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Donnerstag, 19. Oktober

Am nächsten Morgen fuhr ich zu Janet Moores Haus. Wenn ich wenigstens einen Blick auf den Briefumschlag werfen oder vielleicht sogar den Postboten abfangen könnte, würde ich womöglich erfahren, was Leon Bradley ihr geschickt hatte.

Um elf Uhr war der Postbote noch immer nicht erschienen, und einer von Moores Nachbarn war offenbar misstrauisch geworden, denn ein Jeep des PSNI hielt neben mir.

Jim Hendry kurbelte das Fenster herunter und beugte sich heraus. »Dachte ich’s mir doch, dass Sie es sind. Was haben Sie eigentlich vor, Mann? Sie haben keinen Schlüssel.«

»Ich wollte den Postboten überfallen«, witzelte ich.

»Sie kommen zu spät«, erwiderte Hendry – aber an seiner Miene erkannte ich, dass er nicht witzelte.

»Was?«

»Sie kommen zu spät. Er wurde heute Morgen angefahren, als er mit dem Fahrrad die Derry Road runterfuhr. Ein Auto hat ihn geschnitten.«

»Hat er gesehen, wer das war?«

»Ein Kerl mit einem Pferdschwanz«, sagte Hendry. »Ist ausgestiegen, um ihm aufzuhelfen, dann hat er seine Posttasche genommen und ist davongebraust.«

»Pferdeschwanz mal wieder?« Allmählich nahmen die Dinge Form an. Aber wie passte Pferdeschwanz zu Eligius?

»Jetzt sehen Sie nicht gleich wieder eine Verschwörung«, sagte Hendry und warf mir eine Zigarette zu, ehe er sich selbst eine ansteckte. »Es könnte auch wirklich ein Unfall gewesen sein.«

»Nur dass sie die vermaledeite Posttasche geklaut haben«, widersprach ich. Dann wurde mir klar, welche Konsequenz der Diebstahl hatte. »Also werden wir nie erfahren, was Leon Bradley bei Eligius gefunden hat. Da war jemand schneller als wir.«

Hendry nickte. »Beinahe«, sagte er lächelnd, und sein Schnurrbart zuckte. Er nahm einen braunen Umschlag vom Armaturenbrett und reichte ihn mir. Der Umschlag wies einen Stempel mit dem Eligius-Logo auf und war handschriftlich an Janet Moore adressiert worden.

»Wie sind Sie denn da rangekommen?«, fragte ich.

»Ich war gestern Abend noch in der Sortierstelle. Hab denen da erklärt, dass die Adressatin ermordet wurde und so.«

Der Umschlag war bereits geöffnet worden. »Was ist drin?«, fragte ich.

»Ich würde mir an Ihrer Stelle nicht zu viel davon versprechen«, sagte Hendry. »Ein Haufen Zahlen. Speditionsaufträge. Ertragsberichte. Nichts, womit man etwas anfangen könnte.«

Ich öffnete den Umschlag und entnahm ihm ein Bündel Dokumente. Hendry hatte recht. Auf den Seiten waren prozentuelle Ertragswerte über mehrere Monate hinweg aufgelistet, und am Kopf jeder Spalte standen Abkürzungen: Ag, Au, Cu, Fe. Auf dem nächsten Blatt waren die Speditionsaufträge des vergangenen Jahres aufgeführt. Der Name auf der Rechnung lautete VM Haulage.

Gerade als ich die Papiere zurück in den Umschlag steckte, klingelte mein Telefon. Die Telefonnummer im Display hatte eine Vorwahl aus dem Norden. Als ich das Gespräch annahm, fragte mich eine Männerstimme barsch: »Wer sind Sie?«

»Sie haben mich angerufen«, sagte ich. »Wer sind Sie

»Heißen Sie Devlin?«, wollte der Mann wissen.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Ich bin Sergeant Burke. Ich bin beim PSNI in Omagh. Wir haben eine junge Frau wegen Straßenprostitution festgenommen. Sie hatte Ihre Telefonnummer.«

»Wer ist sie?«

»Das wissen wir nicht. Sie kann offenbar kein Englisch. Sie hat uns eine Visitenkarte mit Ihrer Telefonnummer gegeben, damit wir Sie anrufen.«

»Ich bin unterwegs«, sagte ich und drehte den Zündschlüssel.

Hendry willigte ein, sich für mich mit Burke in Verbindung zu setzen, während ich nach Omagh fuhr. Ich hatte die Siedlung schon hinter mir gelassen und fuhr auf die Landstraße, da fiel mir auf, dass ich ganz vergessen hatte, Jim den Eligius-Umschlag zurückzugeben.

Während ich die Omagh Road entlangfuhr, wurde der Himmel grau und drohte mit Regen. Ich fand die PSNI-Wache nicht auf Anhieb, und dann musste ich weitere zehn Minuten warten, bis Burke kam. Nun fiel mir auch ein, dass ich seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, und sogleich knurrte mein Magen.

Burke war ein junger Sergeant, was möglicherweise seine großspurige Art am Telefon erklärte. Er hatte lange Haare, und ein Dreitagebart bedeckte sein Kinn. Unentwegt fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und warf sie beim Sprechen mit ruckartigen Kopfbewegungen nach hinten. Während er mich zu der Zelle führte, in der man Natalia festhielt, erklärte er, wie es zu ihrer Verhaftung gekommen war.

Sie hatten einen Tipp erhalten. Ein hiesiger Geistlicher hatte von einem seiner Gemeindeglieder erfahren, dass ausländische Mädchen sich in einem der unfreundlicheren Stadtviertel an den Straßenecken prostituierten. Autos hielten an, nahmen sie mit und setzten sie eine Viertelstunde später wieder ab. Man musste kein Sherlock Holmes sein, um darauf zu kommen, was da vor sich ging.

Burke und drei weitere Polizisten in Zivil hatten die Straße überwacht. Drei Mädchen hatten gerade gearbeitet. Zwei hatten die Männer kommen sehen, sie auch in Zivil sofort als Polizisten erkannt und die Beine in die Hand genommen. Nur Natalia war festgenommen worden.

»Sie hat nicht mal versucht wegzulaufen«, schnaubte Burke.

»Vielleicht wollte sie geschnappt werden«, schlug ich vor.

»Häh?« Skeptisch sah er mich an, eine Augenbraue erhoben, die Lippen leicht verzogen. »Und warum sollte sie das wollen?«

Er stieß die Tür zum Vernehmungsraum auf. Natalia sah beträchtlich älter aus als bei unserer letzten Begegnung. Sie trug ein enges weißes T-Shirt und einen ausgefransten Jeansrock, der ihr kaum bis über den Schritt reichte. Ihre Arme waren mit Blutergüssen übersät, und die Haare hingen ihr zottelig ins Gesicht. Eine Prellung, die sich bereits gelb verfärbt hatte, umschattete ihr linkes Auge. Einen Arm hatte sie um den Brustkorb geschlungen.

»Gütiger Himmel«, sagte ich.

Sie sah hoch, der Blick hart, das Kinn vorgereckt. Als sie mich erkannte, wurde ihr Blick für einen kurzen Moment weicher und ihr Mund zuckte, als wollte sie lächeln. Aber sogleich gefror ihre Miene wieder, als fiele ihr jetzt ein, dass ich derjenige war, der für ihr Schicksal verantwortlich war, und sie wandte den Kopf ab.

Ich trat zu ihr, ging vor ihrem Stuhl in die Knie und legte ihr die Hände auf die Schultern, doch sie schüttelte sie ab. Ich neigte den Kopf, um ihren Blick aufzufangen, aber sie wich mir aus.

»Es tut mir so leid«, sagte ich. »Himmel, es tut mir so leid.«

Schließlich sah sie mich doch an. In ihrem Inneren schien etwas aufzubrechen. Plötzlich zuckte ihre Nase, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie stotterte etwas auf Tschetschenisch und schlug mit den Fäusten auf mich ein. Die Schläge prallten von meinen Schultern und an der Seite meines Kopfes ab. Ich kniete vor ihr und ließ mich schlagen, bis ihre Tränen versiegten. Dann zog ich sie an mich und hielt sie fest. Anfangs versteifte sie sich, doch dann erwiderte sie die Umarmung.

»Jetzt verstehe ich, warum sie Ihre Visitenkarte hatte«, bemerkte Burke.

»Halten Sie die Schnauze«, fuhr ich ihn an, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Burke ging, und sein Vorgesetzter kam herein, ein Inspektor namens Charlie Gilmore.

»Sie waren ein bisschen schroff zu Peter«, sagte er.

»Ach, ja?«

Gilmore nickte. »Er ist jung. Kein Grund, grob zu ihm zu sein. Sie sind hier nicht in Ihrem Revier.«

»Hier geht es nicht um Reviere, es geht darum, so mit Menschen umzugehen, als gehörten wir alle zur selben Spezies.«

»Ach, wir wissen sehr wohl, dass wir alle zur selben Spezies gehören. Was wir uns allerdings fragen, ist, woher genau sie wohl stammt. Ich setze auf Russland.« Er nickte knapp, als könnte diese Information meine Reaktion beeinflussen.

»Sie ist Tschetschenin. Sie heißt Natalia Almurzayev«, sagte ich.

»Und woher kennen Sie sie?«, fragte er, zerrte den Stuhl hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich.

»Ihr Mann wurde vor drei Wochen in Lifford erschossen.«

Er nickte. »Der versuchte Bankraub, der Typ mit der Plastikpistole.«

»Genau.«

»Seine Frau war mit ihrer kriminellen Laufbahn aber auch nicht viel erfolgreicher«, bemerkte er glucksend. »Und wie unterhalten wir uns jetzt mit ihr?«

Eine Stunde später wurde Karol Walshyk in den Vernehmungsraum geführt. Irgendjemand hatte einen Teller mit Sandwiches und Tee aufgetrieben. Ich hatte versucht, mich mit Natalia zu verständigen, doch vergeblich. Sie sagte immer wieder »gut«, während sie aß, und lächelte gezwungen. Doch das Lächeln, mit dem sie Karol begrüßte, war echt, und ganz kurz schimmerte die Frau auf, die sie gewesen sein musste, bevor sie nach Irland gekommen war.

In Karols Reaktion mischten sich Entsetzen und Mitleid. Er sprach sie sofort auf Tschetschenisch an und ignorierte uns andere. Schließlich schien er mit ihren Antworten zufrieden zu sein, stellte sich neben sie, nahm ihre Hand und wandte sich mir zu.

Gilmore kam mit Burke herein. Instinktiv nahm ich den Stuhl, den man für mich neben die der PSNI-Beamten gestellt hatte, und rückte ihn auf die andere Tischseite, neben Natalia.

Gilmore legte zwei leere Bänder in den Kassettenrekorder, der auf dem Tisch befestigt war, und schaltete ihn ein. Dann nannte er Datum und Uhrzeit, stellte sämtliche Anwesenden vor und begann mit der Vernehmung.

»Können Sie uns erklären, was Sie gerade taten, als Sie verhaftet wurden?«, fragte er.

An dem Abend, als ich sie aus dem Haus in Strabane geholt hatte, war Natalia mit Helen Gorman zu einem Imbisslokal in der Nähe gefahren. Nachdem ich Gorman angerufen und gebeten hatte, mir bei der Verfolgung von Pferdeschwanz zu helfen, hatte sie Natalia gesagt, sie müsse kurz weg. Doch eine Stunde später war sie noch immer nicht zurückgekehrt, und Natalia machte sich allmählich Sorgen, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte. Dann kam die Kellnerin an ihren Tisch, um sie zu warnen, dass sie von einer Gruppe männlicher Jugendlicher in einer Ecke des Lokals beobachtet wurde. Einer trug einen Trainingsanzug und hatte blond gefärbte Haare. Er rief ihr etwas zu, was bei seinen Freunden lautes Wiehern auslöste. An seinem Gesichtsausdruck erkannte Natalia deutlich, in welche Richtung seine Bemerkung gegangen war.

Eingeschüchtert verließ sie das Lokal, voller Angst, die Jungen könnten ihr folgen. Sie lief die Umgehungsstraße entlang nach Hause. Als sie dort ankam, waren ihre Freunde in heller Aufregung. Verärgert über ihre Abwesenheit hatte der Mann mit dem Pferdeschwanz ihnen gedroht, er werde am folgenden Abend wiederkommen. Falls sie bis dahin das Geld nicht hatte, würden die anderen Hausbewohner dafür büßen müssen.

Sie würde sich etwas überlegen, versprach sie ihnen. Sie würde den Polizisten um Hilfe bitten.

In diesem Moment wurde die Haustür aufgestoßen. Pferdeschwanz kam direkt auf sie zu, sein Mund zu einem wütenden Schlitz zusammengepresst. Er packte sie an den Haaren und schlug sie mit dem Gesicht gegen die Wand. Er beschimpfte sie. »Schlampe«, sagte er. »Schlampe.«

Die Schläge waren so hart, dass ihre Nase brach. Sie schrie, und eine der anderen Frauen sprang Pferdeschwanz auf den Rücken. Er schlug Natalia erneut mit der Faust ins Gesicht, sodass sie zu Boden ging, dann warf er sich mit dem Rücken gegen die Wand und presste damit der Frau, die ihr hatte helfen wollen, die Luft aus den Lungen. Als zwei der Männer des Hauses über Pferdeschwanz herfielen, kam sein Komplize mit dem Schlagholz herein. Er brüllte die Männer auf Polnisch an und hob den Stock. Als sie zurückwichen, packte er Natalia an den Haaren und zerrte sie in die Küche, während Pferdeschwanz sich der beiden Männer annahm.

Sie verstand einen Teil dessen, was der Mann zu ihr sagte. Er wollte wissen, was sie der Polizei erzählt hatte. Sie sagte, sie habe nicht mit der Polizei gesprochen, und da zerriss er ihr vorne das Kleid. Er nahm ein Messer von der Arbeitsfläche, packte sie an den Haaren und hielt ihr das Messer an die Kehle. Dann fragte er sie nochmals, und wieder leugnete sie, von sich aus die Polizei gerufen zu haben. Schließlich drückte er ihr das Messer gegen die Luftröhre und drehte die Spitze gerade so weit, dass sie ihre Haut ritzte. Dann drückte er fester zu. Natalia schrie und versprach, sie werde ihm alles erzählen. Es sei wegen ihres Mannes, schrie sie. Er sei gestorben, und da sei die Polizei gekommen.

Der Mann ließ von ihr ab. Er schien über etwas nachzudenken. Dann kam Pferdeschwanz in die Küche, ein Handy in der Hand. Er sprach mit dem jüngeren Mann und schien ihm eine Anweisung zu geben. Der jüngere Mann sah sie an, und sein Blick ruhte auf ihrer Brust, die blutbespritzt war. Es schien ihm zu widerstreben, dass er gehen sollte, und er leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Pferdeschwanz sagte noch etwas, diesmal schroffer, und sein Partner stampfte aus der Küche.

Fünf Minuten später fuhr ein weißer Transporter in die Einfahrt. Die Bewohner des Hauses wurden ins Heck verfrachtet. Natalia stand da und wartete darauf, dass man sie zu ihren Landsleuten brachte, aber Pferdeschwanz packte sie am Unterarm und schubste sie die Einfahrt hinab zu ihrem Pkw. Er öffnete die hintere Tür und schob sie auf den Rücksitz.

Der jüngere Mann saß auf dem Fahrersitz. Er zwinkerte ihr zu. Wieder sagte er etwas auf Polnisch. Sie werde sich ihre Miete verdienen, sagte er. Dann drückte er mit der Zunge von innen gegen die Wange. Die Innenbeleuchtung des Wagens fiel auf die Narbe, die seitlich über seinen Kopf verlief: Sie war leuchtend rot.

Seither hatte sie ihre Freunde nicht wiedergesehen, und offenbar wusste sie auch nicht, dass das Haus, in dem sie gewohnt hatte, abgebrannt war. Sie waren mit ihr irgendwohin gefahren. Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde. Dann hielten sie in der Einfahrt eines alten roten Backsteinhauses, das hinter hohen Bäumen, die den Garten säumten, vor der Straße verborgen lag.

Pferdeschwanz und der Mann mit der Narbe führten sie ins Haus. Es war recht komfortabel eingerichtet, besser als das Haus, in dem Natalia bisher gewohnt hatte. Während Pferdeschwanz einen Anruf tätigte, brachte der Mann mit der Narbe sie nach oben und riss ihr dort das Kleid vollends vom Leib. Dann zwang er sie auf den Boden.

Hier brach die Geschichte ab, zum einen, weil Natalia selbst so verstört war, zum anderen, weil Karol Walshyk um eine Pause gebeten hatte. Er wirkte erschöpft, in seinen Augen standen die Tränen. Gilmore widerstrebte es zwar, die Bänder anzuhalten, doch er stimmte der Pause zu und schickte nach einer Polizistin.

Ich stand auf, um mir die Beine zu vertreten, und stellte mich zu Gilmore an die Tür.

»Ich weiß, wer der Mann mit der Narbe ist«, sagte ich.

Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Wer?«

»Er heißt Pol Strandmann. Er verkauft sonntags Zeug auf dem Markt außerhalb von Derry.«

»Gut zu wissen«, sagte er und wandte sich wieder ab. Seine Reaktion gefiel mir nicht.

»Wollen Sie ihn nicht festnehmen?«, fragte ich.

»Hier laufen noch andere Sachen, Inspektor Devlin. Wir holen ihn uns schon noch.«

»Er hat sie vergewaltigt. Er kann deswegen angeklagt werden«, sagte ich und legte ihm die Hand auf den Arm.

Er sah hinab auf meine Hand. »Sie sind hier nur begrenzt willkommen, vergessen Sie das nicht.«

»Er hat sie vergewaltigt«, wiederholte ich eindringlich, versuchte aber, meine Stimme ruhig zu halten.

»Würden Sie bitte mit vor die Tür kommen?«, bat Gilmore gepresst, öffnete die Tür und trat auf den Korridor.

»Warum …«, begann ich, doch Gilmore unterbrach mich, indem er mir den Finger in die Schulter stieß.

»Eins wollen wir doch klarstellen, Devlin. Sie können hier nicht einfach ankommen, meine Leute beleidigen und mir dann sagen, was ich zu tun habe …«

»Sie werden ihn nicht festnehmen, nicht wahr?«

»Ein Schläger vergewaltigt eine Prostituierte. Na, und? Tut mir leid für sie, wirklich. Sie sind nicht der Einzige hier, der Gefühle hat. Aber es sind noch andere Frauen darin verwickelt. Wir glauben, der Kerl mit dem Pferdeschwanz ist an diversen Bordellen zwischen hier und Strabane beteiligt, in denen es überall um Osteuropäerinnen geht. Wenn wir den schnappen können – und, wichtiger noch, seine Hintermänner –, dann erreichen wir verdammt viel mehr, als wenn wir einen Vergewaltiger einlochen.«

Es machte mich ganz krank, aber ich musste einräumen, dass Gilmores Einschätzung der Lage vernünftig klang. Doch das machte die Sache nicht weniger widerwärtig. Ich würde mir Pol schon noch holen, so viel war sicher.

Ich nickte. »Entschuldigen Sie.«

Gilmore sah mich lange an. »Vergessen Sie’s. Wir sollten wieder reingehen.«

Als die Befragung fortgesetzt wurde, verdüsterte sich die Atmosphäre im Vernehmungsraum noch mehr. Gilmore fragte nach dem Mann mit dem Pferdeschwanz: Hatte er Namen erwähnt, irgendwie erkennen lassen, für wen er arbeitete? Natalia hörte sich Karols Übersetzung der Fragen an, dann schüttelte sie den Kopf.

»Was ist passiert, nachdem Sie missbraucht wurden?«, fragte Gilmore.

Wieder sah Natalia Karol an, während er die Frage an sie weitergab. Ihr Blick ruhte auf seinem Mund, als läse sie von seinen Lippen ab. Dann begann sie zu sprechen, und ihre Worte überschlugen sich.

»Sie wurde gezwungen, sich zu prostituieren«, sagte Karol und blickte zwischen Natalia und Gilmore hindurch. »Um ihre Schulden zu bezahlen.«

»Haben Sie jemals jemanden gesehen, von dem Sie dachten, er könnte der Anführer sein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur den Mann mit dem Pferdeschwanz und den mit der Narbe«, übersetzte Karol.

»Sagen Sie ihr, sie muss sich Verbrecherfotos ansehen. Um den Mann mit dem Pferdeschwanz, wenn möglich, für uns zu identifizieren.«

Karol übersetzte, und sie nickte.

»Was ist mit Strandmann?«, fragte ich. »Zu ihm haben wir eine Spur. Sein Wagen wurde vor dem Haus gesehen, in dem Natalia ursprünglich gewohnt hat. Das reicht, um ihn auf die Wache zu holen.«

»Ich habe es Ihnen doch gesagt: Wir werden dem nachgehen«, sagte Gilmore.

Bis nach Mitternacht saß ich auf der Wache, während Natalia Aktenordner mit Fotos durchsah, ohne jemanden wiederzuerkennen. Karol Walshyk saß neben mir, eine Tasse mit längst erkaltetem Tee unberührt in der Hand.

»Das ist ein schreckliches Land«, stellte er fest.

»Manchmal«, stimmte ich zu. »Manchmal ist es gar nicht so übel.«

»Diese Geschichte, die Natalia erzählt hat. Hören Sie so etwas oft?«

»Wir tun einander grausame Dinge an«, sagte ich. »In Polen müssen Sie Ähnliches gesehen haben.«

»Es ist so …«, er suchte nach dem passenden Wort, »… kaltschnäuzig.«

Ich nickte, ohne ihn anzusehen.

»Es muss schwer sein, nicht genauso kaltschnäuzig zu werden. Sich nicht daran zu gewöhnen«, fuhr Karol fort und deutete auf Burke, der hinter Natalia stand. »Wie er.«

Ich folgte seinem Blick zu Burke, der mit den übrigen Angehörigen des Teams scherzte. Ich vermisste Caroline Williams. Ich vermisste es, jemanden zu haben, auf den ich mich bei der Arbeit verlassen konnte. Und ich fragte mich, was ich an einem Freitag in den frühen Morgenstunden in einer zugigen Polizeistation in Omagh zu suchen hatte, obwohl ich eigentlich nicht einmal arbeiten durfte.

Gilmore kam zu uns. »Sie hat niemanden erkannt«, sagte er. »Wir werden nach dem Burschen mit der Narbe Ausschau halten, der, wie Sie sagen, auf den Märkten steht. Mal sehen, ob wir eine Verbindung herstellen können. Jetzt müssen wir erst mal einen sicheren Ort für sie finden. Wir haben im Frauenhaus angerufen, aber das ist voll. Der diensthabende Sozialarbeiter geht nicht an sein Scheißtelefon. Morgen können wir sie irgendwo unterbringen. An einem sicheren Ort, bis wir diesen Kerl mit dem Pferdeschwanz erwischen. Sie muss ihn nur eindeutig identifizieren.«

»Sie kann über Nacht bei uns bleiben«, sagte ich. »Meine Frau ist zu Hause.«

Hinter Gilmores Schulter sah ich Natalia allein am Tisch sitzen und mit ihren kleinen Zähnen auf ihrem Daumennagel kauen.

Ich nahm Natalia mit zu uns nach Hause und ließ sie in der Küche sitzen, während ich nach oben ging, um Debbie zu wecken und ihr die Situation zu erläutern.

Schlaftrunken wie sie war, musste ich ihr mehrmals erklären, warum eine osteuropäische Frau in unserer Küche saß.

»Du hast uns eine Prostituierte ins Haus gebracht?«, wiederholte sie zum dritten Mal.

»Sie kann sonst nirgendwohin. Sie kennt sonst niemanden.«

»Was ist mit den Sozialeinrichtungen?«

»Die sind nicht zu erreichen.«

»Also nehmen wir sie an deren Stelle auf?«

Ich lächelte grimmig, als wäre ich ebenso verärgert wie sie.

»Das ist nicht witzig, Ben. Ich will sie nicht in meinem Haus haben. Such ihr eine andere Bleibe.«

»Du kannst sie nicht auf die Straße setzen, Debs. Sie kann sonst nirgendwohin.«

»Ich setze sie nicht auf die Straße. Du tust das. Was denkst du dir dabei, eine Prostituierte bei uns schlafen zu lassen?«

»Ich hatte keine andere Wahl.«

»Wie kommt es, dass niemand sonst sie aufgenommen hat? Warum musstest ausgerechnet du das tun? Das ist mein Zuhause. Wir haben Kinder hier, Ben, die ihr Zuhause nicht mit einer Scheißprostituierten teilen sollten.«

Ich suchte nach einer Erwiderung, aber Debbie stand auf und fegte an mir vorbei, um ihren Morgenmantel zu holen.

Zusammen gingen wir nach unten. Als Debbie die Küche betrat, lächelte sie Natalia steif an.

»Ich mache Tee«, sagte sie und drehte den Wasserhahn vor lauter Zorn so schwungvoll auf, dass das Wasser sowohl den Wasserkocher als auch das Fenster hinter der Spüle vollspritzte. Natalia lächelte mich verlegen an, dann zeigte sie auf die Küche. Sie drehte den Kopf, um Debbies Blick aufzufangen. »Ist hübsch«, brachte sie hervor. »Hübsch.«

Debbie dankte ihr, dann bereitete sie schweigend den Tee zu. Ich stellte Tassen sowie Milch und Zucker auf den Tisch, und Debbie trug die Teekanne herüber. Sie setzte sich gegenüber von Natalia an den Tisch, lächelte ihr verhalten zu und versuchte, irgendwie ein Gespräch in Gang zu bringen, allerdings ohne großen Erfolg.

Schließlich funkelte sie mich wütend an und sagte, sie werde Natalia jetzt oben ihr Zimmer zeigen. Ich hörte, wie sie Natalia erklärte, wo die Toilette war und dass die Kinder im Zimmer nebenan schliefen. Als sie wieder herunterkam, stand ich an der Hintertür und rauchte eine letzte Zigarette vor dem Zubettgehen.

»Danke, Debs«, sagte ich. »Sie ist ein nettes Mädchen.«

»Aber morgen muss sie gehen«, entgegnete sie und stellte das Geschirr in die Spüle.

Ich rauchte schweigend und hoffte, dass ihr Zorn mit der Zeit vergehen würde.

Schließlich fragte sie: »Was ist ihr zugestoßen?«

»Sie wurde vergewaltigt.«

Debbie hielt inne in dem, was sie gerade tat, und starrte mich an.

»Und ich glaube, es war meine Schuld«, sagte ich, schnippte die Kippe hinaus auf den Gartenweg und schloss die Tür.