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Mittwoch, 25. Oktober

»Sie haben draußen in der neuen Mine jemanden gefunden.«

Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, dass Patterson mich meinte. Ich blickte vom Schreibtisch hoch.

»Was?«

»Sie haben draußen in der Mine jemanden ausgegraben. Wir fahren hin«, sagte er gereizt. »Zu Orcas. Es handelt sich um eine Leiche«, erklärte er und wandte sich bereits zum Gehen.

»Das ist meist …«, setzte ich an.

»Schnauze«, unterbrach er mich. »Sieht so aus, als wär’s Seamus Curran. Gehen wir.«

Curran lag in derselben Grube, in der man einige Wochen zuvor Kate gefunden hatte. Genau wie sie war er erdrosselt worden: Die Seilverbrennungen am Hals waren deutlich zu erkennen. Zudem hatte man ihm mit Draht die Arme hinter dem Rücken gefesselt, und der Draht hatte tief in seine Haut geschnitten. Er lag mit dem Gesicht nach unten, den Mund wie in einem letzten verzweifelten Kuss in den Lehm am Boden der Grube gepresst.

»Ja, das ist er«, sagte ich zu Patterson.

»Offenbar enden alle, mit denen Sie sprechen, als Leichen«, bemerkte er und sah auf Curran hinab.

»Das ist eine ziemlich deutliche Nachricht«, sagte ich. »Und zwar nicht an mich. Damit teilt Morrison Weston etwas mit.«

»Woher wissen Sie, dass es Morrison war?«

»Er wusste, dass ich mit Curran gesprochen habe. Vielleicht hat er sich gedacht, dass wir uns an Curran halten würden, da Ford tot und der polnische Bursche in Haft ist. Sonst ist ja niemand mehr übrig.«

»Setzen Sie sich besser mit dem PSNI in Verbindung, die sollen Morrison zur Vernehmung reinholen.«

»Wurde der denn neulich nicht wegen des Treibstoffschmuggels festgenommen?«

»Scheiße, woher soll ich das wissen? Rufen Sie da an und finden Sie’s raus!«

Ich rief Gilmore selbst an und erläuterte ihm die Situation. Er hatte wenig Hoffnung, etwas aus Morrison herauszubekommen.

»Wir hatten ihn neulich zur Vernehmung hier wegen diesem Treibstoffabladeplatz, auf den ihr da gestoßen seid. Das ist ein ganz Kaltschnäuziger, das sag ich Ihnen. Saß einfach da und hörte sich alles an, was wir zu sagen hatten, hat sich nicht verteidigt, hat nichts fallen lassen. Nicht mal einen beschissenen Anwalt hat er mitgebracht.«

»Er ist der naheliegende Kandidat für den Mord an Curran.«

»Mag sein«, sagte Gilmore, »aber warten Sie bloß nicht mit angehaltenem Atem darauf, dass er zusammenbricht und gesteht. Der hat garantiert ein wasserdichtes Alibi. Der Mann ist wie Teflon. Dem können wir höchstens die Zollhinterziehung wegen dem Treibstoff da anhängen. Seine Laster fuhren alle mit grünem Diesel, soweit wir sie überprüft haben.«

»Reicht das, um ihn festzuhalten?«

»Wir haben nicht mal der Freilassung gegen Kaution widersprochen«, erklärte Gilmore. »Wozu?«

»Schon richtig«, setzte ich an.

»Bei diesem anderen Kerl, Strandmann, haben wir der Freilassung gegen Kaution widersprochen, aber sie haben ihn gehen lassen.«

Ich konnte es nicht fassen. »Was? Er hat eine Frau vergewaltigt! Und er ist ein Immigrant.«

»Trotzdem wird er genauso behandelt wie alle anderen. Wir hatten nichts, weswegen wir ihn hätten festhalten können. Er ist mitteilsam geworden, nachdem Sie Ford erschossen hatten. Alles sei Fords Schuld gewesen. Ford habe ihn gezwungen, ihm zu helfen, gegen seinen Willen. Das tschetschenische Mädchen würde lügen, damit sie hier bleiben kann.«

»Das war’s also?«

»Er hatte keine Vorstrafen und einen guten Anwalt«, erläuterte Gilmore. »Er musste seinen Pass dalassen und muss sich jeden Abend um sechs auf der örtlichen Polizeiwache melden.«

»Wer hat die Kaution gestellt?«

»Vincent Morrison natürlich.«

Ich klopfte an Pattersons Bürotür und öffnete sie, ohne auf ein »Herein« zu warten. Er telefonierte gerade. »Ich komme selbst, Sir. Wir sind in einer halben Stunde bei Ihnen.« Dann legte er auf. »Ich habe Sie nicht klopfen gehört!«, fuhr er mich an.

Ich berichtete ihm von Strandmanns Freilassung. »Der ist jetzt sowieso nicht mehr unser Problem, sollen die im Norden sich darum kümmern.«

»Was ist mit Weston?«, fragte ich.

»Ich habe gerade mit dem NBCI telefoniert«, sagte er. »Die schicken morgen früh ein Team hin. Und sie haben das Betrugsdezernat im Norden aufgefordert, das gleiche bei Eligius zu tun. Wir sollen heute zu Orcas fahren, sämtliche Unterlagen beschlagnahmen und den Laden dichtmachen. Hoffen wir bloß, dass alles auch so ist, wie es aussieht. Sonst sind wir beide am Arsch.«

»Weston hat eine schmutzige Weste«, sagte ich.

»Warum? Weil er reich ist?«

Ich wollte schon widersprechen, da fiel mir etwas auf. »Ich komme selbst«, hatte Patterson gesagt. Nicht »Ich fahre selbst hin«. Er hatte demjenigen, mit dem er telefonierte, gesagt, er werde in einer halben Stunde bei ihm sein.

»Sie haben Weston gesagt, dass wir kommen?«, fragte ich ungläubig.

»Das war nur ganz gewöhnliche beschissene Höflichkeit, Devlin. Wie Anklopfen. Was soll der Mann in einer halben Stunde schon groß tun?«

Mir fiel da einiges ein, aber ich biss mir auf die Zunge.

Patterson stand auf. »Sie brauchen gar nicht so zu gucken, Mann«, fügte er hinzu und setzte die Mütze auf. »Weston hat diesem County mit seiner Mine ein Vermögen beschert.«

»Gar nichts hat er uns beschert, der Laden produziert nicht mal genug Gold für einen beschissenen Ohrstecker.«

»Das werden wir bald sehen. Gehen wir.«

Die Fahrt zu Orcas schien ewig zu dauern. Ich behielt die Uhr im Auge: Patterson hatte Weston reichlich Zeit gegeben, um alle Beweise zu vernichten und seine Geschichte vorzubereiten. Unwillkürlich fragte ich mich, welchen Einfluss Weston eigentlich auf Patterson hatte. Wollte mein Vorgesetzter einfach nur diplomatisch vorgehen, indem er sich weiterhin gut stellte mit Weston? Oder hatte Harry sich kaufen lassen?

Wieder musste ich an die Halskette denken, die Weston mir geschenkt hatte, und an Pattersons Reaktion. Hatte Weston ihm sein Schmiergeld bereits gezahlt, als wir zum ersten Mal zu Orcas gefahren waren?

Als wir vor dem Hauptgebäude parkten, brach am grauen Wolkenhimmel gerade die Dämmerung herein. Die Landschaft vor uns war voller Narben, die Rinnen im unnatürlich zerklüfteten Antlitz des Bodens wurden langsam dunkel.

Als wir eintraten, kam Jackie, die Rezeptionistin, die wir schon von unserem ersten Besuch her kannten, hinter dem Empfangstresen hervor.

»Das ist unerhört«, sagte sie. Dann errötete sie über ihre eigenen Worte. »Mr Weston ist so ein feiner Mensch.«

»Wir würden gern mit ihm sprechen«, sagte Patterson. Ich ging an den beiden vorbei zur Treppe, die zu Westons Büro führte.

»Wir kennen den Weg«, sagte ich und nahm immer zwei Stufen auf einmal. »Er weiß, dass wir kommen.«

Jackie rief mir etwas hinterher, von wegen Durchsuchungsbefehl und unbefugtem Betreten. Doch mich beunruhigte mehr, dass Weston nicht selbst heruntergekommen war. Ich malte mir aus, wie er in seinem Büro so viele Dokumente wie möglich schredderte, während Patterson am Empfang Zeit vergeudete.

Auf dem Korridor im Obergeschoss standen mehrere Personen, die Köpfe der geschlossenen Tür von Westons Büro zugewandt, und murmelten leise.

»Verzeihen Sie«, sagte ich und drängte mich hindurch. Hinter mir hörte ich Patterson rufen, ich solle stehen bleiben.

Ich klopfte einmal laut an die Tür und ergriff gleich darauf den Türknauf. Er ließ sich nur wenige Millimeter drehen. »Machen Sie auf, Mr Weston«, rief ich und lehnte mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür.

Mittlerweile war Patterson direkt hinter mir. Er packte mich am Arm und versuchte mich von der Tür fortzuzerren. »Zurück, Inspektor!«, fuhr er mich an.

Ich riss mich los und warf mich mit Wucht gegen die Tür. Das musste ich mehrfach wiederholen, dann brach splitternd das Holz um das Schloss herum, und ich spürte, wie die Tür nachgab.

Ich stolperte in den Raum und suchte ihn zugleich nach Weston ab, doch der war nirgends zu sehen. Dann fiel mir auf, dass das Fenster offen stand. In der Ferne war das Blätterdach des Waldes zu sehen. Patterson und ich stürzten zum Fenster, aber ich wusste, wir kamen zu spät.

Unten auf dem Pflaster lag John Westons Leiche in einer Aureole aus seinem eigenen Blut.