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Mittwoch, 18. Oktober
Wie vor zwei Tagen war meine erste Aufgabe an diesem Morgen die Teilnahme an einer Beerdigung – diesmal an Janet Moores. Es war die dritte Beerdigung in ebenso vielen Wochen, und der strahlend schöne Tag konnte das bleierne Gewicht, dass mir dauerhaft im Magen zu liegen schien, kaum mindern.
Diese Beerdigung war noch besser besucht als Leons. Janet hatte viele Menschen gekannt, und ich entdeckte zahlreiche Mitarbeiter von Presse und Fernsehen unter den Trauergästen. Außerdem fielen mir diverse PSNI-Beamte ins Auge, darunter auch Jim Hendry, der mir zuzwinkerte, als unsere Blicke sich trafen.
Der Einzige, der unübersehbar fehlte, war Karl Moore, und ich bemerkte, dass die erste Bankreihe in der Kirche frei geblieben war. Der Predigt des Pfarrers war anzumerken, dass er sich sehr bemühte, die Todesart und den mutmaßlichen Täter nicht zu erwähnen. Tatsächlich sprach er die ganze Zeit von »diesem sinnlosen, tragischen Vorfall«. Mir ging durch den Kopf, dass sämtliche Vorfälle, in die ich derzeit verwickelt war, sinnlos waren und jeder seine ganz eigene Tragik barg.
Nach der Beerdigung blieb ich auf dem Friedhof zurück, und als die Trauergäste sich zerstreuten, kam eine Frau zu mir. Sie hatte einen athletischen Körperbau und trug ihre blonden Haare in einem Knoten.
»Inspektor Devlin«, stellte sie fest und hatte die Hand bereits ausgestreckt.
»Ms McGonagle?«
Sie nickte knapp. »Nuala«, sagte sie.
»Danke, dass Sie sich mit mir treffen. Das mit Ihrer Freundin tut mir leid.«
»Karl hat sie umgebracht, stimmt’s?«
Der PSNI hatte noch keine Einzelheiten über Janets Tod bekannt gegeben, daher fragte ich mich, ob Jim Hendry es ihr erzählt hatte, als er mit ihr gesprochen hatte. Sie spürte mein Widerstreben, ihr zu antworten.
»Karl ist nicht hier, und niemand hat ihn erwähnt. Ich nehme also an, er hat es getan – habe ich recht?«
»Es sieht so aus.«
»Was ist mit Leon Bradley? Wo ist der?«
»Ich kann Ihnen nicht …«
»Er ist auch tot, nicht wahr?«
»Ms McGonagle …«
»Nuala«, korrigierte sie mich. »Er ist auch tot, nicht wahr? Karl hat ihn auch getötet?«
»Das wissen wir nicht. Falls er von der Affäre wusste …«
»Oh, er wusste davon«, unterbrach sie mich düster. »Oder er hatte einen Verdacht.«
Ich erinnerte mich an meine erste Begegnung mit ihm; er hatte einen »Bradley« erwähnt, als ich fragte, woher Janet von Hagans Besuch erfahren hatte. Ich hatte angenommen, er meine Fearghal.
»Hat Janet Ihnen an dem Wochenende etwas erzählt? Irgendetwas, woraus Sie hätten schließen können, dass sie in Gefahr sein könnte?«
»Am Donnerstag hatten Karl und sie sich gestritten«, sagte sie und sah auf die Uhr. »Vielleicht könnten Sie jetzt Ihre Einladung zum Kaffee einlösen. Ich muss um drei wieder in Belfast sein«, sagte sie und ging in Richtung Friedhofstor.
»Sie hatten sich gestritten«, fuhr sie fort, als wir uns im Café in der Nähe des Old Courthouse niedergelassen hatten. »Karl hatte herausgefunden, dass sie an dieser Aktion in der Goldmine beteiligt gewesen war.«
»Der Schuss auf Hagan?«
Sie nickte, riss ein Stück von ihrem Panino ab, biss hinein und kaute einige Sekunden schweigend. »Hm-hm. Einer von Ihren Leuten hatte ihm erzählt, dass sie eine ihrer Eintrittskarten Leon gegeben hatte, damit er in die Mine hineinkam.«
»Was meinen Sie mit ›einer von Ihren Leuten‹?«
»Ein Polizist, der in der Mine zu tun gehabt hatte. Er und Karl spielen offenbar zusammen Fußball. Karl schrie Zeter und Mordio, als er vom Spiel zurückkam. Sie hat es geleugnet, sie sagte, Leon würde ihr bei der Recherche helfen, aber sie glaubte nicht, dass er ihr das abgenommen hat.«
Ich hörte ihr nicht mit voller Aufmerksamkeit zu. Ein Polizist, der mit Karl Fußball spielte – und zugleich jemand, der dämlich oder abgestumpft genug war, einem gehörnten Ehemann so etwas zu erzählen. Patterson selbst hatte mir gesagt, dass sie zusammen Fußball spielten. Es war unwahrscheinlich, dass Patterson die nachfolgende Kettenreaktion bewusst hatte auslösen wollen, aber es blieb der Fakt, dass seine Dummheit bereits zwei Menschen das Leben gekostet hatte – am Ende würden es möglicherweise sogar drei sein.
»Also, glauben Sie nun, dass er Leon auch getötet hat?«, fragte Nuala erneut.
»Offen gesagt, ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Wir wissen, dass jemand für Freitagabend eine Verabredung mit Leon getroffen hat, indem er Janets Handy benutzte. Da sie bei Ihnen in Belfast war, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich für denselben Abend mit Leon verabredet hat.«
»Also war es Karl«, folgerte sie. »Er hat ihn getötet, ist dann zurückgekommen und …«
Sie sprach ungemein nüchtern über diese Vorfälle, und ich fand es merkwürdig, dass die Beerdigung und der Tod ihrer Freundin ihr äußerlich so wenig zusetzten. Ich beschloss, nicht weiter über die Morde zu reden.
»Und Janet brachte Ihnen also Wasser zum Testen.«
Sie stellte die Tasse zurück auf die Untertasse und nahm ihre Handtasche, die sie auf dem Boden zwischen ihren Füßen abgestellt hatte.
»Sie gab mir eine Flasche mit Wasser, das aus einem Fluss in der Nähe dieser neuen Goldmine stammte, wie sie sagte. Jemand hatte ihr erzählt, ihm seien eine Menge toter Fische im Wasser aufgefallen. Janet war überzeugt, dass die Mine etwas in den Fluss einleitet, das die Fische tötet.«
»Hatte sie recht?«, fragte ich. Weston hatte mir gesagt, sein Unternehmen habe vor Beginn des Abbaus eine vollständige Analyse der Auswirkungen auf die Umwelt in Auftrag gegeben. Ein Umweltskandal würde das Image der Firma ernsthaft beschädigen und die Rekordgewinne wahrscheinlich einbrechen lassen.
»Es scheint so. Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, habe ich eine signifikante Schwefelsäurekonzentration im Wasser gefunden. Jedenfalls genug, um die Fische zu töten.«
»Und die könnte von der Goldmine stammen?«, fragte ich.
Sie zog ein Bündel Papiere aus der Tasche und reichte sie mir über den Tisch.
»Das Gold in dieser Mine wird in Sulfiden gefunden, wie es meist der Fall ist. Reine Goldadern findet man nur ziemlich selten – aus diesem Gold wird dann Schmuck hergestellt. Das Gestein jedoch, in dem die Sulfidverbindungen enthalten sind, wird zermahlen und einer Reihe von Prozessen unterzogen. Unter anderem wird es mit Detergenzien gewaschen, um das Goldsulfid herauszulösen. Dann gewinnt man daraus mit Cyanid das Gold. Auf diese Weise gewonnenes Gold ist nicht so rein, aber für die Verwendung in Computerplatinen, Nadeln, Kabeln und so weiter genügt es.«
»Aber Sie haben kein Cyanid im Wasser gefunden«, wandte ich ein.
Sie hob den Zeigefinger. »Ein achtzehnkarätiger Goldring hinterlässt über zwanzig Tonnen belasteter Abfälle, Inspektor. Cyanid ist nur eines der Probleme. In Rumänien führten im Jahr 2000 starke Regenfälle dazu, dass einer der Dämme, die belastete Abwässer zurückhielten, brach. Das Cyanid, das daraufhin in den dortigen Fluss gelangte, tötete sämtliche Fische in der Region und vergiftete das Trinkwasser für mehr als zwei Millionen Menschen monatelang. In den USA gelangten 1992 die Abwässer einer Goldmine in einen Fluss und töteten über eine Länge von fünfundzwanzig Kilometern stromabwärts alles Leben im Wasser.«
»Aber Sie haben im Carrowcreel kein Cyanid gefunden«, beharrte ich.
»Cyanid ist nur eines der Probleme«, wiederholte sie. »Auch ohne Cyanid enthalten die Abfallprodukte einer Mine immer noch Sulfide. Mit Regenwasser können sie sich zu Schwefelsäure verbinden, die dann ins Grundwasser sickert oder, wie in diesem Fall, in einen örtlichen Fluss. Unverdünnt ist sie so giftig wie Batteriesäure.«
»Könnte irgendetwas anderes für die Verunreinigung verantwortlich sein, abgesehen von der Mine?«, fragte ich.
»Das könnte ganz natürlich in sulfidreichem Gestein passieren, aber nicht in der Konzentration, die ich gefunden habe«, sagte sie.
»Reicht das, um den Laden dichtzumachen?«, fragte ich. Ich hatte meine eigenen Vorbehalte gegen Weston und seine Mine, aber eine Schließung wäre ein schwerer Schlag für die hiesige Wirtschaft.
»Das hängt davon ab, ob der politische Wille besteht, etwas deswegen zu unternehmen«, stellte sie fest. »Wie immer läuft es darauf hinaus, wen man kennt und wie gut.«
Ich musste wieder daran denken, wie unsere Parlamentsabgeordnete Miriam Powell in der Mine mit Cathal Hagan gescherzt hatte.
»Die Ergebnisse meiner Tests stehen hier drin, Inspektor. Sie sollten sich aber lieber mit der Wasserbehörde hier in der Republik in Verbindung setzen und die ihre eigenen Tests anstellen lassen.«
»Das könnte problematisch werden«, sagte ich und bedauerte die Bemerkung sofort.
»Warum?«, fragte Nuala mit schneidender Stimme.
»Ich bin im Augenblick eigentlich nicht im Dienst.«
Sie nickte knapp. »Das hat der nordirische Polizist mir schon gesagt.«
»Warum haben Sie dann eingewilligt, sich mit mir zu treffen?«
»Schert es denn sonst jemanden wirklich, warum Janet tot ist?«, fragte sie und legte den Kopf schräg. In ihrer Miene lag keine Arglist. Sie hob eine Augenbraue. »Nun?«
Auf dem Rückweg zu meinem Wagen erhaschte ich einen Blick auf Harry Patterson, der mich durchs Fenster seines Büros auf der anderen Straßenseite beobachtete.
Der erste der verbliebenen drei Eligius-Demonstranten war ein Einundzwanzigjähriger aus Omagh namens John Young. Ich rief ihn von einem Münztelefon auf der anderen Seite der Grenze an und fragte ihn, ob er bereit sei, mit mir über den Einbruch zu sprechen.
»Ich habe nichts zu sagen«, erklärte Young. »Ich habe einen Fehler gemacht.«
»In welcher Hinsicht?«
»Ich dachte, es würde einfach eine witzige Aktion sein. Es wurde zu ernst.«
»Was ist da drin passiert? Haben Sie gesehen, ob Leon Bradley irgendwas mitgehen ließ, bevor man Sie rausholte?«
»Er hatte es da nicht auf dasselbe abgesehen wie wir.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich bin da rein, um gegen den Krieg zu demonstrieren. Die anderen Jungs, Curran und Daniels, auch. Bradley suchte nach was Bestimmtem.«
Ich nahm an, »Daniels« sei Peter Daniels, ein achtundvierzig Jahre alter Mann aus Navan. Ich hatte versucht, ihn über die Garda-Datenbanken ausfindig zu machen, aber es war keine Adresse verzeichnet. Den Namen des anderen Mannes, Seamus Curran, kannte ich ja schon länger.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte ich.
»Er hat die ganze Zeit am Computer gesessen und Zeug ausgedruckt, Aktenschränke durchsucht und Blätter kopiert. Es tut mir leid, dass ich je einen Fuß in den Laden gesetzt habe, das kann ich Ihnen sagen.«
»Wer könnte wissen, wonach Bradley gesucht hat?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Young. »Vielleicht dieser andere Typ – der Provo.«
Young hatte Seamus Curran als Republikaner bezeichnet, aber in Wirklichkeit war er zum überzeugten Pazifisten geworden. Zu Beginn des Krieges im Irak hatte er sich in den Medien unverblümt dazu geäußert, und ich war mir relativ sicher, was die Gründe anging, aus denen er sich an dem Einbruch beteiligt hatte.
Wie erwartet, fand ich ihn in einem Pub in Derry, der ihm zum Teil gehörte. Der Schankraum war klein und düster, die Decke niedrig, die Tische waren auf kleine Nischen verteilt, wo die Mittagstrinker trotz des Rauchverbots in dicke Qualmwolken gehüllt saßen und über den Renninformationen in den Zeitungen brüteten.
Die Wände waren mit einer Mischung aus politischen Memorabilien und Schwarz-Weiß-Fotos lokaler Berühmtheiten dekoriert, die den Pub irgendwann einmal mit ihrer Anwesenheit beehrt hatten. Eine gerahmte Kopie der Osterproklamation von 1916, die letztlich zur Teilung Irlands geführt hatte, hing neben einem signierten Foto von John F. Kennedy, das jemand dem Pub geschenkt hatte.
Curran saß an der Bar, als ich eintrat. Es herrschte gedämpfte Betriebsamkeit – die Anzahl der Gäste war größer, als der niedrige Geräuschpegel hätte vermuten lassen. Curran löffelte Irish Stew auf einen Brotkanten und steckte ihn sich in den Mund. Als er mich hereinkommen sah, stand er auf und ging hinter die Theke.
Mit der Hand wischte er sich den Mund ab und rieb sie dann am Hosenbein sauber.
»Was darf’s sein?«, fragte er und nahm bereits ein Pint-Glas von der Theke.
»Einfach nur eine Cola«, sagte ich und zückte meinen Dienstausweis. »Ich würde Sie gerne kurz sprechen.«
Er warf das Glas in die Luft, sodass es sich drehte, fing es wieder auf und stellte es zurück auf die Theke. Dann sah er sich meinen Ausweis an. Er kehrte mir den Rücken zu und holte eine Flasche Cola vom Regal hinter sich. Dabei sagte er: »Sie sind ein bisschen außerhalb Ihres Reviers.«
»Ich suche nur nach Informationen«, erklärte ich und nahm an der Theke Platz.
»Tut ihr Jungs das nicht immer?«, bemerkte Curran, goss Cola in ein Glas, gab Eiswürfel dazu und stellte das Getränk vor mich hin.
»Wegen des Eligius-Einbruchs …«, fuhr ich fort.
Er lächelte ein wenig verlegen. »Schien damals eine gute Idee zu sein«, sagte er. »Kommt drauf an, was Sie wissen wollen.« Er lehnte sich auf die Theke.
»Der junge Bradley, der mit Ihnen da drin war, wurde ermordet. Ich untersuche den Mord. Ich glaube, er hat von Eligius aus Dokumente nach draußen geschickt. Wissen Sie vielleicht, worum es in diesen Dokumenten ging? Oder hat er Ihnen gegenüber erwähnt, warum er dabei war?«
»Er hat gegen den Krieg demonstriert. Und gegen Hagan, dieses Arschloch mit seinem Getue – als wäre er Irlands Erlöser.«
»Wissen Sie, wonach er gesucht hat?«
Curran schüttelte den Kopf. »Haben Sie die Berichterstattung nicht gesehen? Ich hab den ganzen Abend mit’m Megafon aus dem Fenster gehangen. Ich weiß, dass er irgendwas suchte, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, was, und es ist mir auch scheißegal.«
»Haben Sie die Aktion organisiert?«, fragte ich. »Wie haben Sie alle sich kennengelernt?«
»Haben wir gar nicht. Leon hatte einen Aufruf bei Bebo und ähnlichen Internetsites gepostet, er suchte nach Leuten, die sich ihm anschließen wollten. Fünfundzwanzig haben sich gemeldet – nur wir vier sind wirklich rein.«
»Was war mit den anderen einundzwanzig?«
»Die haben gekniffen.«
»Das muss ätzend gewesen sein«, kommentierte ich. Es erinnerte mich an meinen eigenen erfolglosen Protestversuch auf dem College. Ein ganzer Haufen Freunde hatte gesagt, sie würden mitkommen. Sie waren nie aufgetaucht.
»Man gewöhnt sich daran«, sagte Curran. »Erst sind alle empört über die Einführung der Wassersteuer, dann organisiert man eine Demo, und es kommen dieselben fünfzig Leute wie immer. Die Leute jammern einfach gern, das ist alles.«
»Was hatte Leon Bradley gegen Eligius?«, fragte ich. »Ich habe mit John Young gesprochen, und er schien sich mit der ganzen Sache unwohl zu fühlen.«
»Keine Ahnung. Ich fand Bradley ein bisschen amateurhaft.«
»Wir glauben, dass er irgendetwas von Eligius aus verschickt hat – aber wir konnten es bisher nicht finden.«
»Verschickt? Wie meinen Sie das?«
»Er hat einer Frau die Nachricht hinterlassen, dass er ihr von dort etwas schicken würde.«
»Vielleicht hat er die Sachen mit rausgeschmuggelt? Sie von dort aus zu verschicken, das kommt mir ein bisschen merkwürdig vor.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, er wurde durchsucht, als er herauskam.«
Curran nickte. »Wir alle.«
»Wir wissen, dass er etwas verschickt hat, aber wir wissen nicht, was. Es ist noch nicht aufgetaucht.«
Curran runzelte nachdenklich die Stirn. »Kann es auch nicht«, sagte er schließlich lächelnd und schlug mit den flachen Händen auf die Theke. »Sie haben den Laden erst heute wieder aufgemacht.«
»Welchen Laden?«, fragte ich verwirrt.
»Eligius. War seit unserem Einbruch dicht. Wegen Sicherheitsüberprüfungen und so. Hat heute Morgen wieder aufgemacht. Wenn Bradley das Zeug bei Eligius in die Post gelegt hat, dann verschicken sie es für ihn, ohne es auch nur zu merken. Himmel, das ist genial. Vielleicht war er doch kein Amateur.« Er lachte. Dann fügte er hinzu: »Das Zeug, das er verschicken wollte – hatte das irgendwas mit seinem Tod zu tun?«
»Wahrscheinlich nicht«, räumte ich ein.
»Und warum ist es Ihnen dann so verdammt wichtig, es zu finden?«, fragte er, und ein Lächeln spielte um seine Lippen.
Mir wollte keine zufriedenstellende Antwort einfallen. Plötzlich schmeckte die Cola in meinem Glas ekelerregend süß und klebrig.
Gleich nach meinem Besuch bei Curran rief ich Jim Hendry an und erzählte ihm von der Schließung bei Eligius und der Möglichkeit, dass das, was Leon in die Post gelegt hatte, erst am nächsten Morgen einträfe. Er versprach mir, zu tun, was er konnte, doch allmählich kam mir der Verdacht, dass er meine Bitten satt hatte.
Abends klingelte mein Handy, als Debbie und ich uns gerade hingesetzt hatten, um ein wenig fernzusehen, nachdem wir die Kinder zu Bett gebracht hatten. Ich kannte die Telefonnummer nicht und benötigte einen Augenblick, bevor ich die Stimme zuordnen konnte.
»Inspektor Devlin?«
»Ja«, sagte ich und zuckte entschuldigend die Achseln, als Debbie wissen wollte, wer da unseren gemütlichen Abend auf dem Sofa störte.
»Hier ist Linda Campbell, Inspektor. Wir haben uns …«
»Ms Campbell, ich erinnere mich an Sie. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Sie zögerte. »Nicht ich brauche Hilfe. Es ist Fearghal. Er ist bei Orcas verhaftet worden.«
Tags zuvor hatte Weston sich mit dem National Museum in Verbindung gesetzt und darum gebeten, Fearghal und Linda zu Orcas zu schicken. Er wünschte, dass sie halfen, »Kate« für die Verschickung nach Amerika vorzubereiten, wo sie Cathal Hagans persönlicher Sammlung einverleibt werden würde.
Fearghal hatte Linda anvertraut, er vermute, dass man ihm damit wegen der Vergehen seines Bruders öffentlich auf die Finger klopfen wolle. Dabei hatte Weston offenbar die Gelegenheit genutzt, Fearghal unter die Nase zu reiben, dass Irland dieses einzigartige kulturelle Artefakt nur dank Leons rücksichtslosem Verhalten verloren gehe. Das sei eine nationale Schande.
Fearghal hatte sich auf die Zunge gebissen und war mit Linda essen gegangen. Im Verlauf des Abends war er immer betrunkener geworden und hatte sich immer mehr aufgeregt. Er hatte über den Verlust seines Bruders und den von Kate gesprochen, als gäbe es da einen Zusammenhang. Wenn sie Kate nie gefunden hätten, hatte er gesagt, dann wäre vielleicht nichts davon geschehen. Und wenn er Kate im Land halten könnte, konnte er vielleicht ein wenig Würde bewahren. Sein Bruder könnte stolz auf ihn sein, dort, wo er jetzt war. Mitten im Essen hatte er seine Schlüssel genommen und das Restaurant verlassen.
Offenbar war er zur Goldmine gefahren, wo Kate in ihrem Transportbehälter lag, bereit für ihre Reise nach Amerika am nächsten Morgen.
Mit dem Kreuzschlüssel aus dem Kofferraum seines Wagens hatte Fearghal sich gewaltsam Zugang zum Gebäude verschafft. Er wurde von den Überwachungskameras aufgenommen, als er durch die eingeschlagene Tür ins Gebäude kletterte und direkt auf die Kiste zusteuerte, die zu packen er einige Stunden zuvor geholfen hatte. Mit dem Ende des Kreuzschlüssels, das dazu diente, die Radkappen zu entfernen, war es Fearghal gelungen, den Deckel von der Kiste zu lösen.
Dann wurde er dabei gefilmt, wie er den luftdicht versiegelten Behälter einschlug, in dem Kate lag. Er hob die Frauenleiche aus den Glasscherben und ging zurück auf den Parkplatz.
Die durch die Alarmanlage auf den Plan gerufenen Polizisten holten ihn ein, als er sich mit Kates ausgedörrter Leiche auf den Armen zu der Grube schleppte, in der sie entdeckt worden war.
Ich holte Linda in ihrem Hotel ab, und wir fuhren zusammen zur Wache. Sie war die ganze Fahrt über sehr nervös, und ich hatte wenig Erfolg mit meinen Versuchen, ein Gespräch mit ihr zu führen.
»Gehen Sie und Fearghal schon lange miteinander aus?«, fragte ich.
Sie wandte mir das Gesicht zu. »Wir gehen nicht miteinander aus«, fauchte sie mich an. »Er war auf dem College mein Tutor.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich dachte …«
»Fearghal hat mir durch eine schwere Zeit hindurchgeholfen, als ich Studentin war. Er ist ein guter Mann.«
»Wir waren früher gute Freunde«, sagte ich zustimmend.
»Das hat er mir erzählt«, erwiderte sie. »Er sagte, früher habe er zu Ihnen aufgeblickt.«
Nun sah ich sie meinerseits erstaunt an. Sie wandte das Gesicht ab und sprach den Rest der Fahrt über kein Wort mehr.
Als wir auf die Wache kamen, war Fearghal bereits angeklagt und gegen Kaution freigelassen worden. Er saß auf einem Plastikstuhl im Eingangsbereich. Neben ihm auf dem Boden lag ein brauner Umschlag, in den man nach der Verhaftung seinen Besitz gesteckt hatte. Er saß vornübergebeugt, als wäre er völlig erschöpft, den Kopf auf die Hände gelegt. Als wir hereinkamen, schaute er auf. Sein Gesicht war verquollen und bleich, auf seiner Stirn glänzte Schweiß. Die Augen waren rot gerändert und trüb.
Er schluckte trocken und versuchte meinen Namen zu sagen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, während Linda sich neben ihn setzte und fragte, wie man ihn behandelt habe.
»Gut«, murmelte er. »Wie geht’s Kate?«
Linda sah zu mir hoch, ehe sie antwortete, und das allein sagte ihm alles, was er wissen musste.
»Sie ist … sie ist schwer beschädigt«, sagte sie schließlich.
»Na komm, Fearghal.« Ich half ihm aufzustehen. »Zeit zu gehen.«
Er stützte sich auf mich, als wir zum Auto gingen.
»Es tut mir leid, Benny«, sagte er und klopfte mir auf den Rücken. »Ich mache nichts als Scherereien, seit ich hier bin.«
»Mach dir darum keine Sorgen, Fearghal«, erwiderte ich. »Kämpfst immer noch für die gute Sache, was?«
»Ich konnte doch nicht zulassen, dass Hagan sie in seine dreckigen Finger bekommt. Jetzt können sie sie nicht mehr verkaufen«, sagte Fearghal.
»Bringen Sie diesen Besoffenen hier weg«, hörte ich eine Stimme hinter uns.
Ohne Fearghal loszulassen, drehte ich mich um. An der Tür der Polizeiwache standen Harry Patterson und John Weston. Weston hatte Patterson offensichtlich seine Anweisungen erteilt. Nun gaben sie sich zum Abschied die Hand.
Ich hätte mich einfach wieder umdrehen und weitergehen sollen. Ich hätte nichts sagen sollen.
Scheiß drauf, dachte ich. Ich führte Fearghal zum Auto, reichte Linda meine Schlüssel und ging zurück zur Wache.
»Ich will, dass die Wasserbehörde das Wasser im Carrowcreel untersucht«, sagte ich, als ich vor den beiden Männern stand. »Ich glaube, sie wird Verunreinigungen im Fluss finden, die von der Mine stammen.«
»Ich will die Kleine bumsen, die drüben im Café arbeitet«, versetzte Patterson und nickte in Richtung des Hauses gegenüber. »Aber das wird nicht passieren, was?« Er lachte gezwungen und wandte sich Weston zu in der Erwartung, dieser werde auf seinen Witz eingehen.
Doch Weston lächelte nicht einmal. »Das ist eine schwere Anschuldigung«, sagte er. »Haben Sie dafür Beweise?«
»Janet Moore wusste davon. Ich glaube, dass sie und Leon Bradley Beweise dafür sammelten.«
»Das ist doch totaler Quatsch«, unterbrach mich Patterson. »Haben Sie sich deshalb von Gorman die Autopsieergebnisse bringen lassen?«
Meine Überraschung muss mir anzusehen gewesen sein.
»Haben Sie wirklich geglaubt, sie würde hinter meinem Rücken Botengänge für jemanden wie Sie machen? Sie ist gleich zu mir gekommen und hat mir davon erzählt«, sagte er.
»Ich verlange, dass das erledigt wird, bevor ich am Montag wieder zur Arbeit komme, Harry«, beharrte ich dennoch.
»Sie glauben, Sie sind am Montag wieder da, ja?«, fragte er lächelnd. »Ich finde, Sie brauchen noch ein, zwei Wochen, bis Sie die Botschaft kapiert haben.« Er trat dicht an mich heran und sprach überdeutlich: »Sie sind hier verdammt noch mal nicht erwünscht.«
Ich nickte. »Sie haben Karl Moore verraten, dass seine Frau eine Affäre hatte.«
Patterson erstarrte. Er senkte die Lider ein wenig, sodass ich seinen Blick nicht sehen konnte. »Was faseln Sie denn da?«
»Sie haben Karl Moore von der Affäre zwischen seiner Frau und Leon erzählt. Ein paar Tage später hat er sie ermordet. In meinen Augen macht Sie das mitverantwortlich.«
»Sie haben doch nur Scheiße im Kopf«, stieß Patterson hervor.
»Das werden wir sehen«, sagte ich. »Wenn Moore zu Bewusstsein kommt, werden wir es erfahren. Ich wette, er wird uns sagen, was Sie ihm am Donnerstagabend beim Fußball erzählt haben.«
»Sie konnte ihren Mund nicht geschlossen halten – und ihre Beine auch nicht«, zischte Patterson. »Nicht meine Schuld, dass er sie abgemurkst hat.«
»Tatsächlich denke ich, Harry, es ist Ihre Schuld«, entgegnete ich. »Sie haben ihm ein Motiv gegeben.«
»Verpissen Sie sich«, sagte Patterson, allerdings ohne die bisherige Entschiedenheit.
»Ich will bis Montag Ergebnisse, Harry«, sagte ich. »Alles andere klären wir später.«
Ich machte kehrt und ging über die Straße. Halb rechnete ich damit, dass er mir eine abschließende Bemerkung hinterherbrüllen würde. Es kam keine.
Ich stieg ins Auto und ließ den Motor an.
»Alles in Ordnung?«, fragte Linda und beugte sich vom Rücksitz, wo Fearghal gegen sie gesackt war, zu mir vor.
»Ganz im Gegenteil«, murmelte ich und blickte noch einmal zu Patterson und Weston, die dort in der einsetzenden Dämmerung standen.