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Samstag, 14. Oktober
Den Samstagvormittag verbrachten Debbie und ich mit den Kindern beim Einkaufen in Derry. Unterwegs in die Stadt klagte Penny, sie habe Durst, daher hielten wir an einem Laden an der Grenze, und ich ging mit ihr hinein, um Getränke für alle zu kaufen.
Während wir an der Kasse warteten, erkannte ich den Mann ganz vorne in der Schlange wieder. Er trug Anzug und Fliege und hatte gerade die Hand auf den Mund gelegt, um ein Gähnen zu unterdrücken: Karol Walshyk. Er entschuldigte sich bei dem Mädchen an der Kasse, nahm seine Milch und sein Brot und drehte sich zu uns um. Vor lauter Schlafmangel waren seine Augen nur schmale Schlitze, und ich nahm an, er habe gerade eine weitere Nachtschicht hinter sich. Als er an uns vorbeikam, lächelte er. Offenbar wusste er, dass er mich von irgendwoher kannte, doch dann fiel ihm wohl ein, woher, und er blieb stehen.
»Inspektor Divine?«, fragte er und deutete auf mich.
»Devlin.« Ich nickte. »Guten Morgen, Doktor. Lange Nacht gehabt?«
»Hektische Nacht«, erwiderte er. Dann sah er hinab zu Penny, die zu ihm hochsah und mit einer Hand die Vorderseite meines Hosenbeins gepackt hielt.
»Und wer ist diese junge Dame?«, fragte er.
»Das ist meine Tochter Penelope«, sagte ich und zauste sie dabei. Sie schielte zu mir hoch und sah dann wieder zu Walshyk.
»Hallo«, sagte Walshyk und streckte ihr die Hand hin. Penny sah erneut zu mir, lächelte unsicher und schüttelte ihm dann ganz schnell die Hand, ehe sie beide Arme um mein Bein schlang.
»Ich wollte unsere gemeinsame Freundin besuchen«, sagte er und richtete sich auf. »Ihr Haus ist abgebrannt.«
»Das ist richtig«, sagte ich.
»Wissen Sie, wo sie jetzt ist?«
Ich schüttelte den Kopf. Die Wendung, die das Gespräch nahm, war mir gar nicht recht, zum einen, weil ich nicht beruflich mit ihm über den Fall sprechen wollte, zum anderen, weil mir klar war, dass Natalias Verschwinden meine Schuld war.
»Haben Sie ihr nicht geholfen?«
»Doch«, erwiderte ich. »Ich habe es versucht. Sie – wir haben sie verloren«, sagte ich so leise wie möglich.
»Sie haben ihr gesagt, Sie würden ihr helfen«, stellte er mit unerbittlichem Blick fest. Ich spürte, dass Penny besorgt zu mir hochsah und unserem Gespräch zu folgen schien. »Sie haben ihr versprochen, ihr zu helfen«, fuhr er fort, und der implizite Vorwurf war unüberhörbar.
»Ich habe mein Möglichstes getan.«
»Tatsächlich? Ich hätte Ihnen nicht trauen dürfen.«
Ich spürte, wie Pennys Griff um mein Bein sich ein wenig lockerte.
»Es tut mir leid, dass Sie das so sehen«, sagte ich mit rotem Gesicht. »Ich muss meiner Tochter etwas zu trinken kaufen. Entschuldigen Sie mich.«
Später im Auto fragte Penny mich nach dem Gespräch. Debbie sah mich ebenfalls fragend an, und ich versuchte, ihre Sorge mit einem Achselzucken abzutun, während ich den Motor anließ.
»Warum war der Mann böse auf dich, Daddy?«, fragte Penny und drehte den Verschluss von ihrem Getränk ab.
»Er … Ich hatte ihm gesagt, ich würde etwas tun, und ich konnte es nicht.«
»Warum?«
»Das ist kompliziert. Er hat mich gebeten, auf jemanden aufzupassen, und das habe ich nicht geschafft.«
»Er hat gesagt, du hättest es versprochen. Hast du dein Versprechen gebrochen?«, fragte sie.
»Das ist nicht so einfach«, sagte Debbie, was allerdings nichts an dem tadelnden Blick änderte, den ich im Rückspiegel sah.
»Du musst deine Versprechen halten, Daddy.«
»Ich weiß, Liebes, ich weiß.«
Ich versuchte die Ereignisse des Vortags zu vergessen, doch was Fearghal und sein jüngerer Bruder gesagt hatten, kränkte mich mehr, als ich mir eingestehen mochte. Ich hatte mir eingeredet, zur Polizei zu gehen sei der einzige Weg, etwas auszurichten und meine eigenen Überzeugungen und Prinzipien so umzusetzen, dass sie echte und dauerhafte Auswirkungen hätten. Doch allmählich kam mir der Verdacht, dass dem nicht so war. Caroline Williams, meine ehemalige Partnerin, hatte den Dienst quittiert, weil sie nicht mehr das Gefühl hatte, dass die Früchte ihrer Arbeit die Risiken rechtfertigten. Gleichgültig, was wir taten oder wie wir es taten, es gebot dem Verbrechen keinen Einhalt, wie mir immer deutlicher bewusst wurde, und schon gar nicht hielt es jemanden wie Cathal Hagan davon ab, in seinen Reden über die Notwendigkeit militärischer Interventionen den Hardliner zu geben, während er sich die Taschen mit dem Profit aus solchem Vorgehen vollstopfte.
Dies versuchte ich Debbie zu erklären, als wir nachmittags nach Hause fuhren und die Kinder auf dem Rücksitz schliefen.
»Du kannst die Welt nicht verändern«, sagte sie und suchte nach einem vernünftigen Radiosender. »Du kannst nur dein kleines Eckchen darin zu einem angenehmeren Ort machen.«
»Reicht das denn?«, fragte ich.
»Es muss reichen«, stellte sie fest. Dieser schlichten Einsicht hatte ich nicht viel entgegenzusetzen.
Schließlich fand sie einen Sender, der ihr zusagte, drehte die Lautstärke ein wenig hoch, setzte sich auf dem Beifahrersitz zurecht, zog die Knie an die Brust und stellte die Füße vor sich aufs Armaturenbrett.
Ich dachte noch immer über das nach, was sie gesagt hatte, als im Radio die Kurznachrichten verlesen wurden. Die erste Nachricht betraf den Fund einer Leiche in der Nähe der Orcas-Goldmine. Eine Männerleiche war aus dem Carrowcreel geborgen worden.
Fünf Minuten später rief Fearghal Bradley mich auf dem Handy an. Er glaubte, dass es sich bei der Leiche um Leon handelte.
Er holte mich zu Hause ab, und wir fuhren zum Carrowcreel.
»Leon ist seit gestern Abend verschollen«, erklärte er. »Ich habe bei der Polizei angerufen, und dieses Arschloch Patterson hat mir gesagt, er könne mir nicht helfen, aber man habe draußen am Fluss eine Leiche gefunden. Es sei zu früh, um mehr darüber zu sagen.«
»Das hat er gesagt?«, fragte ich, doch ein wenig überrascht. Das war eine reichlich gefühllose Art, mit einem besorgten Angehörigen zu sprechen, selbst für einen Harry Patterson.
»Er hat nicht direkt gesagt, dass es Leon ist. Er sagte, Leon wäre noch nicht lange genug weg, um ihn als vermisst zu betrachten. Vielleicht sei er ja einfach zu einem Freund gegangen oder so.«
»Könnte das nicht auch stimmen?«, fragte ich.
Fearghal schüttelte den Kopf, und dann erklärte er mir, warum.
Nachdem wir uns am Vortag getrennt hatten, hatte er Leon zurück zu seinem Hotel gebracht und dort ein Zimmer für ihn genommen. Er sagte, er habe ihn für eine Weile von den Aussteigern im Lager am Fluss fernhalten wollen, weil er gehofft hatte, dass Leon sich dann so lange nichts zu Schulden kommen lassen würde, bis die Aufregung über die Ereignisse der letzten Woche sich gelegt hatte.
Er und Leon hatten sich gestritten, Leon hatte sich von seinem Bruder wie ein Kind behandelt gefühlt. Fearghal hatte ihm gesagt, er habe sich mit den falschen Leuten eingelassen. Er hatte Leon ins Gewissen geredet und ihm gesagt, er würde in ernste Schwierigkeiten kommen, wenn er erneut gegen die Kautionsauflagen verstieße und zurück über die Grenze ginge. Und er hatte Leon erklärt, da er, Fearghal, seine Kaution gestellt habe, müsse er auch die finanzielle Last tragen, wenn Leon gegen die Kautionsauflagen verstieße.
Schließlich hatte Leon eingewilligt, ein Zimmer im Hotel zu nehmen, doch er hatte erklärt, dass er draußen am Carrowcreel jemanden treffen müsse. Nach dem Treffen werde er aber direkt ins Hotel zurückkommen. Er hatte Fearghal sein Wort gegeben.
»Vielleicht machst du dir wegen nichts und wieder nichts Sorgen, Fearghal«, wandte ich ein. »Vielleicht hat er gelogen, als er sagte, dass er gleich zurückkommt.«
Fearghal schüttelte knapp den Kopf. »Leon hält sein Wort immer. Besonders nach gestern. Er hat sich so gefreut, dass ich zu ihm gehalten habe, da würde er mich nicht enttäuschen. Ihm ist etwas zugestoßen, das weiß ich.«
»Hast du es auf seinem Handy probiert?«
»Tot«, erwiderte er.
»Hast du dich bei den anderen Garda-Wachen erkundigt? Oder beim PSNI? Vielleicht haben sie ihn wegen irgendwas anderem festgenommen?«
»Patterson sagte, er hätte davon erfahren, wenn sie ihn einkassiert hätten. Aber er war nicht besonders entgegenkommend, wahrscheinlich wegen dem, was Leon bei Orcas mit Hagan gemacht hat. Ich hatte gehofft, du könntest mit zum Fundort kommen. Vielleicht erfährst du ja, ob es Leon ist. Dir werden sie Sachen sagen, die sie mir nicht sagen.«
Ich war sicher, dass Patterson auch mir gegenüber nicht entgegenkommender sein würde, aber ich sagte nichts – ich wollte Fearghal helfen, trotz allem, was vorgefallen war. Und wenn ich ehrlich war, vermisste ich meine Arbeit und war begierig, zum Fundort zu kommen.
Als wir ins Lager unter den hohen Kiefern fuhren, hatte An Garda bereits eine Absperrung errichtet. Ich sah mehrere mir bekannte Polizisten die Bewohner der diversen Campingbusse und Wohnwagen befragen. Patterson war nirgends zu sehen, doch ich vermutete, dass wir noch ein Stück vom Fundort der Leiche entfernt waren und er dort sein würde.
Dann entdeckte ich Helen Gorman, die am anderen Ende der Absperrung Wache stand. Sie unterhielt sich lachend mit einem jungen Kollegen, den ich nicht kannte. Als ich mich näherte, entfernte sie sich von ihm und winkte mir zu.
»Wie ist der Urlaub?«, fragte sie und vermied dabei sorgsam das Wort »Suspendierung«, als hätte ich mir freigenommen.
»Prima«, sagte ich. »Aber ich konnte mich von alldem nicht fernhalten«, fügte ich hinzu und hob versuchsweise das Absperrband an, um darunter hindurchzuschlüpfen.
Helen lächelte unsicher, blickte sich um, hob dann das Band hoch und winkte mich mit einem Nicken darunter hindurch.
»Danke, Helen«, sagte ich. »Bradley hat Angst, dass das da sein Bruder Leon ist, aber Patterson will ihm nichts Genaueres sagen.«
Sie senkte den Blick und schürzte die Lippen, sagte aber nichts – vermutlich hatte man die Leiche bereits als Leon Bradley identifiziert.
Ich näherte mich dem Fundort von Westen her in der Hoffnung, bis zu Leons Leiche zu gelangen, ehe ich auf Patterson traf. Nach wenigen Hundert Metern sah ich einige Polizisten zusammenstehen, und am Boden lag ein bekleideter Körper, über dem eine Frau kniete – vermutlich die Leichenbeschauerin, die den Tod offiziell feststellen sollte.
Als ich mich näherte, sahen mehrere Kollegen zu mir hin. Einige nickten und lächelten, als sie mich erkannten, andere jedoch blickten finster. Ich wandte meine Aufmerksamkeit der Leiche zu, die auf dem Waldboden lag, und mir stockte kurz der Atem, obwohl ich darauf vorbereitet gewesen war, dass es sich um Leon handelte.
Die nassen Haare klebten ihm wirr im blassen, ein wenig aufgedunsenen Gesicht. Seine Augen standen offen, waren aber trübe, und in seinem weit geöffneten Mund steckten Blätter aus dem Fluss. Als ich am Hals und am Kinn kleine schwarze Stellen sah, trat ich näher. Die Ärztin blickte von ihrer Arbeit auf. Mit behandschuhten Händen hielt sie Leons Arm.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
»Inspektor Devlin«, erwiderte ich. »Was ist ihm zugestoßen?«
»Ein Schuss«, stellte sie schonungslos fest und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
»Schrotflinte?«, riet ich und deutete auf die schwarzen Stellen am Hals.
Sie nickte. »Die Hauptwunde befindet sich am Rücken. Das sind nur die Randschrote.«
»Todeszeitpunkt?«
Sie verzog den Mund. »Schwer zu sagen. Das ist Aufgabe der Rechtsmedizin.«
»Grob geschätzt?«
Verärgert sah sie zu mir hoch. »Grobe Schätzungen gebe ich grundsätzlich nicht ab.«
Ich hatte keine Gelegenheit, das Gespräch fortzusetzen, denn von hinten packte mich jemand am Arm. Ich drehte mich um und erblickte Harry Patterson.
»Was wollen Sie denn hier, Sie Idiot?«, fragte er.
»Er hat gesagt, er sei Inspektor«, erklärte die Ärztin hinter mir hilfsbereit.
»Das bin ich auch«, sagte ich. »Und außerdem bin ich ein Freund der Familie des Opfers.«
»Sie sind suspendiert«, sagte Patterson. »Das ist das Einzige, was für mich zählt. Wenn ich Sie an einem Tatort haben will, dann schicke ich Sie hin. Ansonsten verpissen Sie sich – es sei denn, Sie wollen noch eine weitere Woche freihaben.«
»Sie sollten seinem Bruder lieber sagen, dass er tot ist. Er steht da oben an der Absperrung und wartet.«
»Er wird es früh genug erfahren«, entgegnete Patterson und ließ meinen Arm los.
»Haben Sie ein bisschen Mitleid, Harry, Herrgott«, sagte ich. »Er hat seinen Bruder verloren.«
»Sein Bruder hat bekommen, was er verdient hat. Er hat nichts als Ärger gemacht, seit er hier ist. Ich sollte mich vermutlich nicht wundern, dass er ein Freund von Ihnen ist.«
Damit stolzierte er davon, doch mir fiel auf, dass er, nachdem er sich ein Stück entfernt hatte, die Richtung änderte und auf die Absperrung und Fearghal Bradley zusteuerte.
Ich ging zu Gorman zurück.
»Er ist es, oder?«, fragte sie.
Ich nickte grimmig. »Was ist passiert?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe nicht alles mitbekommen. Ihm wurde irgendwo flussaufwärts in den Rücken geschossen. Einer der Goldschürfer war am Ufer, als die Leiche vorbeitrieb. Sie blieb an ein paar Ästen hängen, die am anderen Ufer aufs Wasser rausragen, und zu zweit haben sie ihn rausgezogen.«
»Irgendwelche Anhaltspunkte, wer ihn erschossen hat?«, fragte ich. »Oder wo es passiert ist?«
»Soweit ich gehört habe, nicht.«
»Danke, Helen«, sagte ich.
Sie nickte, zog die Mütze ein bisschen tiefer ins Gesicht und wandte sich ab.
Ich stand an Fearghals Wagen und rauchte, während ich auf ihn wartete. Ich nahm an, dass Patterson mit ihm an eine ruhigere Stelle gegangen war, um ihm die Nachricht von Leons Tod beizubringen. Ein Stück links von mir saßen die Aussteiger, bei denen ich Leon manchmal gesehen hatte, im Kreis vor ihren Campingbussen, jeder mit einer Dose Bier. In der Mitte hatte jemand ein Feuer gemacht, und schweigend sahen sie zu, wie der Rauch sich himmelwärts kräuselte. Einige weinten und lehnten sich Trost suchend aneinander.
Ich rauchte zu Ende, sah mich um und schaute, ob keiner meiner Kollegen in der Nähe war, dann ging ich auf die Gruppe zu. Einer oder zwei sahen hoch, als ich zu ihnen kam, die übrigen starrten weiter in die Flammen, wie in Trance. Ihr Mischlingshund hob den Kopf ein paar Zentimeter von den Vorderpfoten, bellte mich träge an und legte den Kopf wieder hin, als sein Halter, ein älterer Mann mit langen verfilzten grauen Haaren, ihm durch die Zähne zupfiff.
»Danke«, sagte ich, und er nickte. »Das mit Leon tut mir leid«, fuhr ich fort. »Ich habe ihn auch gekannt. Als er ein Kind war. Er war mit meinem kleinen Bruder befreundet.«
Der grauhaarige Mann nickte. »Das hat er uns erzählt«, sagte er, hob die Dose an den Mund und trank sie leer.
»Dürfte ich Sie kurz sprechen?«, fragte ich, denn ich wollte ihn nicht in Gegenwart des schweigenden Kreises vor mir befragen.
Der Mann zögerte kurz, als wollte er zeigen, dass er nicht sofort nach meiner Pfeife tanzte, dann stand er auf. Wir entfernten uns ein Stück von der Gruppe, und ich bot ihm eine von meinen Zigaretten an, ehe ich mir selbst eine ansteckte. Ich stellte mich vor, und der Mann sagte, er heiße Peter.
»Wer hat Ihnen gesagt, dass er es ist«, fragte ich.
»Zwei von den Jungs, die geholfen haben, ihn aus dem Wasser zu ziehen, bevor die Bullen überhaupt hier waren.« Er sah mich an und fügte hinzu: »Ist nicht persönlich gemeint.«
»Habe ich auch nicht so verstanden. Irgendeine Idee, was ihm passiert sein könnte?«
»Das werden Sie besser wissen als wir«, stieß er hervor. »Sie sind der Cop.«
»Das stimmt. Dann vielleicht irgendeine Ahnung, wer ihn hätte umbringen wollen?«
»Das weiß ich nicht, Mann. Leon war einer von den Guten. Er hat sich keine Feinde gemacht.«
»Abgesehen von Cathal Hagan und Eligius, meinen Sie.«
»Bei denen würde ich anfangen, wenn ich Sie wäre«, entgegnete er verbittert. »Die Polizisten hatten ihn wegen dieser Hagan-Sache auf dem Kieker. Er hat mir erzählt, dass Ihre Leute ihn im Gewahrsam verprügelt haben.«
»Was hatte er mit Janet Moore zu tun?«, fragte ich.
Peter sah mich argwöhnisch an. »Warum?«
»Hatten die beiden ein Verhältnis?«
Er schob das Kinn ein Stück vor, was ich als Bestätigung nahm. Janet würde befragt werden müssen.
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Gestern Abend. Er wollte irgendwohin.«
»Wohin?«
»Das weiß ich nicht. Er hatte eine SMS bekommen.«
»Worum ging es?«
Peter zuckte die Achseln. »Ich schätze, er sollte sich mit jemandem treffen. Und bevor Sie fragen: Ich weiß nicht, mit wem.« Mit Daumen und Zeigefinger kniff er die Glut von seiner Zigarette ab. »Ich gehe lieber wieder zu den anderen«, sagte er. »Danke für die Kippe.«
Als ich beim Auto ankam, saß Fearghal bereits darin. Sein Gesicht war verquollen und gerötet, die Augen rot vom Weinen. Als ich die Tür öffnete, rieb er sich hastig mit den Handballen übers Gesicht und dehnte den Kiefer.
»Es tut mir leid, Fearghal«, sagte ich, setzte mich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Danke, Benny«, sagte er. »Und danke, dass du mit mir hier rausgefahren bist. Tut mir leid, falls es Zeitverschwendung war. Dieser Superintendent ist zu mir gekommen und hat es mir dann doch erzählt.«
»Keine Ursache«, sagte ich.
»Hast du ihn gesehen?«, fragte Fearghal. »Leon? Wie sah er aus?«
Ich zermarterte mir das Hirn nach einer angemessenen Antwort, aber Fearghal fuhr bereits fort: »Ich habe ihn noch nicht gesehen. Ich muss ins Krankenhaus, um ihn zu identifizieren.«
Ich nickte.
»Könnten sie sich geirrt haben? Könnte es nicht jemand anderes gewesen sein?«, fragte er beschwörend, und seine Miene hellte sich auf.
Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«
»Nein«, sagte er. »Du hast recht.« Er schniefte mehrfach, räusperte sich und drehte den Zündschlüssel. »Ich setze dich zu Hause ab, bevor ich ins Krankenhaus fahre. Aber du musst mir den Weg beschreiben.«
»Ich komme mit, Fearghal«, sagte ich. »Wenn du willst.«
Er sah mich an und lächelte, doch dann fiel sein Gesicht wieder in sich zusammen, er schluchzte und lehnte die Stirn ans Lenkrad.
Ich legte ihm erneut die Hand auf die Schulter und saß schweigend neben ihm, bis sein Körper nicht mehr bebte.
Zum zweiten Mal in zwei Wochen stand ich im Kühlraum des Krankenhauses in Letterkenny.
Fearghal Bradley musterte das Gesicht seines Bruders, als könnte er dort irgendwie einen Grund für das Geschehene finden. Der Krankenhausangestellte wollte das grüne Tuch weiter hochziehen, um die Wunden der Schrotkugeln zu verdecken, doch Fearghal hatte sie bereits gesehen.
»Er wurde erschossen?«, fragte er ungläubig. »Ich dachte, er wäre ertrunken.«
Der Angestellte zog das Tuch wieder über Leons Kopf und machte Anstalten, die Leiche dorthin zurückzubringen, wo der Rechtsmediziner sie untersuchen würde.
»Warum hätte ihn denn jemand erschießen sollen?«, fragte Fearghal mich und packte mich am Unterarm.
»Ich weiß es nicht, Fearghal«, sagte ich. »Aber ich verspreche dir, ich finde es heraus.«
Vor dem Kühlraum gab man Fearghal eine Plastiktüte mit denjenigen von Leons Habseligkeiten, die die Spurensicherung nicht einbehalten hatte. Draußen im Auto gingen wir die Sachen durch: eine Armbanduhr, ein Zippo-Feuerzeug, Ohrstecker, ein Handy, ein paar zusammengepappte verblasste Fünf-Euro-Scheine.
»Nicht viel vorzuzeigen für dreißig Jahre auf diesem Scheißplaneten, was?«
»Das sind doch nur Dinge, Fearghal«, sagte ich. »Deine Erinnerungen an Leon sind das, was zählt. Die Freunde, die er hatte, die Leute, die er kannte.«
»Warum hätte ihn jemand umbringen sollen? Ich weiß, er konnte manchmal eine echte Nervensäge sein, aber er war kein schlechter Kerl«, sagte er beinahe flehend, als müsste er mich davon überzeugen, wie wenig sein Bruder den Tod verdient hatte.
Er legte die Tüte neben meinen Füßen auf den Boden, dann ließ er den Motor an. Unterwegs dachte ich über das nach, was Peter gesagt hatte. Leon hatte sich mit jemandem treffen wollen. Er hatte eine SMS bekommen.
»Hast du was dagegen, dass ich mir mal Leons Telefon ansehe?«, fragte ich.
»Warum? Meinst du, es könnte wichtig sein?«, fragte Fearghal zurück.
»Ich weiß es nicht, Fearghal«, sagte ich. »Vielleicht funktioniert es nicht einmal mehr, es ist ja nass geworden. Ich will es nur überprüfen.«
Zuerst funktionierte das Telefon tatsächlich nicht. Ich nahm die Batterie heraus und trocknete sie an meinem Hemd ab, und nach ein paar Versuchen erwachte das Handy doch zum Leben. Das Display zeigte ein Bild von Leon und Janet Moore, das Leon selbst aufgenommen hatte. Sie hatten die Gesichter aneinandergelegt und lächelten, und ich war ein wenig verlegen, etwas so Intimes zu betrachten.
Zuerst sah ich mir die eingegangenen Nachrichten an. Die letzte hatte er früh am gestrigen Morgen von JANET erhalten – Janet Moore, wie ich annahm. Sie war schlicht: »Treffen um 8. McElroys.« McElroys war der Name eines Lokals in Lifford. Danach musste man Janet Moore auf jeden Fall fragen.
Ich wechselte in den Gesendet-Ordner und scrollte durch die Nachrichten, um zu sehen, ob er sich seinerseits mit jemandem verabredet hatte, doch ich fand nichts. Ich sah die Liste der getätigten Anrufe durch. Viele waren an Janet gegangen, darunter, wie mir auffiel, einer um zwei Uhr am Freitagmorgen, nur Minuten vor einem Anruf bei Fearghal. Leon hatte sie offensichtlich von Eligius aus angerufen, um ihr von seiner Beteiligung an dem Einbruch zu erzählen.
Ich sah auf die Uhr im Armaturenbrett: halb elf. Es war zu spät, um mich jetzt noch an Janet Moore zu wenden, aber ich beschloss, dies am nächsten Tag bei der erstbesten Gelegenheit zu tun, um etwas über dieses Treffen am Freitagabend in Erfahrung zu bringen. Es könnte gut das letzte Mal gewesen sein, dass Leon lebendig gesehen worden war. Zudem war mir klar, dass Harry Patterson Leon Bradley immer noch grollte, und ich war ziemlich sicher, dass er den Kollegen, die den Fall bearbeiteten, nicht allzu viel Dampf machen würde. Was mich anging, so musste ich wissen, ob Janet Moore Leon am Abend, bevor er gestorben war, getroffen hatte.