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Freitag, 13. Oktober
Die übrige Woche verlief ziemlich ereignislos. Allerdings trieb mich das Tagesprogramm im Fernsehen bald dazu, den Zaun zu streichen. Als ich am Freitagmorgen gerade das letzte Stück strich, parkte ein Wagen mit Dubliner Kennzeichen am unteren Ende unserer Einfahrt.
Zu meiner Freude war der Besucher Fearghal Bradley. Ein wenig verlegen kam er die Einfahrt herauf und streckte die Hand aus.
»Benny«, sagte er.
»Fearghal«, antwortete ich. »Was führt dich denn her?«
»Ich … ich dachte, ich schau mal vorbei und sehe nach, wie’s dir geht. Ich habe gehört, man hat dich vom Platz gestellt. Tut mir leid. Wegen Leon.« Beim Reden rang er die Hände, seine Stirn war gerunzelt.
»Wie geht’s ihm?«, fragte ich.
»Es … es geht ihm gut. Er ist wegen Schusswaffenmissbrauchs angeklagt oder so. Kam gegen eine Kaution von zehntausend frei und muss Ende des Monats in Letterkenny erscheinen.«
Ich nickte: Das hatte ich mir gedacht. Wegen eines Ulks würde er nicht ins Gefängnis müssen, aber eine hohe Kaution würde ein ordentlicher Denkzettel sein. Falls er auf der anderen Seite der Grenze bliebe und seinen Gerichtstermin versäumte, hätten sie immer noch zehn Riesen aus ihm herausgeholt.
»Ein teurer Spaß.«
Fearghal nickte, erwiderte aber nichts, und ich hatte den Eindruck, dass etwas anderes ihm Sorgen bereitete.
»Und wie geht’s Kate?«, fragte ich.
Ich meinte, Fearghal unwillkürlich aufstöhnen zu hören. »Weston will sie Hagan schenken, nach dem, was passiert ist. Sie wird nach Amerika verschickt.«
»Das tut mir leid …«, setzte ich an, doch nun sagte Fearghal endlich das, weswegen er wirklich gekommen war.
»Ich fühle mich beschissen, weil ich das tue, aber ich brauche deine Hilfe. Leon braucht deine Hilfe.«
»Warum?«, fragte ich.
»Hast du von dem Einbruch bei Eligius gehört?«
Ich spürte, wie meine Gesichtszüge gefroren, obwohl ich mich bemühte, weiter zu lächeln. »Wahrscheinlich gehen wir besser ins Haus.«
Eligius war ein US-amerikanisches Rüstungsunternehmen, das einige Jahre zuvor eine Niederlassung außerhalb von Omagh eröffnet hatte. Damals hatte es reichlich schlechte Presse bekommen, nicht zuletzt infolge des amerikanischen Engagements im Irak und der Auffassung, dass die Einwohner der Stadt die Früchte ihrer gerade frisch aufgenommenen Arbeit auf Sky News über Bagdad würden explodieren sehen können. Wie sich herausstellte, produzierte das Werk einen Mikrochip für Mannschaftstransportpanzer, doch die Büros in Omagh waren zugleich die europäische Firmenzentrale.
Ich hatte am Morgen in den Nachrichten von dem Einbruch erfahren. Am Abend zuvor waren vier Personen in die Büros von Eligius eingebrochen und hatten vorne am Gebäude ein Antikriegstransparent aus dem Fenster gehängt. Einer von ihnen – eine in der Gegend wohlbekannte Person namens Seamus Curran – hatte vor der versammelten Presse und der Polizei über Megafon antiamerikanische Slogans skandiert.
Irgendwann waren dann aus einem Fenster im ersten Stock mehrere Computer und später diverse brennende Papiere geworfen worden. Auf den Fernsehbildern waren in einiger Entfernung die übrigen drei Einbrecher zu sehen gewesen, doch nicht deutlich genug, um sie zu erkennen. Fearghal jedoch versicherte mir, es gebe keinen Zweifel an Leons Beteiligung.
»Der verdammte Idiot hat mich gestern Abend von dort angerufen. Um kurz nach drei Uhr morgens haben sie ihn da rausgeholt.«
»Warum hat er das getan?«, fragte ich.
»Wieder einer dieser bescheuerten Publicity-Gags.«
»Und warum bist du zu mir gekommen? Was kann ich tun?«
»Wir haben gehofft, du könntest ein gutes Wort für ihn einlegen. Bei den Cops im Norden.«
Ich sagte nichts, doch offenbar verstand Fearghal genau, was ich empfand.
»Schau, ich weiß, er hat dich hier reingeritten«, sagte er. »Wenn du ihm nicht helfen willst, könnte ich das verstehen, aber bitte hilf mir. Bitte.«
Ich rief Hendry an, der mir den Namen des Beamten in Omagh nannte, welcher die Festnahme vorgenommen hatte, doch als ich diesen anrief, waren Leon und seine drei Mitangeklagten bereits unterwegs, um dem Richter vorgeführt zu werden.
So rasch ich konnte, tauschte ich meine farbverschmierte Kleidung gegen frische, aber als wir in Omagh ankamen, war das Eligius-Quartett, wie man sie getauft hatte, bereits dem Richter vorgeführt worden. Der Anwalt, der sie vertrat, sprach kurz mit Fearghal und erklärte ihm, was bei dem Gerichtstermin geschehen war. Er nannte ihm die Namen der vier Angeklagten, doch der einzige, den ich außer Leon kannte, war besagter Seamus Curran – er war einige Jahre zuvor im Rahmen eines Justizirrtums in der Presse gewesen. In den 1970er-Jahren hatte Curran zu einer Reihe von Männern gehört, die mit dem Vorwurf des Terrorismus in England verhaftet worden waren. Man hatte ihnen eine Rechtsvertretung verweigert und Geständnisse aus ihnen herausgeprügelt. Vor einigen Jahren war Currans Verurteilung aufgehoben worden, verbunden mit einer nicht spezifizierten Entschädigung und einer Entschuldigung seitens des Home Office. Ob er vor seiner Inhaftierung vor dreißig Jahren bereits politisch engagiert gewesen war oder nicht, war unklar, doch die Haft hatte ihn definitiv politisiert, und in den örtlichen Zeitungen waren häufig Fotos von ihm zu sehen, wie er Demonstrationen gegen die eine oder andere Sache anführte, ohne einer bestimmten Gruppierung anzugehören.
Die Anhörung war offenbar rasch und ereignislos verlaufen. Ein Beamter des PSNI, der sich dem Gericht als Inspektor Sweeney vorgestellt hatte, hatte die Fakten des Falls umrissen und erklärt, er könne die vier Angeklagten mit dem Einbruch in Verbindung bringen.
Leon Bradley sagte kaum etwas, sondern gab nur seinen Namen und sein Alter zu Protokoll. Der Richter setzte die Kaution auf jeweils zweitausend Pfund pro Person fest. Am 28. sollten sie wieder vor Gericht erscheinen. Sweeney seinerseits warnte davor, dass bei Bradley nach dem Vorfall im Donegal ein Fluchtrisiko bestehen könne, und schlug vor, ihn nicht gegen Kaution freizulassen. Der Richter setzte stattdessen bloß die Kaution für ihn auf fünftausend Pfund hoch, verbunden mit der Auflage, er müsse sich bis zur Verhandlung täglich auf der Polizeiwache in Omagh melden.
Fearghal beschaffte die Kaution, so schnell er konnte, und später am Vormittag holten wir Leon auf der Wache an der Gortin Road ab. Fearghal bat darum, unter vier Augen mit Leon sprechen zu dürfen, ehe man ihn freiließ, und ich schätzte, dass er ihn auf meine Anwesenheit vorbereiten wollte.
Während ich im Eingangsbereich der Wache wartete, blätterte ich die Lokalzeitung, den Tyrone Herald, durch und fand zu meiner Überraschung einen Artikel über Ted Coyle, den Goldschürfer vom Carrowcreel. Er behauptete, er sei an seinem Lagerplatz am Fluss überfallen worden und habe mit gebrochenen Rippen und einem gebrochenen Knöchel ins Krankenhaus gemusst. Die Gardai glaubten, es habe sich um einen Raubüberfall gehandelt, möglicherweise habe es jemand auf sein Goldnugget abgesehen. Superintendent Harry Patterson rief die Menschen auf, sich von dem Lager fernzuhalten, und wies darauf hin, dass in der ganzen Zeit, die die Goldschürfer nun schon im Fluss nach Gold suchten, nur Coyle etwas gefunden habe, was der Rede wert sei. Zudem hätten die vermehrten menschlichen Aktivitäten am Fluss auch bereits negative Auswirkungen auf die dortige Tierwelt und ermöglichten überdies die Art von Gesetzlosigkeit, die zu dem Überfall auf Ted Coyle geführt habe.
Als Leon aus der Zelle geführt wurde, lächelte er mir verlegen zu. Seine Haare waren noch zerzauster als bei unserer letzten Begegnung, und seine Kleidung roch sowohl nach Zigaretten- als auch nach Holzfeuerrauch. Mir fiel auf, dass er um die Augen herum dünn Eyeliner aufgetragen hatte, und dies im Verein mit seinem schmalen Körperbau, seiner blassen Haut und den ausgeprägten Wangenknochen verlieh ihm ein vage feminines Aussehen – ein deutlicher Kontrast zu der bärenhaften Erscheinung und frischen Gesichtsfarbe seines älteren Bruders.
»Ben«, sagte er und hob den Kopf.
»Leon«, erwiderte ich, faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Sitz, auf dem ich sie gefunden hatte.
»Okay«, sagte Fearghal und rieb sich die Hände. »Besorgen wir uns was zu essen, was, Männer?«
Wir gingen in ein Café am Rand von Omagh. Während Fearghal und ich ein warmes Frühstück zu uns nahmen, begnügte Leon sich mit Kaffee und einer selbst gedrehten Zigarette, obwohl er seit beinahe einem Tag nichts gegessen hatte. Fearghal machte ihm Vorhaltungen wegen seiner Taten, doch er reagierte kaum darauf; er las und beantwortete mehrfach neu eingegangene SMS.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht, Mann?«, fragte Fearghal. »Was du im Donegal abgezogen hast, war schlimm genug, und jetzt auch noch ein Einbruch in so ein bescheuertes Rüstungswerk!«
»Es war ein Protest.« Leon zuckte die Achseln.
»Wogegen?«, fragte sein Bruder genervt.
»Gegen wen«, berichtigte Leon ihn. »Hagan.«
»Was ist mit ihm?«, fragte ich.
»Er ist einer der Hauptanteilseigner von Eligius«, erwiderte Leon. »Da hat er also auch seine Finger drin.«
»Was hast du gegen ihn?«, fragte ich.
»Er ist ein Arschloch. Jahrelang hat er hier den Terrorismus finanziert, und jetzt versucht er, in den USA die Debatte über den Irak abzuwürgen.«
Fearghal und ich schwiegen.
»Dass Hagan Miteigentümer eines Unternehmens ist, das Bauteile an die US-Armee verkauft, erwähnt natürlich keiner. Er hat ein ureigenes Interesse daran, dass der Krieg gegen den Terror möglichst lange weitergeht.«
»Das ist bei denen, die für Kriege verantwortlich sind, meistens so«, sagte ich. »Aber in ihre Büros einzubrechen oder mit Schreckschusspistolen auf sie zu schießen, ändert daran gar nichts.«
»Das werden wir sehen«, erwiderte Leon geheimnisvoll.
»Früher hast du selbst daran geglaubt«, widersprach Fearghal an mich gewandt. »Als wir jung waren. Da dachtest du, Aktionen wie die hier könnten etwas bewirken. Du hast selbst so was gemacht, Herrgott!«
Ich war sprachlos über diese Wendung unseres Gesprächs. Aber dann erkannte ich, dass ich eine grundlegende Regel außer Acht gelassen hatte: Blut ist dicker als Wasser. Fearghal mochte seinem Bruder ins Gewissen reden, aber wenn ein Außenstehender dasselbe tat, hielt er zu ihm.
Ich hatte das Gefühl, meine Position verteidigen zu müssen. »Die einzigen Menschen, auf die so etwas Auswirkungen hat, sind die, die es tun. Die Universität hat ihre Recyclingpolitik wegen uns nicht geändert, Fearghal, und Amerika wird seine Außenpolitik nicht ändern, bloß weil man Hagan mit einer Schreckschusspistole einen Riesenschrecken einjagt.«
»Früher hattest du ein bisschen Kampfgeist, Benny.«
»Hast du dagegen protestiert, dass Weston Kate bekommt? Oder dass Weston sie Hagan gibt? Hätte es etwas geändert?« Mir war klar, dass dies ein wunder Punkt war. Fearghal erwiderte nichts. »Ich ändere die Dinge auf meine Weise, so gut ich kann«, schloss ich.
Die Bradley-Brüder sahen einander an.
»Du hast doch nicht erwartet, dass ein Bulle das versteht, oder, Ferg?«, fragte Leon seinen Bruder. »Er ist nun mal einer von ihnen.«
Nach dem Essen setzte Fearghal mich zu Hause ab. Wir wechselten ein paar höfliche Floskeln und vereinbarten, in Verbindung zu bleiben, doch ich vermutete – und hoffte sogar –, dass ich ihn nach diesem Gespräch nicht wiedersehen würde.