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Samstag, 30. September – Montag, 2. Oktober

Den Samstagvormittag verbrachte ich in einer Besprechung mit Patterson, um die Sicherheitsvorkehrungen für Cathal Hagans Besuch zu erörtern. Patterson betonte mehrfach die Bedeutung dieses Besuchs sowie die Notwendigkeit, dass die Polizei eine gute Figur abgab. Er wollte die übrigen beteiligten Behörden koordinieren, ich sollte mich um die örtlichen Maßnahmen kümmern.

Nach der Besprechung verbrachte ich eine Stunde mit der Formulierung eines Aufrufs, in dem die Polizei um Informationen über den toten Tschetschenen bat. Schließlich erreichte ich Marie Collins, obwohl es Samstag war, indem ich den Rektor des Tech kontaktierte und um ihre Telefonnummer bat. Sie übersetzte mir den kurzen Aufruf am Telefon ins Polnische, Russische und Tschetschenische, wobei sie mir die einzelnen Versionen buchstabierte. In dem Aufruf versicherte ich, dass hier niemand wegen illegaler Einwanderung überprüft werden sollte, sondern wir lediglich versuchten, Angehörige des fraglichen Mannes zu finden. Die Tatsache, dass er tot war, erwähnte ich nicht.

Dann setzte ich mich mit sämtlichen Krankenhäusern in der Umgebung sowie den Dienststellen von An Garda und der nordirischen Polizei PSNI in Verbindung. Ich schätzte, falls der Mann lebende Angehörige in der Gegend hatte, würden sie sich schließlich an irgendeine öffentliche Einrichtung wenden, um ihn zu finden. Ich hinterließ überall die Nachricht, dem Betreffenden in diesem Fall meine Telefonnummer zu geben.

Am Nachmittag fuhr ich wieder hinaus zu Orcas, um nachzusehen, wie die Angelegenheit mit der Moorleiche vorankam. Von den tags zuvor so zahlreichen Polizisten vor Ort war nur einer geblieben, der am Eingang der Mine in seinem Wagen saß, die Füße auf dem Armaturenbrett und die Mütze ins Gesicht gezogen; neben ihm lag ein unvollständig gelöstes Kreuzworträtsel. Ich hupte so lange, bis er aufwachte, dann winkte ich ihm zu und fuhr auf das Gelände zum Fundort. Man hatte eine blaue Plane darüber aufgespannt, um die Moorleiche vor der Witterung zu schützen.

Eine Paläopathologin vom National Museum in Dublin war gerade konzentriert bei der Arbeit. Sie trug den weißen Schutzanzug der Spurensicherungsleute, allerdings wohl ebenso sehr, um sich selbst nicht zu beschmutzen, wie um die Kontaminierung des Fundes gering zu halten. Sie stand in der Grube über die Leiche gebeugt und bürstete mit einem dicken Pinsel behutsam Erde von der Beinmuskulatur.

Mittlerweile war die Leiche vollständig freigelegt. Die Gestalt war erkennbar weiblich, allerdings waren die Brüste nur noch fest an den Brustkorb gepresste Hautlappen. Ihre Haare waren kurz geschnitten, die Schultern hochgezogen, sodass sie den Unterkiefer berührten. Die Arme lagen seitlich am Körper an, die Muskulatur war geschwunden.

Als ich mich dem Fundort näherte, stand die Wissenschaftlerin auf und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Sie nahm den Mundschutz ab und stellte sich als Linda Campbell vor. Sie strich sich den Pony aus dem Gesicht und blinzelte, weil sie in die Sonne sehen musste.

»Wie kommen Sie voran?«, fragte ich.

Sie lächelte begeistert. »Hervorragend. Die Leiche ist so gut konserviert.« Obwohl sie aus Dublin kam, hörte ich einen leichten nordirischen Akzent heraus.

»Eine Frau, wie ich sehe«, sagte ich und deutete auf die Moorleiche.

»Ja.« Sie drehte sich um und blickte mit einem beinahe bewundernden Gesichtsausdruck auf die Leiche. »Ist sie nicht wunderschön?«

»Sie ist eigentlich nicht mein Typ.«

»Sie ist ein ziemlich spektakulärer Fund«, fuhr Linda Campbell lächelnd fort. »Das Moor hier hat sie perfekt konserviert.«

»Wie das?«, fragte ich, denn ich merkte, dass sie es mir gerne erklären wollte.

»Das Wasser in Mooren enthält viel organische Säuren und Aldehyde, die beinahe wie Einbalsamierungsflüssigkeit wirken. Die Leiche altert, ohne sich jemals zu zersetzen; die Haut wird zäh wie gegerbtes Leder. Es ist wirklich ein ziemlich großartiger Fund. Und Frauen findet man sehr selten. Die meisten Moorleichen sind Männer.«

»Das wusste ich nicht«, sagte ich. »Irgendeine Idee, wie sie gestorben ist? Oder wann?«

»Über das Wann kann ich eigentlich noch nichts sagen. Wahrscheinlich in der Eisenzeit, aber dafür muss ich sie ins Labor bringen. Das Wie ist einfach, ich zeige es Ihnen.«

Ich folgte ihr unter die Plane, und sie ließ sich behutsam in die Grube hinunter, in der die Leiche lag. Ich kniete am Rand nieder und sah zu ihr hinab.

Mit einem kleinen Metallstab zupfte Linda behutsam an etwas, das um den Hals der Leiche lag. Als ich genauer hinsah, erkannte ich eine Art Schnur, die um den Hals gebunden und hinten um ein Stück Holz geschlungen war.

»Ist das eine Garrotte?«, fragte ich.

»Ja.« Sie lächelte und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht.

»Sie wurde also ermordet?«

»Hingerichtet«, korrigierte sie mich. »Oder geopfert.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Wenn Sie aus der Eisenzeit stammt, hätte sie eigentlich verbrannt werden müssen. Soweit wir wissen, wurden die Menschen damals nur begraben, wenn sie sehr wichtig oder geopfert worden waren.«

»Warum hätte man sie opfern sollen?«, fragte ich.

»Jedes Jahr wurde einem der Götter jemand geopfert. Dem Gott des Moors, dem Gott der Ernte, dem Gott des Frühlings. Ähnlich wie bei den alten Griechen und Römern. Es gab unterschiedliche Götter für verschiedene Anliegen. Manche Verbrecher wurden nicht hingerichtet, sondern geopfert und dann hinterher begraben, anstatt verbrannt zu werden. Das muss für die Frau eine ziemliche Ehre gewesen sein, könnte ich mir vorstellen.«

»Ich könnte mir eher vorstellen, dass sie ziemlich abgetörnt war.«

»Das Wohlergehen der ganzen Gemeinschaft hing von ihrem Opfer ab, Inspektor«, sagte Linda in ernstem Ton. »Damit wären ihr und ihrer Familie ihre Verbrechen vergeben, egal welche.«

»Verstehe.« Ich bedauerte, dass ich sie offenbar vor den Kopf gestoßen hatte. »Aber dann brauche ich ja keine Mordakte anzulegen.«

»Wenn Sie hier keinen viertausend Jahre alten Mann herumwandern sehen, haben Sie mit ihr wohl keine Arbeit, Inspektor.«

Am Sonntag wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem kürzlich Verstorbenen zu. Mit einigen uniformierten Polizisten klapperte ich auf der Suche nach Informationen über den toten Tschetschenen die Trödelmärkte in Lifford und Letterkenny ab. Wir verteilten den Aufruf, den ich hatte übersetzen lassen, an alle, die interessiert waren, und baten sie, ihn weiterzuverbreiten. Jim Hendry, mein Gegenpart nördlich der Grenze, hatte versprochen, in der Gegend von Strabane dasselbe zu tun. Doch unsere Anstrengungen erbrachten keine neuen Erkenntnisse.

Am Nachmittag ging ich auf den großen Markt am Rand von Derry. Ich blieb an diversen Ständen stehen, die osteuropäische Speisen verkauften, doch niemand konnte mir helfen. Als ich gerade den letzten Abschnitt des Marktes abschritt, erkannte ich einen Händler, der aus dem Heck eines weißen Transporters heraus verkaufte, von denen noch einige weitere am Zaun des Geländes parkten.

Pol von der Beratungsstelle für Wanderarbeiter reichte einer stämmigen Frau Tüten mit Toilettenpapierrollen. Neben ihm lehnte ein weiterer Mann an der Seite des Transporters und drehte sich gerade eine Zigarette. Er war drahtig und hatte scharf geschnittene Gesichtszüge sowie einen dünnen Schnurrbart.

»Sie sind ja ein echter Wanderarbeiter«, sagte ich zu Pol, als die Frau fort war. Er blickte mich scharf an, als suchte er in meinen Worten nach einer versteckten Beleidigung.

»Ich meine, zwei Jobs«, erläuterte ich. »Sie werden uns faule Säcke noch beschämen.«

»Arbeit ist Arbeit«, erklärte er. »Was tun Sie hier?«

»Ich suche immer noch nach Informationen über ihn hier«, sagte ich und reichte Pol einen Handzettel. »Können Sie den an Ihrem schwarzen Brett aushängen?«

»Das hier ist Vinnie, mein Chef«, sagte Pol und deutete auf den anderen Mann. »Am besten fragen Sie ihn.«

Vinnie stieß sich vom Lieferwagen ab und nahm den Handzettel entgegen.

»Was hat er getan?«, fragte er.

»Er hat sich erschießen lassen«, antwortete ich. »Wir müssen seine Familie finden, falls er eine hat.«

»Irgendwelche Anhaltspunkte?«, fragte Vinnie.

»Kein einziger«, erwiderte ich. Plötzlich hatte ich es eilig, das Gespräch zu beenden.

Vinnie biss auf das Ende seiner Selbstgedrehten und spuckte zu Boden. »Wir hängen den Zettel auf und halten die Augen offen«, sagte er.

Der Durchbruch kam schließlich aus unerwarteter Quelle. Seit einiger Zeit bekam ich zuweilen Panikattacken, und mein Hausarzt, John Mulrooney, verschrieb mir Betablocker. Am Montagmorgen war ich zur Untersuchung bei ihm, weil ich ein neues Rezept benötigte. Während ich darauf wartete, dass er das Rezept unterschrieb, fragte er mich nach dem Toten.

»Schon Glück gehabt mit der Identifizierung?«

»Nein. Wie es scheint, ist er ein illegaler Einwanderer – ein Tschetschene offenbar. Aber wir finden niemanden, der ihn identifizieren könnte.«

»Keine Angehörigen?«

»Nichts«, sagte ich. »Ich habe es auf den Trödelmärkten und in der Beratungsstelle für Wanderarbeiter versucht. Das Problem ist: Wenn er ein Illegaler ist, ist er nirgendwo gemeldet.«

»Sind Sie denn sicher, dass er ein Illegaler ist?«, fragte Mulrooney.

»Ziemlich sicher. Warum?«

Mulrooney schien mit sich zu kämpfen, dann stand er auf und reichte mir das Rezept. »Sie haben das nicht von mir, Ben. Es gibt da einen Vertretungsarzt, der manchmal den ärztlichen Notdienst in Strabane übernimmt – ein polnischer Bursche. Offenbar behandelt er nachts heimlich Illegale, die ärztliche Hilfe brauchen – ohne ihnen etwas zu berechnen. Wenn das offiziell bekannt würde, würde man ihn feuern, aber von den Kollegen vor Ort kümmert es niemanden. Letzten Endes ist das Gesundheitssystem ja dafür da, Leuten zu helfen. Wenn irgendjemand Ihren Mann kennt, dann er.«

»Ärgert das die irischen Ärzte nicht – ein Pole, der ihnen die Arbeit wegnimmt? Muss er keine Angst haben, dass ihn jemand meldet?«

»Er ist zufrieden damit, die Friedhofsschicht zu übernehmen, die niemand machen will, und das für ein Drittel des Gehalts. Niemanden kümmert es wirklich, wen er um drei Uhr morgens behandelt, wenn er bereit ist, dafür aufzustehen.«

Ich weiß nicht, was ich abscheulicher fand: dass der polnische Arzt nur einen Bruchteil des üblichen Gehalts bekam oder dass dies offensichtlich dem vorzuziehen war, was der Mann in seiner Heimat verdient hatte.

Nach einem Anruf bei Jim Hendry hatte ich den Namen des Mannes: Karol Walshyk. Da er im Norden lebte, bot Hendry an, mich zum Haus des Mannes in Sion Mills zu begleiten.

Es war das hübscheste von fünf Reihenhäusern. An den Fenstern hingen Spitzengardinen, und das Holzwerk war frisch gestrichen. Als Walshyk uns die Tür öffnete, drang ein Schwall warmer, gewürzgeschwängerter Luft ins Freie. Der Mann selbst war über vierzig, hatte einen gepflegten grauen Bart und trug eine Schürze.

Seine erste Reaktion auf unseren Anblick war die Frage, ob seinen Eltern in Polen etwas zugestoßen sei. Nachdem wir ihn in dieser Hinsicht beruhigt hatten, bat er uns herein und lud uns zum Mittagessen ein. Schließlich fragte er uns, was wir von ihm wollten.

Als wir den Grund unseres Besuchs erläuterten, wollte er uns zunächst – verständlicherweise – nicht helfen. Er leugnete, irgendetwas über illegale Arbeitskräfte in der Gegend zu wissen, und behauptete, den Mann auf dem Foto, das ich ihm zeigte, nicht zu kennen. Es war offensichtlich, dass er uns etwas verheimlichte, und allmählich vermutete ich, dass Jim Hendrys Anwesenheit der Grund dafür war. Kein Einwanderer, ob legal oder nicht, wird sich in Anwesenheit eines Polizisten zu illegalen Aktivitäten bekennen, nicht einmal zu den vertretbarsten. Ich dagegen befand mich außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs und stellte deshalb keine Bedrohung für ihn dar. Ich dankte ihm für seine Hilfe und ließ meine Visitenkarte da für den Fall, dass ihm noch etwas Nützliches einfiele.

Und tatsächlich, eine Stunde später rief er mich an und bat mich um ein Treffen unter vier Augen. Dann werde er mich zur Familie des Toten bringen.

Zu meiner Überraschung hatte der Tote offenbar in einem Neubaugebiet an der Urney Road gewohnt. Unterwegs dorthin bat mich der polnische Arzt, ihn Karol zu nennen, und erzählte mir die Geschichte der Familie. Einige Monate zuvor war der Mann eines Abends mit seiner Frau in die Praxis gekommen. Sie hatte sich im Anfangsstadium einer Schwangerschaft befunden und gerade eine Fehlgeburt erlitten. Karol hatte sie ins Krankenhaus schicken wollen, doch sie hatte sich geweigert. Stattdessen hatte er einige Wochen lang jeden Tag Hausbesuche bei ihr gemacht, bis sie sich wieder erholt hatte. Damals hatte ihr Mann, ein gewisser Ruslan Almurzayev, in einem Imbisswagen in der Gegend gearbeitet. Seither hatte Karol ihn und seine Frau Natalia nicht wiedergesehen.

Ich erinnerte mich noch daran, wie die Häuser an der Urney Road verkauft worden waren. Trotz der Größe und der nur kärglichen Grundstücke, die dazugehörten, hatte man saftige Preise dafür verlangt.

»Wie können sie sich bloß leisten, hier zu wohnen?«, fragte ich.

»Das werden Sie gleich sehen. Warten Sie’s ab.«

Als wir ankamen, bot Karol an, die Bewohner auf meinen Besuch vorzubereiten. Ich blieb im Wagen sitzen, rauchte und wartete auf sein Zeichen.

Gerade hatte ich meine Zigarette ausgedrückt, da erschien Karol in der Tür und winkte.

Ich ging hinein, und da verstand ich. Es gab beinahe keine Möbel; die Sitzgelegenheiten in der Küche beschränkten sich auf alte Gartenmöbel. Der Wohnbereich war mit Bohnensäcken und einem alten Couchtisch möbliert. In der Ecke stand ein mitgenommener Schwarz-Weiß-Fernseher, vor dem sich Kinder unterschiedlichen Alters lümmelten. Auf dem Kocher in der Küche dampfte ein Topf. Im Obergeschoss jammerte eine Frau, andere Frauenstimmen riefen etwas.

Karol führte uns die teppichlose Treppe hinauf. Eine Schar Frauen blockierte die Tür zu einem der drei Schlafzimmer. Ich spähte zwischen ihnen hindurch und sah eine Frau, die auf der Kante eines Feldbetts saß und schluchzte, während eine andere Frau sie tröstete.

Karol sprach zu der Frauengruppe, vermutlich konnte er Tschetschenisch, denn als wir uns hindurchdrängelten, traten sie beiseite. Er führte mich ins Zimmer und sagte wieder etwas, und binnen einer Minute waren nur noch wir zwei und die junge Frau übrig.

»Sind das Ihre Freundinnen?« Meine Frage richtete sich an die Frau, auch wenn ich Karol ansprach.

»Sie wohnen hier«, erwiderte er, ohne die Frau zu fragen.

»Alle?«, fragte ich ungläubig, denn ich hatte mindestens ein Dutzend Personen gesehen, wenn man die Kinder im Erdgeschoss nicht mitzählte.

»Insgesamt vierundzwanzig«, erläuterte Karol. »Vier Familien. Eine pro Schlafzimmer und eine im Wohnzimmer.«

Die Frau blickte von einem zum anderen, ihre Augen waren weit aufgerissen und gerötet, in ihrer Miene spiegelten sich sowohl Angst als auch Trauer.

»Bitte haben Sie keine Angst«, sagte ich und kauerte mich vor sie. Ich zog eines der Flugblätter hervor, die ich hatte machen lassen, und faltete es so, dass das Bild ihres Mannes zu sehen war. »Ist das Ihr Mann?«

Sie deutete auf das Bild und sagte etwas zu Karol. Dann wandte sie sich mir zu und nickte langsam, ehe sie erneut anfing zu schluchzen.

»Fragen Sie sie, wann sie ihren Mann zuletzt gesehen hat.«

Die beiden unterhielten sich kurz. »Letzten Freitag«, erläuterte Karol schließlich. »Er ging aus, um Arbeit zu suchen.«

»Ich dachte, er arbeitete in einem Imbisswagen«, sagte ich.

Wieder besprachen sie sich. Währenddessen musterte ich die Frau. Ihre Haare waren blond und schulterlang, jedoch zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihre scharf geschnittenen Züge betonte. Einer ihrer Zähne stand ein wenig vor und biss in die blasse Unterlippe.

Karol wandte sich wieder an mich. »Er wurde gefeuert. Er hatte mehr Geld gefordert, also hat sein Chef ihn gefeuert. Er suchte jetzt schon seit Wochen nach Arbeit.«

»Wusste sie, dass er eine Bank ausrauben wollte?«, fragte ich.

Das Wort »Bank« musste sie verstanden haben, denn sie schüttelte energisch den Kopf und sagte etwas, das klang wie: »Naa ha.« Sie blickte von Karol zu mir. »Naa … nein, nein«, sagte sie und blinzelte, um die Tränen zurückzudrängen. Ich wusste nicht recht, ob sie nun auf meine Frage geantwortet oder einfach nur die Unschuld ihres Mannes beteuert hatte.

»Sagen Sie ihr, es tut mir leid, aber sie muss ihren Mann für uns identifizieren«, bat ich Karol. Die weitere Befragung konnte man auch auf der Wache vornehmen, wenn sie Zeit gehabt hatte, ein wenig um ihren Mann zu trauern. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, wo eine solche Befragung hinführen sollte – die Lebensumstände des Mannes waren desperat gewesen, er war arbeitslos gewesen, und er hatte sogar das Pech gehabt, ausgerechnet an dem Tag eine Bank zu überfallen, an dem die halbe irische Armee davor stand.

»Es tut mir leid, Mrs Almurzayev«, sagte ich und sah ihr in die Augen. »Es tut mir sehr leid.«

Flüchtig legte ich meine Hand auf ihre. Sie war kalt, die Haut hell und schwielig. Mrs Almurzayev sah mich an, dann entzog sie mir ihre Hand.

Auf dem Weg zur Identifizierung der Leiche im Letterkenny General Hospital sprachen Karol und ich über die mutmaßlichen Schicksale der Immigranten, die ich im Haus gesehen hatte. Mrs Almurzayev saß auf dem Rücksitz meines Wagens und sah aus dem Fenster.

»Ich bin froh, dass Sie sich bei mir gemeldet haben«, sagte ich. »Ich hätte keinen anderen gefunden, der Tschetschenisch spricht.«

»2005 kamen viele Flüchtlinge nach Polen. Ich habe sechs Monate lang als Freiwilliger im Lager von Ärzte ohne Grenzen in Warschau gearbeitet«, erklärte er. »Da muss man schnell lernen.«

»Das glaube ich gern«, sagte ich.

Wir standen neben Natalia Almurzayev, während sie den Toten betrachtete. Sie hielt seine Hand in ihrer und ließ den Angestellten im Kühlraum erst dann das grüne Tuch wieder über das Gesicht ihres Mannes ziehen, als sie ihn auf die Stirn geküsst hatte. Zärtlich hielt sie seinen Kopf und rieb mit dem Daumen über das ergrauende Haar der Koteletten, während sie ihm Worte zuflüsterte, die man nicht zu übersetzen brauchte.

Hinterher setzten Karol und Natalia sich in die Cafeteria, und ich holte uns drei Kaffee. Als ich wieder zu ihnen kam, waren sie ins Gespräch vertieft. Sie waren ein ungleiches Paar – er im Anzug, sie in Jeans und Kapuzenoberteil.

»Sie hatte keine Ahnung, dass ihr Mann eine Bank ausrauben wollte, Inspektor«, sagte er, als ich mich setzte. »Sie dachte, er wollte sich Arbeit suchen.«

»Wie lange sind die beiden schon hier?«, fragte ich.

»Fünf Monate«, antwortete er, ohne sie zu fragen. Offenbar hatte er bereits einige Hintergrundinformationen in Erfahrung gebracht, während ich den Kaffee geholt hatte.

»Wo hatte ihr Mann den gefälschten Führerschein her?«, fragte ich. Karol übersetzte die Frage. Obwohl sie scheinbar verwirrt die Achseln zuckte, war klar, dass sie wusste, wovon ich sprach.

»Sie weiß nichts von einem Führerschein«, sagte Karol.

Ich holte den Führerschein, der sich immer noch in einem Beweismittelbeutel befand, aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. »Sagen Sie ihr, sie bekommt keine Schwierigkeiten, wenn sie es mir jetzt sagt. Ansonsten muss ich sie der Einwanderungsbehörde melden.«

Karol setzte an, es Natalia zu erklären, doch dann hielt er inne und sah mich fragend an.

»Sagen Sie es ihr einfach«, forderte ich ihn auf.

Widerstrebend erzählte die junge Frau uns die lange Geschichte, wie sie und ihr Mann in Irland gelandet waren.

Sie hatten in Tschetschenien beide für zusammen unter zweihundert Euro im Monat in einem Stahlwerk gearbeitet. Dann erhielt Ruslan Nachricht von seinem Cousin, der nach Irland gegangen war: Die Wirtschaft hier boome, es sei ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie könnten in einer Woche mehr verdienen als zu Hause in einem Monat.

Sie hatten keine Kinder, niemanden, der von ihnen abhängig war, nichts, was sie von der Auswanderung abhalten konnte. Allerdings mussten sie beide zehntausend Euro für die Einschleusung sowie für eine sichere Unterkunft und eine neue Identität bezahlen, wenn sie hier ankamen.

Den Mann, der sie nach Irland bringen würde, könnten sie in Raten bezahlen, wenn sie erst dort waren: wöchentlich die Hälfte ihrer Löhne, bis die Schuld beglichen war. Ruslans Cousin organisierte alles.

Im März trafen sie in der Nähe der Grenze zu Inguschetien mit einer Gruppe von dreißig weiteren Ausreisewilligen zusammen. Sie wurden in den Laderaum eines Sattelzugs verfrachtet, wo sie sich hinter einer gefälschten Rückwand aus dünnem Holz zusammendrängten. Jeder musste dem Fahrer eintausend Euro Anzahlung geben. Dann saßen sie dicht an dicht da und warteten darauf, nach Irland gebracht zu werden.

Die Fahrt über kauerten sie im Dunkeln. Natalia wusste nicht, ob sie nach Osten zum Kaspischen Meer oder nach Westen zum Schwarzen Meer fuhren, doch innerhalb eines Reisetages erreichten sie eine Küste. Selbst im Lastwagen rochen sie die Veränderung, die salzhaltige Seeluft. Als sie anhielten, hörten sie Möwenschreie.

Natalia merkte, dass der Lastwagen auf ein Schiff fuhr. So tief im Bauch des Schiffes, auf engstem Raum zusammengedrängt, wirkte sich das Stampfen und Schlingern besonders stark aus, und viele, besonders die Kinder, waren beinahe während der gesamten Überfahrt seekrank. Man hatte ihnen fünf Flaschen Wasser und einen Laib Brot gegeben. Am zweiten Tag schmeckte das Wasser bitter nach Erbrochenem. Von da an lehnte Natalia ab, wenn man ihr einen Schluck zu trinken anbot, bis zum vierten Morgen, wie sie schätzte (es gab keine Fenster, kein Licht in ihrem Verschlag, Tag und Nacht wurden austauschbar). Dann befand der Lastwagen sich wieder auf festem Boden.

Sie fuhren noch einmal über Wasser, diesmal dauerte die Überfahrt nur ein, zwei Stunden. Wenige Stunden später kamen sie schließlich am Ziel an, über fünf Tage nach der Abfahrt.

Sie spürte, wie der Lastwagen anhielt. Die Fahrertür wurde zugeknallt, dann hörte sie draußen Stimmen und das Quietschen der Türen zum Laderaum, als diese geöffnet wurden. Im Dunkeln lauschten sie und die anderen, während die Ladung beiseitegeschoben wurde. Was, wenn man sie erwischt hatte? Was, wenn dies die Einwanderungsbeamten wären?

Als sie den Mann, der im Eingang erschien, zum ersten Mal sahen, waren sie sicher, dass man sie erwischt hatte, denn er hielt eine Waffe in der Hand. Einige der Kinder schrien, bis er die Waffe über den Kopf hob und ihnen auf Russisch zubrüllte, dass sie in Irland angekommen seien.

Es wurde bereits dunkel, als sie aus dem Lastwagen stiegen und, jeweils eine Familie nach der anderen, zu einem alten Bauernhaus geführt wurden. Natalia stürzte, als sie versuchte zu gehen, ihre Muskeln waren verkrampft und außer Übung, nachdem sie so lange in einer einzigen Haltung verharrt hatte. Ein Mann deutete auf die Giebelwand des Hauses. Im Putz, der mit rostfarbenen Rückständen befleckt war, befanden sich diverse kleine Löcher.

Im Haus sprach ein Mann auf Russisch mit ihr und ihrem Mann. Mit einer Digitalkamera machte er Fotos von ihnen, dann schickte er sie zu den anderen in die Küche, wo sie warten sollten. Auf einem Teller lagen Schokoladentafeln, die sie gierig verschlangen. Als der Mann einige Stunden später zurückkam, reichte er jedem einen gefälschten Führerschein und einen Pass. Der neue Name ihres Mannes lautete Joseph Mackey, ihrer war Anna McIlwee.

Eine Viertelstunde später wurden sie und drei weitere Familien mit einem Wagenkonvoi abgeholt. Unterwegs gab man ihnen Anweisungen. Man würde sie nun zu ihrem neuen Zuhause bringen; dort würden sie bleiben, bis sie ihre Schulden abbezahlt hätten. Das Geld würde jeden Monat zusammen mit der Miete, die weitere fünfzig Pfund pro Woche betrug, eingesammelt werden. Man würde ihnen Jobs besorgen, bis sie ihre Schulden bezahlt hätten; danach müssten sie sich selbst etwas suchen. Falls sie sich beschwerten, widersprachen oder gegen die Auflagen verstießen, würde das ernste Konsequenzen haben. Falls sie sich an die Polizei, an Krankenhäuser oder an Behörden wandten, solange sie ihre Schulden noch nicht zurückgezahlt hätten, würde man sie zurück zum Bauernhaus bringen und an die Giebelwand stellen, die man ihnen zuvor gezeigt hatte.

Eine Stunde später wurden sie in dem Haus in Strabane abgesetzt. Dort erwartete sie ein Mann mittleren Alters mit einem Pferdeschwanz. Er hatte Milch, Brot, Butter und Eier dabei. Im Haus gab es keine Möbel, kein Bettzeug. Einer der Männer beschwerte sich und sagte, er hätte etwas Besseres erwartet. Der Mann mit dem Pferdeschwanz und einer der Fahrer gingen mit ihm ins Obergeschoss. Die übrigen hockten unten und lauschten den dumpfen Schlägen. Erst am nächsten Tag sahen sie den Mann wieder. Er beschwerte sich nie mehr.

Der Mann mit dem Pferdeschwanz sagte, er werde jeden Monat vorbeikommen; von den Almurzayevs werde er vierhundert Pfund kassieren – einhundert Pfund pro Person für die Rückzahlung der Schulden und fünfzig Pfund pro Woche für die Miete. Größere Familien bezahlten beinahe doppelt so viel. Wenn jemand nicht genügend Geld verdienen könne, würden sie eine Arbeit für ihn suchen. Auch für die Kinder. Bisher hatten sie alle immer dafür gesorgt, dass sie die Miete hatten, wenn er kam: nach acht Uhr abends am ersten Freitag im Monat.

Schweigend hörten wir ihr zu, bis sie zum Ende ihrer Geschichte kam. Dann bat sie mich um einen Zigarette und ging nach draußen, um zu rauchen.

»Ich kann das nicht zulassen«, sagte ich zu Karol. »Ich muss den PSNI verständigen.«

»Nein«, sagte er. »Man wird sie ausweisen.«

»Das wäre besser als das, was ihnen im Augenblick geschieht.«

»Die würden jeden umbringen, den die Polizei nicht erwischt, Inspektor. Die würden annehmen, dass jemand sie denunziert hat.«

»Ich kenne jemanden beim PSNI, einen guten Mann. Er wird es richtig machen.«

»Sie haben ihr versprochen, dass Sie sie nicht melden, Inspektor. Sie haben ihr Ihr Wort gegeben.«

»Soll ich lieber zulassen, dass sie von einem Haufen Schläger ausgebeutet werden? Wollen Sie das? Der Staat wird sich um sie kümmern.«

»Sie glauben, sie wären besser dran, wenn der Staat sich um sie kümmert? Es gibt keine sicheren Häuser für illegale Einwanderer. Sie erhalten ja nicht einmal medizinische Versorgung, wenn Leute wie ich sie nicht illegal behandeln. Ich würde die Approbation verlieren und nach Polen zurückgeschickt, wenn bekannt würde, was ich da mache. Ihre Meldung wird gar nichts ändern. Die Leute, die sie ins Land geschleust haben, werden untertauchen, und die Einzigen, die leiden, werden Natalia und ihresgleichen sein. Wenn Sie ihr helfen wollen, dann helfen Sie ihr auch wirklich.«

»Und wie stellen Sie sich das vor?«

»Finden Sie heraus, wer sie eingeschleust hat. Denn die werden bald ihr Geld haben wollen, und sie hat keine Möglichkeit, es zu verdienen.«

Wir sahen beide durch die Fensterscheibe nach draußen, wo Natalia stand, die Arme wärmend um den Körper geschlungen, und an ihrer Zigarette zog, als wäre es ihre letzte.

Abends saß ich mit Debbie zusammen, nachdem wir unsere beiden Kinder ins Bett gebracht hatten. Sie saß im Schneidersitz auf dem Sofa, ein Kissen an sich gedrückt, und versuchte, eine Soapopera anzuschauen.

»So oder so, ich fühle mich schuldig«, sagte ich. »Wenn ich nichts unternehme, lasse ich zu, dass diejenigen, die diese Menschen ausbeuten, davonkommen. Wenn ich es melde, liefere ich sie aus, und man schickt sie nach Hause. Was würdest du tun?«

»Kannst du der Sache nicht nachgehen, ohne sie wirklich zu melden? Herausfinden, wer sie hergebracht hat?«, schlug sie vor, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

»Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte«, sagte ich. »Und ich bin in dieser Sache auf mich allein gestellt.« Meine frühere Partnerin, Caroline Williams, hatte nach einem Fall, bei dem sie beinahe getötet worden war, den Dienst quittiert. Seitdem hatte man mir keinen neuen Partner zugeteilt, unter anderem vermutlich, weil unser neuer Superintendent Patterson mich nur zu gerne ein wenig isoliert sah.

»Sie müssen irgendeine Kontaktperson haben. Wie zahlen sie ihre Schulden zurück?«

»Irgendein Typ kommt am ersten Freitag im Monat vorbei und kassiert das Geld ein.«

»Das ist der kommende Freitag«, folgerte Debbie. »Warum rufst du nicht Jim Hendry an? Vielleicht kann er etwas tun.«

Das hatte ich bereits in Betracht gezogen, aber damit würde ich Jim in eine unangenehme Lage bringen. Und ich war nicht sicher, wie viel ich unserer Freundschaft zumuten konnte.

Das erklärte ich Debbie. »Ich stecke fest. Ich möchte gern das Richtige für diese Frau tun, verstehst du? Ich will nicht, dass sie vom Regen in die Traufe kommt, wenn ich ihr helfe. Besonders nach dem, was ihrem Mann passiert ist. Ich muss sicher sein, dass ich das Richtige tue.«

Debbie spürte, dass ich keine Ruhe geben würde, bis sie mir eine befriedigende Antwort gegeben hatte, und so legte sie schließlich das Kissen beiseite, schaltete den Ton ab und wandte sich mir zu.

»Wenn das so ist, dann sprich mit Patterson darüber. Du bearbeitest diesen Todesfall doch sowieso – so würdest du wenigstens zeigen, dass du herausgefunden hast, wer der Tote war«, sagte sie, hob die Augenbrauen und richtete schon wieder die Fernbedienung auf den Fernseher.