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Montag, 16. Oktober

Die Kirche war schon beinahe voll, als ich dort ankam. Ich hatte sogar Probleme, einen Parkplatz zu finden, denn Pkws und diverse Campingbusse säumten die gesamte Straße.

Mehrere der Trauergäste erkannte ich wieder. Ganz vorn stand Fearghal und in der Bankreihe hinter ihm Linda Campbell. Die Aussteiger vom Carrowcreel hatten sich an einer Seite versammelt, und ich bemerkte den älteren Mann, Peter, mit dem ich am Samstag gesprochen hatte. Er nickte mir ernst zu; die ergrauten Haare hatte er sich aus dem Gesicht gebunden. Ich suchte die Bankreihen nach Vertretern von An Garda ab, sah jedoch keine.

Tom hatte mir gesagt, er wolle mich auf dem Kirchhof treffen, doch er war noch nicht da. Stattdessen erspähte ich jemanden, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ted Coyle stand in der Nähe der hinteren Türen und zog ein letztes Mal an einer selbst gedrehten Zigarette, ehe die Trauerfeier begann. Sein Arm war eingegipst, und er stützte sich auf eine Krücke. Unter dem Vorwand, Feuer für meine Zigarette zu benötigen, ging ich zu ihm.

»Sie sind dieser Cop«, sagte er.

»Das ist richtig. Und Sie sind der Spinner, der den Goldrausch ausgelöst hat.«

Er verbeugte sich knapp. »Schuldig im Sinne der Anklage.«

»Ich habe von dem Überfall auf Sie gehört. Es tut mir leid. Es war ein Raubüberfall, richtig?«, fragte ich, während er mir ein brennendes Streichholz hinhielt.

Ich zündete meine Zigarette an. Er schnaubte abschätzig. »Das haben sie gesagt.«

»Wer?«

»Ihre Leute. Das war kein Raubüberfall. Ich habe sie in meinem Zelt erwischt. Sie haben mein Wasser gestohlen. Nicht mein Nugget, nur mein Wasser.«

»Welches Wasser?«, fragte ich.

In diesem Augenblick stimmte der Chor drinnen ein Lied an, und der Gottesdienst begann. Da kam Tom auf uns zugerannt.

»Wir unterhalten uns später weiter«, sagte ich zu Coyle und kniff rasch die Spitze meiner Zigarette ab, jedoch nicht schnell genug. Tom bemerkte: »Immer noch Raucher, wie ich sehe.« Gemeinsam gingen wir in die Kirche.

Der Gottesdienst war feierlicher, als ich erwartet hatte. Fearghal war nie besonders gläubig gewesen, und ich wusste, dass Leon nicht viel für organisierte Religion übriggehabt hatte. Allerdings glaubte ich, dass er ein spiritueller Mensch gewesen war im Sinne einer Person, die Gott im Wald oder in den Flüssen sieht.

Der Pfarrer sprach sehr herzlich über Leon. Er lobte ihn für seine Haltung zum Umweltschutz und seine strengen Grundsätze zu den Themen Krieg und Aggression.

»Habt ihr schon jemanden festgenommen?«, flüsterte Tom während der Gabenbereitung.

Ich schüttelte den Kopf.

»Irgendwelche Verdächtigen?«

»Ein paar.«

»Hast du nicht gesagt, er hatte was mit einer verheirateten Frau?«

Ich nickte und setzte eine tadelnde Miene auf, weil er dieses Thema bei der Trauerfeier anschnitt.

»Ist sie auch hier?« Tom ließ sich nicht beirren.

»Sie ist ebenfalls tot.«

»Gütiger Himmel. Waren sie zusammen, als sie starben?«

Ich schüttelte den Kopf.

»War es wegen ihrer Affäre?«, beharrte er.

Ich warf meinem Bruder einen Seitenblick zu. Er war zwar jünger als ich, doch die Jahre hatten uns gleichermaßen zugesetzt. Sein Haar lichtete sich bereits ein wenig, und um die Körpermitte wurde er breiter.

»Möglich«, sagte ich.

Fearghal hatte geholfen, die Messkännchen mit Wasser und Wein zum Altar zu bringen. Der Pfarrer tat einen Tropfen Wasser in den Wein zum Gedenken an das Wasser, das sich mit Christi Blut vermischte, als es an seiner Seite herablief. Doch Fearghal sah das nicht. Er hatte das Gesicht abgewandt. Seine Hand ruhte auf dem Sargdeckel, und die Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich legte meine Hand kurz auf die Hand meines Bruders, bevor wir beide uns aus einem Impuls heraus strafften und gleichzeitig die Arme vor der Brust verschränkten.

Am Ende der Messe führte der Pfarrer den Trauerzug den Mittelgang entlang hinaus in den Herbstsonnenschein. Dabei schwang er das Weihrauchfass, und der Duft des Weihrauchs erfüllte süßlich und berauschend die stille Luft in der Kirche. Tom und ich warteten das Ende des Trauerzugs ab, ehe wir uns ihm anschlossen. Als Fearghal an uns vorbeikam, mit Leons Sarg, der schwer auf seinen Schultern lastete, sah er zu uns hin, erblickte Tom, und der Atem schien ihm zu stocken. Der Sargträger neben ihm musste das gespürt haben, denn er drückte ihm beruhigend die Schulter.

Draußen ging Tom hinüber zu Fearghal, während ich Coyle suchen ging. Ich wollte wissen, was er gemeint hatte, als er sagte, man habe ihm sein Wasser gestohlen. Zudem wollte ich herausfinden, worüber Janet Moore mit ihm gesprochen hatte an dem Tag, als ich sie draußen am Carrowcreel getroffen hatte.

Coyle stand mit einigen der Aussteiger zusammen, darunter auch Peter. Sie teilten sich ein Streichholz, um ihre Zigaretten anzuzünden. Jemand musste etwas gesagt haben, denn sie drehten sich um und sahen mich an, als ich auf sie zuging.

»Ich würde gerne unser Gespräch fortsetzen, Mr Coyle«, sagte ich und holte meine eigenen Zigaretten hervor.

Geblendet vom Sonnenlicht kniff er die Augen zusammen und nickte dann.

»Sag ihm nichts«, murmelte einer der anderen.

»Sie sagten, dass Sie nicht an einen Raubüberfall glauben. Richtig?«

Er nickte energisch. »Sie haben das Wasser aus meinem Zelt gestohlen. Ich hatte es seit Wochen gesammelt.«

Allmählich vermutete ich, dass sein Ruf als Exzentriker nicht übertrieben war.

»Welches Wasser?«

»Seit ich dort bin, habe ich einiges gesehen. Veränderungen. Dadurch hatte ich mich auch mit Leon angefreundet. Ich habe es ihm gesagt, und er meinte, er würde jemanden kennen, der helfen könnte.«

Ich wusste nicht, wovon er sprach, und hakte nach. »Sie müssen mir schon erklären, was Sie meinen.«

»Die toten Fische«, erklärte er erbost.

Seit Coyle einige Wochen zuvor an den Carrowcreel gezogen war, waren ihm immer mehr tote Fische aufgefallen, die flussabwärts trieben. Zuerst war es nur alle paar Tage einer gewesen. Mittlerweile sah er jeden Tag zwei. Er dachte, es müsse am Wasser liegen, daher hatte er begonnen, Proben zu entnehmen, jeden Tag an einer anderen Stelle. Als er eines Tages gerade etwas Wasser entnahm, merkte er, dass Leon Bradley ihn beobachtete, und er sagte ihm, er glaube, dass der Fluss verunreinigt würde. Leon erwiderte, er kenne jemanden, der möglicherweise helfen könnte. Einige Tage später hatte er Coyle dann mit Janet Moore bekannt gemacht. Leon nahm an, die Verunreinigung gehe von der Orcas-Mine aus, die ein paar Meilen flussaufwärts lag, und Janet sagte, wenn das stimme, werde sie einen Artikel darüber schreiben. Sie hatte eine von Coyles Wasserproben mitgenommen, um sie testen zu lassen, und versprochen, sich wieder bei ihm zu melden.

»Ich warte immer noch auf ihren Anruf«, fügte er hinzu.

»Ich fürchte, da können Sie lange warten.«

Tom kam mit mir nach Hause, um mit uns zu Abend zu essen. Die Kinder freuten sich sehr, ihren einzigen Onkel zu sehen, zumal er Geschenke mitbrachte. Ich versuchte, die Vorfälle der vergangenen Wochen zu vergessen, rief mir in Erinnerung, dass ich ja suspendiert war. Dennoch sah ich häufig auf die Uhr und fragte mich, wann ich Gelegenheit haben würde, Nuala anzurufen, um sie zu fragen, ob sie sich am Freitagabend mit Janet getroffen hatte und falls ja, wo. Die Fahrt nach Belfast dauerte beinahe zwei Stunden, daher war es unwahrscheinlich, dass Janet um zwanzig Uhr Leon getroffen hatte, wenn sie zu Nuala gefahren war.

Nach dem Abendessen standen Tom und ich draußen vor der Hintertür, damit ich eine Zigarette rauchen konnte. Er setzte sich auf die Stufe, weit genug von mir entfernt, um den Rauch nicht abzubekommen, doch so nah, dass ich seine Missbilligung sah.

»Du wirst dich mit denen da noch umbringen, weißt du. Und das, wo du eine junge Familie hast.«

»Vor ein paar Wochen hat man auf mich geschossen«, sagte ich.

»Mein Gott! Wurdest du verletzt?«

Ich schüttelte den Kopf, zog ein letztes Mal an meiner Zigarette und trat den Stummel aus.

»Macht Debbie sich keine Sorgen um dich?«

»Bestimmt. Aber so oft kommt das ehrlich gesagt nicht vor.«

»Trotzdem, Ben, du hast Familie. Vielleicht solltest du es ein bisschen langsamer angehen lassen. Für dich sorgen, weißt du.«

»Was ist mit dir?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »Immer noch mit Wie-hieß-sie-noch-gleich zusammen?«

»Emma? Nein.«

»Das tut mir leid. War es denn was Ernstes?«

Lächelnd sah er zu mir hoch. »Dass du ihren Namen nicht mehr weißt, sollte deine Frage beantworten.«

»Wohl wahr.« Tom hatte eine lange Liebesbeziehung gehabt, die erst vor knapp einem Jahr geendet hatte. Seitdem trieb er rastlos durch eine Serie von One-Night-Stands und kurzen Affären.

»Geht es dir gut? Mit allem, du weißt schon.«

Er hob eine Augenbraue und tat unbekümmert. »Mir geht’s gut. Um dich mache ich mir Sorgen.«

»Mir wird schon nichts passieren.«

»Das hat Leon Bradley garantiert auch gedacht«, sagte er, stand auf und öffnete die Hintertür, um wieder in die Küche zu gehen.

Tom verabschiedete sich um kurz nach neun, und wir machten Penny und Shane bettfertig. Penny betete neuerdings zu Gott, ihr noch einen Bruder oder eine Schwester zu schenken – nicht um Shane zu ersetzen, so betonte sie, sondern damit sie beide nicht einsam würden. Als sie das letzte Mal um etwas gebetet hatte, war es ein Hamster gewesen – Harry hatte nur ein gutes Jahr überlebt. In der ersten Zeit nach seinem Tod hatte Penny ihre Zuneigung auf unseren Basset Frank gerichtet, doch nun war sie offenbar darüber hinweg. Seltsamerweise schenkte Shane dem Hund jetzt mehr Aufmerksamkeit. Häufig zog er Frank an seinem verbliebenen Ohr, wofür Frank ihm übers Gesicht leckte.

»Wir werden sehen, Liebes«, antwortete ich auf ihren neuesten Wunsch. »Egal was passiert, du hast doch Shane.«

»Warum hat der liebe Gott dir Shane und mich geschenkt?«, fragte sie und stützte sich im Bett auf.

»Weil ich wohl richtig lieb gewesen bin, als ich jünger war. Er hat mir euch geschenkt, damit ich mich an seiner statt um euch kümmere.«

»Deshalb darfst du auch keine Versprechen mehr brechen wie das, das du dem Mann in dem Laden gegeben hast«, sagte sie ernsthaft.

»Ich tue mein Bestes, Liebes«, brachte ich hervor, doch beim Gedanken an Natalia und ihr Schicksal seit ihrem Verschwinden wurde mir ganz anders.

»Wenn du weiter lieb bist, schenkt er dir vielleicht noch jemanden, um den du dich kümmern kannst«, meinte Penny.

»Aber nur wenn du ganz lieb bist, versteht sich«, sagte Debbie, und ihre Augen funkelten schelmisch.

Pennys Blick wanderte mehrfach zwischen Debbie und mir hin und her, als wüsste sie, dass es in diesem Wortwechsel eine Bedeutungsebene gab, die sie nicht recht erfasste. Schließlich gab sie offenbar auf und stellte einfach fest: »Ich bin froh, dass der liebe Gott dir Shane und mich geschenkt hat.«

»Ich auch, Liebes«, sagte ich.