27

Mittwoch, 25. Oktober

Es sollte beinahe neun Uhr werden, ehe ich nach Hause kam. Sobald Patterson seine Vorgesetzten in der Zentrale von An Garda in Kenntnis gesetzt hatte, machte das NBCI-Team aus Dublin sich auf den Weg.

Ich wartete vor Ort, bis das Team eintraf. Insgesamt waren es zwölf Beamte, und schon zwanzig Minuten nach ihrem Eintreffen hatten sie alle möglichen Dokumente ausgegraben, von denen sie uns sagten, sie seien »bedeutsam«.

Als selbst Patterson nicht mehr leugnen konnte, dass Weston in etwas Illegales verwickelt gewesen war, wurde die Atmosphäre allmählich sachlicher. Dennoch konnte keiner von uns das grelle Licht der Scheinwerfer ignorieren, die man auf dem Parkplatz aufgestellt hatte. Irgendwann sagte Patterson mir, ich könne nach Hause fahren. Keiner von uns erwähnte, dass sein Anruf bei Weston diesem Zeit gegeben hatte, abzuwägen, welche Optionen ihm blieben. Letzten Endes hatte er sich für die extremste entschieden.

Als ich zu Hause ankam, lagen die Kinder bereits im Bett. Debbie hatte sich auf dem Sofa zusammengerollt und schaute eine amerikanische Comedy-Serie um attraktive junge Menschen, deren größtes Problem darin zu bestehen schien, wo sie eine Tasse Kaffee bekommen konnten. Ich hatte in den letzten Tagen zu viele Menschen sterben sehen und war nicht in der Stimmung für solche Unterhaltung. Stattdessen duschte ich so lange, bis das Wasser kalt wurde und ich die Kälte nicht mehr ertrug. Doch es änderte nichts. Während ich dastand und das Gesicht in den starken Wasserstrahl hielt, sah ich immer noch Weston vor mir, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte, und Helen Gorman, wie sie ihren letzten keuchenden Atemzug tat, und Barry Ford, der zu Boden sackte. Ich stieg aus der Dusche und übergab mich in die Toilettenschüssel.

Dann lag ich neben der Toilette auf dem Boden, bis ich mir allmählich wieder der Geräusche in meinem Haus bewusst wurde: der Fernseher, Schritte auf der Treppe, Penny, die sich im Bett selbst vorlas. Ich lag wohl zehn, fünfzehn Minuten dort, bis ich vor Kälte zu zittern begann. Da stand ich auf und zog mich an.

Als ich aus dem Bad kam, begegnete ich Natalia, die auf dem Weg in ihr Zimmer war. Sie lächelte zaghaft, und mir fiel auf, dass sie ein wenig Make-up und Rouge aufgelegt hatte.

»Wo geht Natalia hin?«, fragte ich Debbie, als ich nach unten kam.

»Karol führt sie zum Essen aus.«

»Ein richtiges Date?«, fragte ich.

Debbie bedeutete mir, still zu sein, und sah nach oben. Dann sagte sie leise: »Nicht direkt, aber ich denke, er hofft, dass es der Anfang von etwas ist. Ich habe dir ja gesagt, dass er sie sehr mag.«

»Wo gehen sie hin?«

»Offenbar gibt es eine Immigrantengruppe, die sich einmal im Monat zum Abendessen und auf einen Drink trifft. Er hat sie eingeladen, mitzukommen.«

Ich sah auf die Uhr. »Es ist ziemlich spät, um jetzt noch abendessen zu gehen«, sagte ich.

Debbie warf ein Kissen nach mir. »Sie ist erwachsen, weißt du.«

»Ich meine ja nur. Es ist ziemlich spät.«

»Ts ts ts. Gott helfe Penny, wenn sie erwachsen wird«, sagte Debbie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu.

Als ich Natalias leichte Schritte die Treppe herunterkommen hörte, glitten die Scheinwerfer eines Auto über die Rollos an unserem vorderen Fenster. Das musste Karol Walshyk sein. Natalia kam ins Wohnzimmer und stellte sich vor Debbie, um sich begutachten zu lassen.

»Sie sehen entzückend aus«, sagte Debbie.

Natalia sah zu mir, und Debbie gab mir einen Tritt gegen die Wade.

»Entschuldigung. Sie sehen sehr gut aus«, sagte ich.

Natalia errötete und richtete sich die Haare, vermutlich ebenso sehr um ihre Verlegenheit wie auch um ihre Freude zu überspielen.

Es klingelte. Natalia winkte uns zu und ging zur Tür.

»Willst du ihr nicht sagen, sie soll nicht zu spät nach Hause kommen?«, neckte mich Debbie. Prompt streckte ich den Kopf in den Flur, als wollte ich Natalia etwas zurufen.

Doch die Worte blieben mir im Halse stecken. Dort in meiner Diele stand Pol Strandmann, hielt Natalia vor sich und drückte ihr ein Messer an die Kehle, während er versuchte, sie zur Tür zu schieben.

»Keine Bewegung«, schnauzte er und bleckte die Zähne. »Ich schneide der Schlampe die Kehle durch.« Er drückte die Schneide fester in ihre Haut.

»Lassen Sie sie los, Pol«, sagte ich. »Sie können nirgends hin.«

Er sah links und rechts hinter sich, als wollte er sich seines Fluchtwegs vergewissern. »Die haben nichts in der Hand«, stieß er hervor. »Nichts, ohne diese Schlampe. Die können mir nichts anhaben.«

»Und was dann?«, fragte ich. »Glauben Sie, ich lasse Sie damit davonkommen? Ich habe Sie hier gesehen. Glauben Sie, ich würde Sie nicht verfolgen? Seien Sie nicht dumm. Legen Sie das Messer weg. Wir können uns unterhalten. Liefern Sie mir Morrison, und ich sorge dafür, dass man Sie milder behandelt.«

»Scheißdreck! Glauben Sie, das lässt Morrison zu?«

»Wo wollen Sie denn hin? Hm?« Ich rückte näher an ihn heran, und er wich in Richtung der offenen Haustür zurück. Ich durfte ihn nicht mit Natalia fortlassen. »Wo wollen Sie hin, Pol? Gehen Sie da raus, und in zehn Minuten ist Ihnen die halbe Polizei von Irland auf den Fersen. Morrison wird Ihre kleinste Sorge sein.«

»Ich tauche unter«, sagte er, und seine Stimme wurde schrill. »Was glauben Sie wohl, wie wir sie ins Land bringen? Sie meinen, ich kann nicht untertauchen? Mir einen neuen Namen geben und verschwinden?« Er kicherte manisch. Im Dielenlicht konnte ich seine Augen sehen: Die Pupillen waren stecknadelgroß, die Iris rot umrandet.

Ich machte einen Schritt in Richtung Kamin, wo ein Schürhaken lehnte.

»Keinen verdammten Schritt weiter«, sagte er. »Oder ich säge der Nutte den Kopf ab.« Wieder lachte er, ein sonderbares, schrilles Kichern, dass er offenbar nur schwer unter Kontrolle bekam.

»Sie können Hilfe bekommen«, sagte ich. »Morrison ist der, den wir wollen. Sie könnten ihn uns liefern. Das würde es einfacher für Sie machen.«

»Einfacher? Morrison? Der zieht mir bei lebendigem Leib die Haut ab.«

»Sie werden beschützt«, argumentierte ich. »Es ist Ihre einzige Chance.«

Er starrte mich an, als ziehe er meinen Vorschlag in Betracht. Dann schüttelte er energisch den Kopf und drückte das Messer dabei fester an Natalias Kehle. Sie schrie auf.

In diesem Augenblick trat Karol Walshyk durch die offene Haustür. Er hielt einen Stein, den er wohl bei uns im Garten gefunden hatte, hocherhoben in der Hand und schlug Strandmann mit Wucht auf den Hinterkopf, ohne dass dieser Gelegenheit gehabt hätte, ihn zu bemerken.

Strandmann stürzte schwer zu Boden, und sein Messer klapperte über den Holzbelag. Natalia fiel nach vorn und zog sich an der Wand entlang ins Wohnzimmer, wo Debbie zu ihr stürzte.

Karol kniete über Strandmanns reglosem Körper, den Stein wieder über dem Kopf erhoben. Noch einmal schlug er Strandmann damit fest auf den Kopf. Es gab ein dumpfes, übelkeiterregendes Geräusch, und Blut spritzte auf Karol und die Wand links neben ihm. Mit wutverzerrtem Gesicht hob er die Hand zum dritten Mal.

»Karol, nicht«, schrie ich, rannte zu ihm und streckte die Hand nach dem Stein aus.

»Er verdient es«, stieß Karol hervor, und in diesem Augenblick war sein Akzent sehr ausgeprägt. »Er verdient es für das, was er getan hat.«

»Ja«, sagte ich. »Aber nicht so. Er kann uns den Mann liefern, der Natalia ins Land geschmuggelt hat. Er kann uns helfen, denjenigen zu fassen, der für das alles verantwortlich ist.«

Karol starrte mich an, sein Körper schwankte vor Anstrengung. Er blickte auf die auf dem Bauch liegende Gestalt unter ihm, dann auf seine eigene Hand, die blutbespritzt war.

Schließlich stand er auf, trat zurück und ließ den Stein fallen, von dem Strandmans Blut herabtropfte. Ich hörte, wie meine Kinder im Obergeschoss aus dem Bett kletterten und sich wohl fragten, was da unten für ein Aufruhr herrschte. Debbie lief hastig zu ihnen hinauf, bevor sie an den Treppenabsatz kommen und herunterschauen konnten.

Karol ging an mir vorbei ins Wohnzimmer, wo er die Arme um Natalia legte. Sie schmiegte sich an ihn, Schluchzer ließen ihren Körper erbeben. Das Gesicht hatte sie in seinem blutbespritzten Hemd vergraben. Es war mir gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass es der Gerechtigkeit diente, wenn er Strandmann am Leben ließ. Nun musste ich nur noch mich selbst überzeugen.