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|9|Prosumer, Smart Shopper, Crowdsourcing und Konsumguerilla: Ein Streifzug zur Einführung

Birgit Richard, Alexander Ruhl und Harry Wolff

Der vorliegende Band befasst sich mit unterschiedlichen Ebenen des Konsums sowie damit verbundenen, (sub-)kulturell überformten Konsumpraktiken und -stilen. Er präsentiert Aktivitäten und Strategien, die von erwartbaren und systemkonformen Nutzungsweisen abweichen und mit denen alltägliche oder vorgesehene Konsumgewohnheiten hinterfragt, unterlaufen oder gar verhindert werden. Dies kann nicht nur durch eine klar eingenommene Oppositionsrolle realisiert werden, sondern ebenso durch übertrieben affirmative Annahme der (impliziten) Handlungsaufforderungen an die AdressatInnen1 eines Angebots.

Solche Ambitionen gehen zurück auf eine Entwicklung, die Kaufentscheidungen immer stärker zur maßgeblichen, wenn nicht gar zentralen Identitäts- und Individualitätsdimension werden lassen. In einer Gesellschaft, in der immer mehr Dinge zur marktfähigen Ware werden – ideelle symbolische und kulturelle Werte eingeschlossen – bietet reflektierter Konsum mit der ihm eigenen, flexiblen, vielfältig und breit gestaltbaren Semantik weiten Raum, einen persönlichen Stil und zugehörige Lebensentwürfe mit all ihrer Optionsvielfalt jenseits einer Normalbiografie der Vergangenheit zu konstruieren. Wenn im öffentlichen Diskurs der postmodernen Marktgesellschaft von Menschen die Rede ist, wird demnach überwiegend von VerbraucherInnen, KundInnen oder KonsumentInnen gesprochen. Souveräner Konsum avanciert zur elementaren BürgerInnenpflicht. Der Umgang mit Angeboten des Marktes wird so nicht mehr allein von den AnbieterInnen definiert, sondern zunehmend von den Subjekten bestimmt, die ihrerseits Bedeutung in Konsummöglichkeiten oder Dinge legen und sie entsprechend (um-)gestalten|10|. Mit Gegenständen oder Aktivitäten verknüpfte Versprechen, Mythen und Geschichten (vgl. Ullrich 2006) werden somit nicht einfach planbar übernommen, sondern aktiv mit eigenen Konnotationen belegt und abhängig vom jeweiligen Bezugsfeld und dort vorherrschenden Zielen erzeugt, verhandelt, gefördert oder (ironisch) gewendet. Die materielle und soziale Umwelt ist zu einem gewissen Grad offen für individuelle oder subkulturell geprägte Sinnkonstruktionen, oder aber sie enthält zumindest Ansatzpunkte, die sich taktisch im eigenen Interesse interpretieren lassen (vgl. de Certeau 1988).

Zwischen den Polen eines ostentativ gelebten Lifestyle- und Markenkults als Zeichen von Dynamik und Leistungsfähigkeit einerseits und hartnäckiger Konsumverweigerung andererseits eröffnen sich dabei vielfältige Deutungsmöglichkeiten, gerade auch bei Phänomenen, die nicht eindeutig dichotom gedachten Extremen zuzuordnen sind und somit eingehende Analysen verdienen.

Diese Betrachtungen unter dem Begriff der Konsumguerilla zu bündeln, betont den Ehrgeiz von Individuen, als hegemonial erlebte Konventionen nicht unreflektiert hinzunehmen, sondern stattdessen ihre eigene Version der kollektiven Zeichen einer Kultur sowie der zugehörigen Bedeutungen zu konstruieren und die modifizierten Symbolgehalte mehr oder weniger offensiv zu kommunizieren. Es geht folglich nicht primär um spektakuläre Aktionen, denn subversives Handeln kann durchaus beiläufig, bescheiden oder gar unbemerkt geschehen, wenn vor allem die im Vollzug von praktizierten Aktivitäten liegenden Reize ausgekostet werden. Der persönliche Mehrwert liegt dann im Handeln, möglicherweise gerahmt von einer bestärkenden, vielleicht auch verschworenen Gemeinschaft, die ihre Interessen mit einer Art sportlichem Antrieb verfolgt. Im Hinauswachsen über präfigurierte Nutzungsweisen werden gemeinsam Grenzen ausgelotet, Erfahrungen geteilt, normale Abläufe irritiert oder auch bewusst Reaktionen provoziert. Nochmals herausgefordert wird solcher Eifer von einer Umwelt, in der Konsumgüter, oder Gegenstände allgemein, eine schier universelle Initialfunktion für soziale Prozesse darstellen. »Materielle Partizipanden des Tuns« (Hirschauer 2004: 73) werden dabei selten sortenrein, so wie sie sind, als hinreichend angesehen. Dinge und mit ihnen gekoppelte Nutzungsskripte unterstützen vielmehr das »Branding« der eigenen Individualität und des unverwechselbaren, souveränen Lebensstils. Sie sind Kommunikationsanlass und geteilter Bezugspunkt für zuzurechnende Verhaltensweisen.

Der Charakter von weithin bekannten Marken mit ihren stilbildenden Zeichen ist allerdings nur ein erster signalisierender Aufhänger, mit dem |11|eigensinnig oder – vor dem Hintergrund des Guerilla-Begriffs – taktisch gearbeitet wird. Dabei geht es kaum darum, eine Revolution anzuzetteln. Die Guerilla kann überall agieren, sie wird in kleinen, verstreuten Einheiten aktiv, in unterschiedlichsten Feldern, nicht nur in Sub- und Alltagskulturen, dem Kunst- und Kulturbetrieb. Gemeinsam ist ihnen die Skepsis gegenüber scheinbar allgemeingültigen Leitbildern und alternativlos akzeptierten Größen, die uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen und denen sich alle anderen Faktoren unterzuordnen haben. So ist die Herrschaft des Marktes, für den kommerzielle Verwertbarkeit, also Profit, das höchste Gut darstellt und mit dem zu einem gewissen Grad immer auch das eigene Leben in Einklang gebracht werden muss, häufig ein Bezugspunkt. Eine kritische Haltung demgegenüber ist jedoch keine zuverlässige Absicherung: Dem Guerilla-Image wohnt ein eigener, durchaus auch marktfähiger Charme inne, der daher auch hervorragend als Aufmacher einer Marketingstrategie eingesetzt werden kann.

Das Buch gliedert die hier skizzierte Thematik in mehrere Teile, welche unterschiedliche Arten des Konsums und des Konsumierens, sprich die Verschiedenheit von Konsumstilen berücksichtigen. Es bearbeitet Strategien des Hyperkonsums, seine Bilder und Objekte, die Angebote des Marktes und des Marketings. Dabei werden sowohl die üblichen, systemerhaltenden Handlungsabläufe in der Figur des Partizipierens am eingängigen Mainstream aufgezeigt, etwa in Online-Videoclips bei YouTube als Vehikel des viralen Marketing oder in Fankulturen im Zusammenhang mit TV-Serien und Computerspielen, als auch Ambitionen, die das Phänomen Konsum als populäres und auch probates Mittel der Selbstinszenierung im Rahmen einer distinktionsorientierten Gesellschaft konstruieren. So etwa im Konsumuniversum Handy, das von individuellen Klingeltönen über Wallpapers und auswechselbare Gehäuseteile bis hin zu »trendigen« Futteralen und Handyschmuck reicht. Solche Modifikationen berühren bereits das Konzept des Customizing als Angebot individueller Gestaltung und Veredelung von Massenprodukten nach eigenem Geschmack oder die Wandlung von üblicherweise unspektakulären Objekten wie Spielzeugen zu exklusiven Designertoys.

Innerhalb des Mainstreammarkts wird ferner Rezeptions- und Transformationsstrategien eines emanzipierten Konsums nachgespürt: Zum einen in der Figur des Prosumer (Producer/Consumer), also des Verbrauchers, der zugleich in unterschiedlichem Maße und potenziell eigenschöpferischer Mitproduzent von Gütern ist, als solcher aber wiederum ins Kalkül von Marketing-Strategien einbezogen wird, gleichzeitig diesen jedoch |12|ablehnend begegnen kann; zum anderen in verschiedenen Formen des Ausdrucks von Alltagskreativität, die sich mit Konsum verbinden können. Die Verschränkung von Konsum- und Eigenbildern rückt hierbei ebenso ins Blickfeld wie die Eigenheiten der Entwicklungen im Web 2.0, also mediale Formationen wie Blogs oder populäre Community-, Foto- und Videoplattformen und deren kreative Umwidmung durch User. Hier zeigen sich Prozesse selbst bestimmter Nutzung ebenso wie das Bestreben, diese kommerzieller Verwertung zugänglich zu machen.

Einen weiteren thematischen Teil des Bandes bilden subversiver Konsum und Strategien von Subkulturen. Es werden Konsumstile des Widerstands vorgestellt, wie beispielsweise künstlerische und aktivistische Bewegungen, die ihre Konsumkritik mittels ästhetischer Eingriffe und häufig im öffentlichen Raum praktizieren. Hier treten die »Konsumbilderstürmer« mit ihren Rezeptions- und Transformationsstrategien in Erscheinung wie auch die Kunst der Rebellion. Im Spannungsfeld von Kunst und Aktivismus werden Antikonsumaktionen ebenso wie Strategien zur Aneignung des öffentlichen Raums – etwa Parkour oder Streetart – aufschlussreich analysiert, sodass darauf aufbauend Typologien und Definitionen subkulturellen Konsums und Aktivismus’ zur Diskussion gestellt werden können.

Zunächst aber sollen einige derzeit populäre Begrifflichkeiten aus Konsum und Marketing aufgefächert werden, um damit die gewandelte Position der Konsumierenden aufzuzeigen. Die bereits genannte Figur des Prosumers beispielsweise ist Ausdruck der Tatsache, dass sich die Rolle der KonsumentInnen verändert hat, und zwar insbesondere durch die Nutzungsmöglichkeiten, die das Internet und seine Dienste für neue Produktions und Partizipationsweisen bieten.2

Aus Sicht von UnternehmerInnen sollen Prosumer Ideen und Informationen bei Entwicklung, Design und Anpassung von Produkten liefern. Über solche Aktivitäten können sie (über die ihnen eigene Glaubwürdigkeit und Meinungsführerschaft) zur neuen »Marketingsäule« werden, womit faktisch interne Aufgaben des Marketing auf VerbraucherInnen verlagert werden. So sollen Prosumer etwa als »Mund-zu-Mund-Propagandisten|13|« in Weblogs und Foren dabei helfen, Neuheiten bekannt zu machen oder bei der Kaufberatung anderer User aktiv werden. Im günstigsten Fall resultieren hieraus langfristig bessere Qualität und präziser auf die Bedürfnisse der VerbraucherInnen zugeschnittene Produkte.

Viele Unternehmen versuchen, Prosumer und die kommunikativen Möglichkeiten des Web 2.0 in Marketing, Forschung und Entwicklung zu integrieren. So werden virale Botschaften3 oder buzzwords4 lanciert (etwa als entscheidende Schlagworte für Stichwortsuchen), um daran mit Produktwerbung anzudocken und die Reichweite zu vergrößern – nach Möglichkeit bis in traditionelle Medien hinein. Werbenachrichten werden dann von Interessierten an ihr soziales Netzwerk weitergeleitet. Prosumer sind damit zugleich die neuen »Trendscouts« und »early Adaptors«, wie sie die Werbepsychologie nennt, und entfalten eine multiplikatorische Wirkung. Kommentare der User werden als Grundlage für die Evaluation von Produkten herangezogen und die Prosumer darüber in die Organisation des Marketings eingebunden – oftmals ohne dass diesen ihre Funktion bewusst ist oder überhaupt werden kann. Positiv formuliert, öffnen sich Unternehmen ihren KundInnen, die zunehmend mitgestalten, beraten und interaktiv kommunizieren können.

Im Wechsel vom Konsumenten zum aktiven »Prosumenten« zeichnet sich ein neuer Käufertyp ab, der in der Eigenständigkeit seiner Kaufentscheidungen seiner Umwelt fordernd und hochkompetent gegenübersteht. Diese Eigenschaft wird im Begriff »Smart Shopper« betont. Diese lassen sich nicht einfach manipulieren. Sie achten im Gegensatz zu Schnäppchenjägern nicht nur auf den Preis, sondern vor allem auf Qualität und fragen ebenso, wer das erworbene Gerät gegebenenfalls reparieren oder erklären oder ob eine Dienstleistung den Ansprüchen gerecht werden kann.5

Zwischen den Extremen der Instrumentalisierung der Prosumer, auf den Arbeit abgewälzt wird – mit Konsequenzen für einen Teil der MitarbeiterInnen dieser Unternehmen –, und neuen sozialen Formationen wie emanzipativen Do-it-yourself-Alltagskulturen, die ebenfalls verändernd auf die Gesellschaft |14|einwirken, gibt es viele Abstufungen. Zum Teil werden auf diese Weise sogar neue, alternative Wirtschaftsstrukturen geschaffen, wie zuvor ungekannte Unternehmensformen oder Produktionslogiken von Communities zeigen (vgl. etwa die Wissensgenese bei Wikipedia).

Kundenorientierung erfährt folglich eine neue Orientierung im Sinne von: Was können die KundInnen für uns tun? Entsprechend werden unterschiedlichste Arbeitsschritte von angestellten ArbeitnehmerInnen auf KonsumentInnen ausgelagert, was sich anhand von etlichen Beispielen zeigen lässt: Direct-Banking, Self-Brokerage, Selbstbuchung von Flug- und Bahntickets sowie generell die Auswahl, Recherche und der Kauf von Produkten über das Internet. Man denke aber auch Abholung und Einlieferung von Paketen am Packstation-Automaten, automatisiertes Einchecken an Flughäfen und Hotels, ebenso an unterschiedliche Formen der webbasierten Selbstberatung und Information. Diese Liste nennt nur einige wenige Möglichkeiten und ließe sich noch lange fortschreiben.

Voss und Rieder benennen dabei moderne Informations- und Kommunikationstechnologien sowie namentlich das Internet als

»hilfreiche Mittel; sie sind aber keineswegs die zentralen Auslöser, denn viele Betriebe (und die dazu gehörende Betriebswirtschaftslehre) haben unabhängig davon und zum Teil schon vor der Expansion des WWW den Kunden als sogenannten ›Ko-Produzenten‹ entdeckt, dessen Potential man aus unmittelbar wirtschaftlichen Gründen zu nutzen versucht.« (Voß/Rieder 2005: 5)

Beim permanenten Forcieren von Wachstum werden KonsumentInnen somit zum neuen Instrument der Kosteneinsparung, Rationalisierung und des Marketing: Sie werden in ihrer Eigenschaft als Wertschöpfungspotenzial entdeckt.

Markus Rohwetter beschreibt diese Entwicklung unter dem Titel »Vom König zum Knecht« (2006). Die Kundschaft arbeite freiwillig, dankbar und kostenlos mit, was die Frage aufkommen lässt, welches Unternehmen »eigentlich noch ein Heer bezahlter Mitarbeiter braucht« (ebd.). Er rechnet vor, dass bei Ikea beim Aufbau von jährlich vier Millionen verkauften Billy-Regalen und veranschlagten 30 Minuten für die Montage bei einem Stundenlohn von acht Euro eine Summe von 16 Millionen Euro zusammenkäme, die selbstverständlich nie ausgezahlt würde.

Nach Entwicklung und Leistungserstellung kann der Kunde anschließend das Produkt bewerben: »Er ist pro-aktiv im Erfahrungsaustausch mit anderen und übernimmt Meinungsführerschaft. Seine Leidenschaft für Marken und Produkte macht ihn zum Botschafter mit hoher Glaubwürdigkeit |15|und Authentizität.«6 Prosumer sollen über ihre Glaubwürdigkeit für Imageförderung und Kundenbindung auf Portalen und in Foren sorgen, für die Unternehmen werben, andere KonsumentInnen bilden und überzeugen – und günstigstenfalls all dies, ohne zusätzliche Kosten zu verursachen. Im besonderem Maße erhoffen sich viele Unternehmen von diesem crowdsourcing, einem Verbundwort in Anlehnung an Outsourcing, das große Geschäft mit Hilfe von Weblogs und Communities.

»Am liebsten ist es aber den Unternehmen, wenn ihre Marke mit der Vertrauenswürdigkeit almagiert, die firmenexternen Bloggern zugeschrieben wird. Bei Vespaway treffen sich Vespa-Fans und beglückwünschen sich zu ihrem Hobby. Traum aller Firmen ist es, ein aktives Blog an die eigene Website zu binden.« (Hövel 2006)

Entscheidende Grundlage ist hier die zwar irrationale, aber starke emotionale Bindung der KonsumentInnen an Massenprodukte. Virales Marketing kann als moderne Mund-zu-Mund-Propaganda verstanden werden, bei der Prosumer, sofern sie eine themenspezifische Meinungsführerschaft innerhalb einer Community haben, eine besondere Rolle zufällt: Sie sind MultiplikatorInnen, die für eine Beschleunigung von buzzwords und Informationen sorgen, und zwar auf qualitativ höherem Niveau, als es die meisten Kampagnen erreichen. Der Markt reagiert entsprechend: Im Hintergrund und von vielen Nutzenden unbemerkt, werden erfolgreiche Web 2.0-Portale von konventionellen Unternehmen gekauft.7

Die neuen Social Networks und Communities weisen ein hohes Werbewirkungspotenzial auf, da Inhalte unmittelbar auf bestimmte Zielgruppen und Situationen abgestimmt werden können. Besonders attraktiv sind für Unternehmen YouTube, Flickr und ähnliche Portale, da sie neben den kostenlosen Inhalten die damit zugleich realisierten soziotechnischen Strukturen enthalten, welche wiederum Aufschluss über vorherrschende Verwendungsweisen und jugendspezifische Aneignung derselben geben. Jugendliche und junge Erwachsene können gezielt angesprochen werden, da eine Software fortlaufend alle Seitenaufrufe analysiert, die angeklickten Inhalte erfasst und entsprechende Anzeigen schaltet. Ferner lassen sich als MultiplikatorInnen geeignete User identifizieren, was für die Firmen einfacher und effektiver ist als eigene Weblogger zu bezahlen oder eigene Portale zu |16|etablieren. Bei Flickr gibt es für die Werbung von Fotokameraherstellern eine besonders exponierte Seite, auf der die beliebtesten Kameras in der Flickr-Community (vgl. Richard/Grünwald/Ruhl 2008) verzeichnet sind. Dort wird erwartungsgemäß die entsprechende Werbung geschaltet. Innerhalb der im Netz vorherrschenden Kultur des Kennens und Anerkennens unter den Nutzern von Flickr entsteht so fortlaufend soziales Kapital, auf das Unternehmen bei der Vermarktung bauen. Abstrakt gründet das »Geschäftsmodell« vieler Plattformen folglich auf Aufmerksamkeit, die generiert wird und in Verbindung mit einer bestimmten Zielgruppenspezifik für die Werbewirtschaft attraktiv ist. Der Unterschied zum Fernsehen besteht darin, dass Inhalte nicht von einer Programmgruppe erstellt werden, um möglichst viele ZuschauerInnen bestimmter Zielgruppen zu versammeln, sondern der user generated content wird von Letzteren selbst erstellt, während sich die zentrale regelnde Instanz auf Ordnungsmechanismen und deren Anpassung beschränkt.

Diese Prinzipien lassen sich auf beliebige Inhalte und Formate übertragen. So können HörerInnen aktiv in die Programmgestaltung eines Radiosenders einbezogen werden, indem sie selbst komponierte Lieder oder selbst verfasste Beiträge einsenden – selbstverständlich in Kombination mit einem Bewertungssystem. So startete Motor FM8 zusammen mit My-Space (jetzt im Besitz von Rupert Murdoch) eine Aktion, bei der jungen KünstlerInnen die Chance auf eine breite Öffentlichkeit via Radio in Aussicht gestellt wurde. Daneben treten Blogs und Podcasts als neue Kommunikationskanäle, moderiert von BürgerInnen, in Konkurrenz zu den klassischen Printmedien und zum herkömmlichen Hörfunk. Als Alleinstellungsmerkmal gemeinschaftlich geschaffener Inhalte gilt, trotz gewisser Unprofessionalität und gelegentlichem Mangel an Qualität, der Mythos »Authentizität« (vgl. Näser 2008). Wobei dieser Begriff im Kontext des Marketings und der Medienwirkungsforschung sehr kritisch beleuchtet werden muss, da die scheinbar eigenen Aktionen und Bilder der NutzerInnen längst medial überformt und zu Hybriden aus Eigen- und Fremdbildern geworden sind.

Der für den Streifzug durch denkbare Positionen von KonsumentInnen eingenommene Fokus auf überwiegend medial etablierte soziale Realitäten und dort manifeste soziale Praktiken folgt der Beobachtung, dass sich hier zentrale Mechanismen gegenwärtiger Gesellschaftsmerkmale zeigen |17|beziehungsweise ausgehandelt werden. Sie sind nicht als nur immateriell oder virtuell abzuwerten, denn sie bilden einen entscheidenden Teil der gegenwärtigen Lebenswelt und Kultur, welcher den Horizont für Denken und Handeln darstellt. Haltungen und praktische Lebensgestaltung gründen so stets auch auf einer durch Medien vermittelten Welt, die die Folie für sinnstiftende Interpretationen bietet (vgl. Ruhl 2008: 36).

In diesem Sinne ist auch die Konsumguerilla zu verstehen: Ehemals passive EndverbraucherInnen, denen kaum nennenswerte Eigenaktivität zugebilligt wurde und bei denen man davon ausging, dass sie mit Angeboten des Marktes meist relativ planmäßig umgingen, melden sich nun weithin vernehmlich zu Wort und vertreten ihre eigene Interpretation der Bedeutungen, die mit Konsumweisen und Produkten einhergehen. Sie demontieren das Monopol der Angebote, wobei sich zeigt, dass Verbraucher-Innen mehr sind als nur KonsumentInnen: nämlich in erster Linie Individuen, denen einzelne Waren nur Mosaiksteine oder das Rohmaterial für ihre jeweiligen Interessen sind. Dies kann über das mit dem Wort Konsumguerilla gebildete Oxymoron eine Gestalt erhalten: Betont wird das Spannungsverhältnis der Begriffe Konsum und Guerilla, die zunächst gegensätzlich erscheinen, aber tatsächlich in mehrfacher Beziehung zueinander stehen, sobald man an die vielschichtigen semantischen Bedeutungsumfelder denkt, die jeweils mit ihnen einhergehen.

Marktstrategien lassen sich demnach nicht allein durch einfache oppositionelle Akte demontieren oder variieren. Gerade Guerillataktiken machen die Aneignung der materiell geprägten Welt zu einem attraktiven, motivierenden und möglicherweise für die Aktiven auch besonders Erfolg versprechenden Unterfangen. Die für PartisanInnen konstituierende Wendigkeit auch in den hier behandelten Marktarrangements ist dabei stets fortzuentwickeln, da jede subkulturelle Intervention vom Markt als Herausforderung gedeutet werden kann, die auf potenzielle Marktlücken verweist und als solche dann Gefahr läuft, vom kommerziell getriebenen Kreislauf wieder vereinnahmt zu werden. Dem unvorhersehbaren, aktiv gelebten Freiheitswillen Ausdruck zu verleihen, stellt dabei die besondere Kunstfertigkeit dar, die sich nicht allein in Feldern wie Kunst, Kulturbetrieb und Jugendkulturen finden lässt und daher multiperspektivisch und interdisziplinär betrachtet wird.

|18|Die Beiträge

Für die Einleitung untersuchte Harry Wolff gemeinsam mit den Herausgebern Synonyme als Indizien für gewandelte Rollen von KonsumentInnen aus dem Bereich des Marketings.

Hans Peter Hahn führt mit einem Überblicksartikel zum Verhältnis von Konsum und Kultur in den Band ein. Er zeigt zentrale historische und gegenwärtige Herangehensweisen an die Welt der Waren und des Konsums.

Franz Liebl verdeutlicht mit dem Prinzip des Cultural Hacking, wie durch direkte Veränderung an Waren neue Bedeutungen geschaffen werden, und wie diese kritischen, teils aber auch ökonomisch motivierten Eingriffe in die Welt der standardisierten Produkte wieder neue kommerzielle Formen hervorbringen können.

Thilo Schwer beleuchtet in seinem Beitrag Veränderungen im Möbeldesign durch BenutzerInnen, die Alltagsobjekte umgestalten, umnutzen und damit individualisieren und wie diese Modifikationen als Gestaltungsstrategien im professionellen Bereich aufgenommen und weiterentwickelt werden.

Sabine Fabo stellt parasitäre Strategien in Kunst und Design vor, deren Ausrichtung zwischen den Angeboten des Marktes mit seinen namhaften Marken als Bezugsgröße einerseits und Widerstand dagegen andererseits anzusiedeln sind.

Martina Seefeld und Jörg Hoewner setzen sich mit den Neuen Medien, welche die Rolle von KonsumentInnen grundlegend umdefiniert haben, im Kontext von Unternehmenskulturen auseinander. Bieten die Technologien des Web 2.0 Chancen für die Entwicklung eines Enterprise 2.0?

Verena Kuni beleuchtet die Aktualität von Do it yourself-Strategien im Zusammenhang mit sozialen Prozessen, Kontexten und hieraus resultierenden Effekten im Web 2.0 im Zusammenhang mit der Figur des Prosumers.

Nina Metz stellt ein spezielles Motiv jugendkultureller Inszenierung in den Vordergrund: Den Reiz von Verletzungen und den Stolz auf Wunden als eine Art der autonomen Formung des Körpers jenseits der im Mainstream aufwendig inszenierten Schönheitsideale.

Jutta Zaremba beschäftigt sich mit neu entstandenen Kulturen von ComputerspielerInnen und ihren Aktivitäten auf den zugehörigen Websites und Portalen im Internet.

Marcus Recht wirft einen Blick auf die TV-Serie »Buffy« und analysiert darin subversive Momente wie auch Abweichungen in den Geschlechterrelationen in einem Produkt der Massenkultur.

|19|Alexander Fleischmann und Josef Jöchl analysieren »queere« Strategien zwischen Abweichung und sozialer beziehungsweise kommerzieller Eingliederung in den »Mainstream der Minderheiten« (Holert/Terkessidis) am Beispiel des Schwulenmagazins »BUTT«.

Jan Grünwald analysiert Männlichkeitsbilder bei Selbstdarstellungen in der Web 2.0-Community und der Musikplattform MySpace anhand von Stereotypenbildung wie auch Abweichungen, die Ansätze einer Typologie liefern können.

Das Interview mit Diedrich Diederichsen beleuchtet die künstlerischen Möglichkeiten des Widerstands gegen Konsum insgesamt.

Lev Manovich fasst in seinem Überblicksartikel über die neuen sozialen Medienwelten die sozialen Bedingungen des Web 2.0 zusammen und untersucht, wie das Social Networking vom Massenkonsum zur massenhaften kollaborativen Kulturproduktion führt.

Alexander Ruhl verfolgt in seinem Artikel, wie die Streetart in ihrer Wanderung von der Straße ins Netz vom Kontext von Subversion des Urbanen in das System Kunst als Neue Kunstform gerät.

Birgit Richard sucht bei YouTube nach neuen Kunstformen für das bewegte Bild und findet jugendliche Bild- und Darstellungsformen, die so vorher nicht existent waren und zur temporären Aufweichung der Grenzen zwischen Bildender Kunst (high) und Alltagskultur (low) führen.

Sabine Himmelsbach betrachtet den Übergang und die Schnittflächen vom partizipativen, vernetzten Web 2.0 in die bildende Kunst und beleuchtet ihre Möglichkeit, mediale Formate subversiv zu unterlaufen, sich diese damit anzueignen und autonome, unreglementierte Nutzungsformen voranzutreiben.

Peter Mörtenböck thematisiert die Aneignung und Neuvermessung der Stadt durch Free Running, das nicht nur die Grenzen und Restriktionen des öffentlichen Raums, sondern auch die der materiell gebauten Umwelt als Herausforderung und ein Hindernis begreift, das im wahrsten Sinne unter- oder überlaufen werden muss.

Jörg van der Horst und Christoph Jacke beleuchten eine unerwartete Form der Subversion: den Hyperkonsum der Hochkultur am Beispiel der wagnerianischen Opern in Bayreuth. Sie schildern den subversiven Applaus und erklären die Strategie der Überaffirmation respektive -negation, durch die eine Hochkultur-Konsumguerilla geschaffen wird.

Den Band beendet Birgit Richard mit einem Einblick in ihre coolhunters: style-Studie, eine Befragung von Jugendlichen im Rahmen der Coolhunters-Ausstellung |20|mit Fokus auf Kleidungs- und Stilbilder, die deutlich die mediale Überformung und konforme Ausrichtung der meisten Jugendlichen zeigt.

Literatur

Certeau, Michel de (1988), Kunst des Handelns, Berlin.

Hirschauer, Stefan (2004), »Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns« in: K. H. Hörning; J. Reuter (Hg.), Doing culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld, S. 73–91.

Hövel, Jörg auf dem (2006), »Lass das doch die Community machen« in: Telepolis, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/22/22832/1.html, 07. Juni, 04.08.2008.

Institut für Demoskopie Allensbach (2003), »Weniger Markenbewusstsein. Ein Ergebnis der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse« allensbacher berichte Nr. 15, http://www.ifd-allensbach.de/pdf/prd_0315.pdf, 23.08.2008.

Näser, Torsten (2008), »Authentizität 2.0 – Kulturanthropologische Überlegungen zur Suche nach ‚Echtheit’ im Videoportal YouTube« in: kommunikation@gesellschaft, Jg. 9, Beitrag 2. Online-Publikation: http://www.soz.uni-frankfurt.de/K. G/B2_2008_Naeser.pdf, 21.08.2008.

Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Ruhl, Alexander (2008), »Me, Myself, I: Schönheit des Gewöhnlichen. Eine Studie zu den fluiden ikonischen Kommunikationswelten bei flickr.com« in: Kaspar Maase (Hg.), Die Schönheiten des Populären: Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt/M., S. 114–132.

Rohwetter, Markus (2006), »Vom König zum Knecht« in: Die Zeit, 21.September, Nr. 39, http://www.zeit.de/2006/39/Do-it-yourself, 04.08.2008.

Ruhl, Alexander (2008), Schreiben und Schweigen im virtuellen Raum. Computervermittelte Kommunikation in kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschungskooperation, Opladen.

Toffler, Alvin (1983), Die dritte Welle. Zukunftschance. Perspektiven für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, München.

Ullrich, Wolfgang (2006), Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur, Frankfurt/M.

Voß, Günter/Rieder, Kerstin (2005), Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden, Frankfurt/M.

 
1

Die Schreibweise mit Binnenmajuskel, über die explizit sowohl weibliche als auch männliche Personengruppen einbezogen werden, ist nicht elegant, aber soweit eingebürgert, dass sie der Lesbarkeit am ehesten entgegenkommt. Das Binnen-I erweist sich als weniger sperrig, indem es den Lesefluss geringfügiger unterbricht als eingefügte Schräg- und Bindestriche oder die Nennung sowohl der weiblichen als auch der männlichen Form.

2

Der Begriff Prosumer ist eine Wortbildung aus producer und consumer und bezeichnet Personen, die gleichzeitig etwas konsumieren und herstellen (vgl. Toffler 1983). KonsumentInnen werden Teil des Produktionsprozesses und somit zu einem gewissen Grad zugleich zu Produzenten des Gutes. Eine andere, davon unabhängige Verwendung des Wortes setzt sich aus professional und consumer zusammen und wird beispielsweise für digitale Kameras benutzt, deren Ausstattung »semiprofessionell« ist. In diesem Fall dient der Begriff zur Definition eines Marktsegments.

3

Virales Marketing ist bestrebt, Botschaften zu gestalten, die so sehr beeindrucken, dass sie im Bekanntenkreis kommuniziert werden. Gelingt es, werden massenhaft E-Mails oder Links weitergeleitet, was an die unkontrollierte Ausbreitung einer Virusinfektion erinnert. Als prominentes Beispiel kann das Computerspiel »Moorhuhn« gelten.

4

Mit buzzword wird ein Schlagwort bezeichnet, das besondere Aufmerksamkeit erwecken soll, etwa, indem augenfällige Bezüge zu akuten Debatten konstruiert werden.

5

Smart Shopper repräsentieren laut dem Institut für Demoskopie Allensbach ein Viertel der deutschen Gesamtbevölkerung (2003: 5).

6

http://www.eurorscg.de/strategie/prosumer, 04.08.2008.

7

Etwa das Studierenden-Netzwerk StudiVZ, das der Holtzbrinck-Verlag für 85 Millionen Euro übernahm. StudiVZ ließ im Mai 2008 die Seitenaufrufe von der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V. (IVW) erfassen und verdrängte mit circa 2,6 Milliarden Seitenaufrufen T-Online (2,2 Mrd.) auf den 2. Platz.

8

Radiosender von Tim Renner, der zuvor Präsident einer deutschen Unternehmenstochter von Universal Music Deutschland war, dem weltgrößten Tonträgerhersteller unter dem Dach des französischen Vivendi Konzerns.