevorzugt Kulturmagazine, Dirigentenportraits, Dokumentationen, kunsthistorische Sendungen usw. – alles, was gegenwärtig als Kultur definiert ist.«

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Lange Zeit undenkbar, übertrug die ARD im lukrativen »Mozartjahr«, am 25.07.2006 um 20.15 Uhr, erstmalig live die Eröffnungsinszenierung der Salzburger Festspiele. Dass es dabei nicht allein um Figaros Hochzeit und den ästhetischen Genuss derselben ging, mag die Tatsache belegen, dass der sendereigene und massenkompatible Late-Night-Talker Harald Schmidt durch den Abend führte und demgemäß, nicht ohne Ironie, als »Opernführer« vorgestellt wurde. So wurde durch den bloßen Einsatz einer Gallionsfigur der TV-Unterhaltung ein Hochkulturereignis auf massenhafte Konsumierbarkeit herunter gebrochen – oder aber das Fernsehen zur Hochkultur empor gehoben. Vgl. zu Widerstand als sichtbare Sichtbarmachung der Macht und nicht verborgener Subversion Bunz 2007.

5

Der Rummel um den Maler und Performancekünstler Jonathan Meese ist ein markantes Beispiel dafür, wie sich ein finanzstarker Kunstmarkt und nicht minder seine finanzstarken Konsumenten zum Zwecke der Eigenetikettierung einen zum Anarchen gestempelten Künstler zurechtlegen – und als Anti-Star-Star verbrauchen. Vgl. zur medienkulturimmanenten Produktion von Stars, Anti-Stars und Anti-Stars-Stars Jacke 2004: 272–300; Jacke 2007b.

6

Als neu wird unsere Guerilla hier insofern bezeichnet, als sie bislang als solche nicht erkannt und anerkannt worden ist. Tatsächlich aber ist sie schon des längeren aktiv (vgl. Zwischenspiel: »Wagnerianer im Spiegel: Chéreau und Schlingensief zwischen Bayreuth, Buh und Bravo«), ohne dass sie es selbst festgestellt hätte, was ihren wahrhaft subversiven Charakter nur nochmals unterstreicht.

7

So lautet etwa das Titel-Thema der März-Ausgabe 2008 des Lifestyle-Magazins Blond »Rebellion. Wehr Dich! Die Blond-Anleitung zum modernen Widerstand. Dagegen sein und Spaß dabei!«

8

Der Beitrag ist eine Essenz seines zeitgleich erscheinenden Buches (Aly 2008b), das im deutschsprachigen Feuilleton kontrovers rezensiert worden ist. Vgl. bsp. Nutt 2008, Reinecke 2008 und Feddersen 2008. Strittig diskutiert werden augenblicklich auch Äußerungen des französischen Philosophen André Glucksmann. Ebenso wie Aly aktiver Achtundsechziger, argumentiert er per se gegen die historische Verklärung der Pariser Barrikadenkämpfer, zu denen er selbst gehörte: »Nichts ist unsinniger als zu behaupten: Die 68er Generation hat etwas Relevantes getan. Die Generation 68 existierte genau drei Wochen, sie hat sich dann zerstreut. Es war eine kurze Erhellung über das 20. Jahrhundert. Mehr nicht.« (Glucksmann, zitiert nach Leinkauf 2008: 21) Diesbezüglich könnte von einer Paralleldebatte die Rede sein, da Aly speziell die deutschen, Glucksmann die französischen Verhältnisse fokussiert. Tatsächlich aber ist es ein und dieselbe Diskussion, denn weder die Generation noch ihre Guerillas haben eine nationale Herkunft.

9

Unter Verweis auf das »Unternehmerische Selbst« (Bröckling 2007), das sich zunehmend durch Selbstinszenierung und Selbstenthusiasmierung bestimmt sieht, könnte hier vom neuen Guerillero als dem claqueurerischen Selbst in der aufmerksamkeitsökonomischen Gesellschaft die Rede sein; man hat gelernt, sich selbst zu beklatschen.

10

Zum manipulativen Gebrauch des Applauses in der Kulturgeschichte vgl. Knapp 2007.

11

Ordnung ist hier im Sinn von Typus zu verstehen.