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Freitag, 29. September
An jedem letzten Freitag im Monat werden die Bargeldvorräte aller Banken im Ostdonegal für den Gehaltstag aufgestockt. Ein Geldtransporter mit manchmal über zehn Millionen Euro fährt langsam von Bank zu Bank durchs ganze County. Auf dieser Fahrt über einsame Landstraßen und Bergpässe wird seine Sicherheit nicht nur durch die Panzerung der Wagen und die Zeitschlösser garantiert, sondern darüber hinaus durch eine Eskorte: je ein Garda-Wagen vor und hinter dem Geldtransporter sowie davor und dahinter wiederum zwei Jeeps der irischen Armee mit bewaffneten Soldaten. Das Bargeld wird eilig in die jeweilige Bankfiliale gebracht, während draußen Soldaten mit M16-Maschinengewehren die Straße säumen. Die Botschaft ist unmissverständlich. Nur ein Idiot würde an diesem Tag versuchen, eine Bank zu überfallen. Oder jemand, der so verzweifelt ist, dass es ihm gleich ist.
Ob der Mann, der beschloss, an diesem Vormittag die Lifforder Filiale der Ulster Bank zu überfallen, davon wusste, ist zweifelhaft. Er hatte die Bank um kurz nach elf betreten, als einer der beiden Kassierer in die Teepause gegangen war. Er war unrasiert, seine Haut fahl, die Haare zerzaust. Er trug eine blaue Jeans, die ihm eine Nummer zu groß war, und einen bunten Pulli, dessen Saum sich auflöste. Eine Jacke trug er nicht. Er sah sich in der Filiale um, dann schlurfte er zum Ständer mit den Formularen, als wolle er ein Überweisungsformular ausfüllen. Die junge Frau am Schalter, Catherine Doherty, wurde misstrauisch. Sie griff unter die Theke und legte den Finger sachte auf den Alarmknopf, der sich dort verbarg, bereit, notfalls den Alarm auszulösen.
Der Mann blätterte die Formulare durch. Dann ging er zum Kassenschalter, anscheinend ohne zu bemerken, dass die Glasscheibe vor ihm fünf Zentimeter dick und kugelsicher war. Hinter der Scheibe strich Catherine Doherty sich die Haare aus dem Gesicht und lächelte. Dann sagte sie: »Guten Tag.« Der Mann schrie etwas, das sie nicht verstand, zog eine Pistole aus dem Hosenbund und schwenkte sie drohend vor der Scheibe hin und her. Da hatte Catherine Doherty selbstverständlich bereits den Alarmknopf gedrückt. Dann duckte sie sich unter die Theke und wartete.
Der Geldtransporter, der in Lifford zwei Geldkassetten abliefern sollte, parkte um drei Minuten nach elf Uhr vor der Filiale der Ulster-Bank. Der Wachmann im Wagen verzeichnete die Uhrzeit auf seinem Berichtsblatt und wartete, bis die Soldaten vor ihm aus ihrem Fahrzeug stiegen. Als Nächstes stiegen die Polizisten, die ihn eskortierten, aus. Schließlich öffnete der Wachmann seine Tür und wartete darauf, dass das Zeitschloss klickte. Er war zwei Minuten zu früh dran. Vielleicht blieb noch Zeit für eine Zigarette.
Sie alle hörten zur gleichen Zeit den Alarm. Instinktiv kletterte der Wachmann zurück in den Transporter und schlug die Tür zu. Ebenso instinktiv brachten vier Soldaten ihre Waffen in Anschlag.
Instinktiv drehte der Mann in der Bank sich um und rannte los, die Waffennachbildung noch in der Hand. Er stolperte durch die Tür hinaus auf den Parkplatz. Vielleicht fragte er sich, wieso die Polizei so schnell zur Stelle war. Vielleicht glaubte er, wenn er die Hände hob, würden sie nicht schießen. Er irrte sich.
Patterson hatte den Anruf auf dem Rückweg vom Carrowcreel erhalten. Als wir ankamen, lag die Leiche des Mannes noch auf dem Bürgersteig. Die Wucht der Schüsse aus den Automatikwaffen hatte ihn mehrere Schritte zurück Richtung Tür geschleudert. Seine Beine waren ausgestreckt, die Arme hinter ihm unnatürlich gekrümmt und verdreht. Er lag mit dem Gesicht zum Himmel da, die Haut über den Wangenknochen war straff gespannt, der Mund stand offen, der Kiefer hing herab. In der Brust hatte er mehrere Einschüsse und einen weiteren in der Stirn. Vermutlich hatte er sich die Hände vors Gesicht gehalten – eine letzte aussichtslose Reaktion seines Überlebensinstinkts –, denn in der rechten Handfläche befand sich ein Loch, das an Christi Wunde erinnerte, in die der ungläubige Thomas den Finger hatte legen dürfen.
Sein Kopf lag auf dem Kiesweg, leicht zur Seite gedreht, kleine Steinchen klebten an seiner Wange. Hinter seinem Kopf breitete sich langsam eine Aureole aus Blut aus, das an der Oberfläche bereits gerann. Die Waffennachbildung, die er geschwenkt hatte, als er aus der Bank gestürmt war, lag mit zertrümmertem Gehäuse mehrere Schritte von ihm entfernt.
John Mulrooney, unser hiesiger Arzt, hatte den Mann bereits für tot erklärt. Nun stand er mit dem Rücken zur Leiche und rauchte die Zigarette, die ich ihm angeboten hatte, während das Spurensicherungsteam den Toten untersuchte.
»Multiple Schusswunden. Ich schätze, die in der Stirn hat ihn getötet, aber selbst wenn nicht, hätte eine der Wunden in seinem Rumpf das vermutlich erledigt. Irgendeine Idee, wer er ist?«
»War«, sagte Patterson. »Sieht aus wie ein Ausländer.«
Diese messerscharfe Beobachtung wurde sogleich auf die Probe gestellt. Einer der Spusis brachte uns die Brieftasche des Mannes, die ein Foto einer Frau und Kleingeld im Wert von knapp unter einem Euro enthielt. Im Fach für das Papiergeld steckte ein Führerschein mit einem Foto des Toten. Sein Name lautete Joseph Patrick Mackey, seine Adresse lag in Coolatee. Hinter dem Führerschein fand ich eine kleine gefaltete Gebetskarte, verfasst in einer Sprache, die ich nicht kannte.
»Russisch?«, schlug Mulrooney vor.
»Weiß der Himmel«, sagte ich. »›Joe Mackey‹ klingt allerdings nicht besonders russisch, oder?«
»Finden Sie’s raus«, sagte Patterson und reichte mir die Autoschlüssel. »Nehmen Sie eine Frau mit, wenn Sie die Angehörigen benachrichtigen.«
Etwas fühlte sich falsch an, noch bevor ich an die Tür klopfte. Das Haus in Coolatee war riesig, stand ein Stück von der Straße zurückgesetzt und verfügte über eine geschwungene Auffahrt, die bis vor die Haustür führte. Eine eineinhalb Meter hohe Trockenmauer umgab das Grundstück, und vor der Garage stand ein neu zugelassener Avensis. Irgendwie wollte das nicht zu dem unrasierten Bankräuber mit der abgerissenen Kleidung und der so gut wie leeren Brieftasche passen.
»Hübsches Fleckchen«, sagte Helen Gorman. Ich hatte sie auf der Wache abgeholt. Helen war eine uniformierte Polizistin, mit der ich bei früheren Fällen zusammengearbeitet hatte. Dies war jedenfalls nicht das erste Mal, dass sie mich beim Überbringen solcher Nachrichten begleitete.
Eine Frau, die wir für Mrs Mackey hielten, öffnete uns die Tür. Allerdings hatte sie keinerlei Ähnlichkeit mit der jungen Frau auf dem Foto, das wir in der Brieftasche des Toten gefunden hatten. Mrs Mackey war über fünfzig, hatte gebräunte Haut und platinblondes Haar.
»Mrs Mackey?«, fragte ich leicht ungläubig.
»Ja«, sagte sie und lächelte verwirrt. »Stimmt etwas nicht?«
»Wir gehen besser hinein, Ma’am«, sagte Gorman. Mrs Mackey hörte das Unausgesprochene in diesen Worten, Grauen malte sich in ihrer Miene ab.
Doch sie blieb stehen, wo sie war, und weigerte sich, uns in die Diele zu lassen, an deren Ende wir die Küche sehen konnten. »Joe ist was passiert, nicht wahr?«
Ich suchte die Wände hinter ihr ab und musterte ein Foto nach dem anderen: ein Kind, das im Schnee spielte und mit zusammengekniffenen Augen in die Kamera lächelte; eine etwas jüngere Mrs Mackey, deren Ehemann entspannt neben ihr stand und ihre Hand hielt; ihr Mann, kahl, blass und ein bisschen dicklich. Nicht dünn, nicht schwarzhaarig, nicht der Tote vor der Lifforder Bank.
»Ich fürchte, wir haben schlechte Neuigkeiten, Ma’am«, hörte ich Gorman sagen.
»Was?«, stammelte Mrs Mackey und streckte die Hand aus, um sich an der Wand abzustützen, während sie sich mit der anderen an die Brust fasste. »Nicht Joe. Das kann nicht sein.«
Ich warf Gorman einen Blick zu und wünschte, ich hätte schneller reagiert. »Ihrem Mann ist nichts passiert, Mrs Mackey. Hören Sie, dürfen wir hereinkommen und uns setzen? Wir müssen mit Ihnen reden.«
Schließlich versicherte ich Mrs Mackey, dass ihr Ehemann – ihr kahler, blasser, dicklicher Mann –, soweit ich wusste, noch gesund und munter war und wahrscheinlich gerade Golf spielte. Dann stellten wir relativ schnell fest, dass Mrs Mackey – Diane Mackey – keine Angehörigen hatte, auf die die Beschreibung des Mannes, den wir auf der Main Street in Lifford liegen gelassen hatten, passte. Zur Sicherheit zeigte ich ihr zuletzt noch den Führerschein, den wir bei der Leiche »ihres Mannes« gefunden hatten.
»Das sind seine Daten, das stimmt – sogar das Geburtsdatum«, sagte sie. »Aber den Mann auf dem Foto kenne ich nicht. Das ist nicht mein Mann.«
»Warum könnte er den Führerschein Ihres Mannes gehabt haben?«, fragte ich.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Mrs Mackey. »Aber dieser Mann ist nicht mein Ehemann.« Dann schien ihr etwas einzufallen. »Sollten Sie so etwas eigentlich nicht sorgfältiger überprüfen? Mir zu erzählen, mein Mann wäre tot, obwohl das überhaupt nicht stimmt!«
»Normalerweise passiert uns so etwas nicht«, sagte ich. »Es war ein echtes Versehen.«
»Versehen oder nicht, ich bin sehr verärgert.«
»Das verstehe ich, Mrs Mackey«, sagte ich. »Wurde Ihrem Mann je der Führerschein gestohlen?«
»Überprüfen Sie eigentlich überhaupt nichts? Die haben uns im Februar doch das ganze Haus ausgeräumt! Wir haben tagelang Formulare ausgefüllt und aufgelistet, was gestohlen wurde. Natürlich haben wir dann von Ihren Leuten kein Wort mehr gehört. Reine Zeitverschwendung.«
Sie verschränkte die Arme und wandte den Kopf zum Fenster, um ihrer Verachtung für unsere Inkompetenz Nachdruck zu verleihen.
Patterson hatte nichts Besseres zu tun, als die gesamte Wache gleich wissen zu lassen, wie verärgert er über unseren Fehler – meinen Fehler, wie es schien – war, indem er jeden einzelnen Teil meines Berichts weithin hörbar wiederholte. Ich hatte Gorman gesagt, sie solle sich eine Beschäftigung suchen, bis er sich abreagiert hatte, und nun war ich froh über diese Anweisung. Es hätte sie nur noch mehr aus der Fassung gebracht, als sie ohnehin schon gewesen war. Ich meinerseits ließ Pattersons Wutanfall zähneknirschend über mich ergehen.
»Haben Sie nichts zu sagen, Devlin?«, stieß er hervor, als er sich verausgabt hatte.
»Es war ein echtes Versehen, Sir. Aber nichtsdestotrotz ein Versehen, für das ich die volle Verantwortung übernehme.«
Misstrauisch sah er mich an, und ich merkte, dass er nach dem Haken suchte. Ich fürchtete schon, er sammele Kräfte für eine neuerliche Schimpftirade, doch er erkannte, dass das zwecklos wäre, denn ich hatte keine Verteidigung vorgebracht.
»Dann finden Sie einfach raus, wer der Kerl wirklich war. Und vermasseln Sie das nicht auch noch«, fauchte er und stach mit dem Finger in die Luft.
»Ich tue mein Bestes, Sir«, sagte ich und stand auf.
»Das reicht offenbar nicht«, knurrte er.
Eine Weile saß ich in einem Streifenwagen, riskierte es trotz des Rauchverbots, eine Zigarette zu rauchen, und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Schließlich fuhr ich zurück zum Schauplatz der Schießerei, wo man die Leiche unterdessen zugedeckt hatte, bis der Rechtsmediziner kam. Ich holte mir die Gebetskarte, die ich in der Brieftasche des Mannes gefunden hatte, und verstaute sie sicher in einem Beweismittelbeutel. Dann fuhr ich zum örtlichen Technical College. Das »Tech«, wie es bei uns heißt, bietet ein recht breites Fächerspektrum an, darunter auch europäische Sprachen, daher war ich zuversichtlich, dass mir dort jemand dabei würde helfen können, die Sprache auf der Gebetskarte zu bestimmen. Das wäre immerhin ein erster Schritt in Richtung Identifizierung.
Nachdem ich mich am Empfang angemeldet hatte, führte eine der Sekretärinnen mich zum Büro der Leiterin des Fachbereichs Sprachen, Marie Collins, einer kleinen Frau mittleren Alters.
Sie kam um ihren Schreibtisch herum und lud mich ein, in einem der beiden Sessel Platz zu nehmen.
»Ich hoffe, ich bin nicht in Schwierigkeiten, Inspektor.« Sie lächelte freundlich.
»Ganz und gar nicht. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie mir sagen können, was für eine Sprache das ist.« Ich reichte ihr die Karte.
»Das sind Buchstaben aus dem kyrillischen Alphabet«, sagte sie, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte. »Ich würde sagen, eine kaukasische Sprache, möglicherweise Tschetschenisch. Wo haben Sie die her?«
»Sie ist Teil einer laufenden Ermittlung«, erwiderte ich.
Ihre Augen weiteten sich flüchtig, als hätte ich vertrauliche Informationen preisgegeben. »Es ist ein Gebet zum Heiligen Judas«, erklärte sie, »dem Schutzpatron der verzweifelten und hoffnungslosen Fälle.«
»Verstehe«, sagte ich.
»Ich erwähne das, weil die Tschetschenen zum größten Teil Muslime sind. Ziemlich selten, dass man auf einen tschetschenischen Katholiken stößt.«
Ich nickte, unsicher, wie ich die Bedeutung dieser Information einstufen sollte, doch ich wollte die Frau auch nicht enttäuschen. Offensichtlich freute sie sich, damit aufwarten zu können.
»Also, kann ich Ihnen noch irgendwie helfen?«, fragte sie.
»Können Sie mir den Namen des Mannes sagen, der die hier bei sich trug?«, witzelte ich. »Oder wo ich seine Familie finde?«
»Versuchen Sie’s in der Beratungsstelle für Wanderarbeiter«, antwortete sie ernsthaft. »Allerdings gibt es natürlich ein Problem: Falls er wirklich Tschetschene ist, wird er illegal hier sein.«
Der Mann, mit dem ich in der Beratungsstelle für Wanderarbeiter sprach – Pol –, war Pole. Er trug eine dunkelblaue Röhrenjeans und ein weites irisches Fußballtrikot. Sein schwarzes Haar war kurz rasiert, sodass man eine gezackte Narbe an der rechten Seite seines Schädels sehen konnte, die sich von der Schläfe bis knapp unters Ohr zog.
Er las die Gebetskarte rasch durch und zuckte unverbindlich die Achseln, als ich sagte, ich würde es für Tschetschenisch halten.
»Das spreche ich nicht«, erklärte er. Wo ich mit der Suche nach der Familie des Mannes beginnen könnte, konnte er mir auch nicht sagen.
»Wenn er gestohlene Papiere benutzt und Tschetschene ist, dann ist er ein illegaler Einwanderer. Um ehrlich zu sein, die Illegalen kommen eigentlich nicht hierher; die Migranten, die zu uns kommen, sind legal hier und suchen nach einer legalen Arbeit.«
»Irgendeine Idee, wo ich mit der Suche nach Informationen über ihn anfangen könnte?«
»Eine Menge Immigranten erledigen ihre Einkäufe auf den örtlichen Trödelmärkten. Auf der Main Street hat ein neuer polnischer Lebensmittelladen eröffnet; vielleicht kann man Ihnen da helfen. In der Weekly News gibt es jetzt eine wöchentliche polnische Kolumne – vielleicht geben Sie da was bekannt. Einmal im Monat ist in der Kathedrale eine Messe für Migranten. Und wir können natürlich auch einen Aushang machen.«
Ich dankte ihm und wandte mich zum Gehen, überlegte es mir aber noch einmal.
»Sie müssen doch etwas über die illegalen Einwanderer wissen – inoffiziell. Wo sie wohnen, wie sie überhaupt ins Land kommen.«
Pol hielt meinem Blick stand. »Sie werden von irischen Verbrechern eingeschleust, die jedem von ihnen mehrere Tausend Euro abknöpfen. Die schleusen sie in den Laderäumen von Lastwagen ein. Statten sie mit gestohlenen Papieren aus, kassieren horrende Mieten von ihnen und zwingen sie dann zu schlecht bezahlter Arbeit. Zur Polizei können die Illegalen nicht gehen, sonst werden sie ausgewiesen. Bei den Leuten, die sie eingeschleust haben, können sie sich nicht beschweren, sonst werden sie umgebracht.«
»Warum kommen sie dann überhaupt her?«
»Weil es besser ist als das, was sie hinter sich lassen. Der keltische Tiger ist überall in Europa bekannt. Jeder will was vom Wohlstand ab. Manche von uns können legal ins Land kommen – Menschen aus anderen Ländern haben noch nicht so viel Glück. In diesem Fall vermute ich, er ist vor dem Morden in seiner Heimat geflohen. Der Tschetschenienkrieg mag vorbei sein, Inspektor, aber das Morden kann weitergehen, wie in Nordirland.«
»Was hat Sie hierhergeführt?«
»Arbeit. Die Chance, etwas Geld zu verdienen, das ich meiner Frau schicken kann.«
»Sie haben Ihre Frau in Polen zurückgelassen?«
»Und unsere beiden Kinder. Ich arbeite hier zwei Jahre und verdiene so viel wie in Polen in zehn Jahren.«
»Aber Sie müssen Ihre Familie doch vermissen. Ihre Kinder vermissen doch bestimmt ihren Vater.«
»Es wird sie über der Armutsgrenze halten – das ist das kleine Opfer, das ich bringen muss, um für sie zu sorgen, wie ein Vater es tun sollte. Kinder müssen zu ihrem Vater aufsehen können.«
Ich deutete auf die Narbe an seiner Schläfe. »Ist das hier passiert oder drüben?«
»Hier. Kurz nachdem ich hierhergekommen war. Ich habe damals für den Mindestlohn in einer Nahrungsmittelverpackungsfirma gearbeitet. Eines Abends sind sie über mich hergefallen. Haben mir gesagt, ich brauche am nächsten Tag nicht mehr zu kommen. Solche wie ich wären nicht erwünscht. Sie sagten, sie würden mich umbringen, wenn ich wiederkäme.«
»Was haben Sie getan?«
»Was würden Sie tun, Inspektor?«, fragte er trotzig.
Ich nickte. »Danke für Ihre Hilfe.«
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, waren die Kinder bereits im Bett. Debbie hatte mir das Abendessen aufbewahrt, und während ich darauf wartete, dass es in der Mikrowelle heiß wurde, zeigte ich ihr die Schachtel von Orcas.
»Ein Geschenk«, erklärte ich, als sie die Augenbrauen hob. »Von John Weston.«
Schon halb lächelnd öffnete sie die Schachtel, doch als sie die Kette sah, verzog sie den Mund zu einem stummen Oh. »Himmel, Ben«, flüsterte sie. »Die ist wunderschön.«
Ich konnte ihre Begeisterung nicht so recht teilen, daher nickte ich nur.
»Wofür ist die?«, fragte sie.
»Zum Um-den-Hals-Legen«, antwortete ich, was mir einen Klaps auf den Arm eintrug.
»Du weißt genau, was ich meine«, sagte sie fröhlich, öffnete den Verschluss, nahm den Schmuck aus der Schachtel und wog ihn in der hohlen Hand.
»Das frage ich mich ja selbst«, sagte ich. »Sollen wir sie wirklich behalten?«
Debbie sah mich mit hochgezogenen Brauen an, als wollte sie sagen: Wag es ja nicht, sie mir wieder wegzunehmen.
»Warum nicht? Wie viele Vergünstigungen bekommst du denn schon?«, fragte sie und hielt sich die Kette um den Hals. »Mach mir mal den Verschluss zu.«
Sie hatte sich die Haare kurz schneiden lassen, sodass ihr schlanker Nacken zur Geltung kam. Ich ließ den Verschluss der Kette zuschnappen und strich mit den Fingern über die Haut ihrer Halsbeuge. Sie tätschelte mir die Hand, dann stellte sie sich in der Diele vor den Spiegel .
»Wunderschön«, flüsterte sie ehrfürchtig.
»Und die Kette ist auch nicht übel«, fügte ich hinzu.
Lächelnd wandte sie sich zu mir um und sah mich auf eine Weise an, die jedes weitere Wort überflüssig machte.