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Montag, 9. Oktober
Am nächsten Tag saß ich um zehn Uhr dreißig in einem Streifenwagen an der Grenze. Hagan sollte die Grenze gegen elf Uhr passieren. Ich hatte Helen Gorman gebeten, mich zu begleiten, und wir sprachen kurz über die Vorfälle vom Freitag. Ich merkte, dass die Situation ihr unangenehm war. Vielleicht nahm sie es mir übel, dass ich sie in etwas verwickelt hatte, das so schrecklich schiefgegangen war. Ich versicherte ihr, dass ich ihre Beteiligung in meinem Bericht an Patterson nicht erwähnt hatte.
Ich stieg aus, lehnte mich ans Geländer der Brücke über dem Zusammenfluss von Foyle, Finn und Mourne und rauchte eine Zigarette. Weiter stromaufwärts angelten mehrere Männer; einer watete ein Stück in den Fluss hinein. Das erinnerte mich an Janet Moores Kleidung am Samstag und ihre nassen Stiefel: Sie war durch den Carrowcreel gewatet. Wie jemand, der Gold schürfte, kam sie mir eigentlich nicht vor, und so fragte ich mich, worüber sie und Coyle gesprochen hatten.
Unter mir schritt ein Reiher behutsam über die Steine im Flussbett, den Hals gereckt, den Schnabel Zentimeter über der Wasseroberfläche. Zwei Seemöwen kreisten um ihn und versuchten ihn zu vertreiben. Er hielt die Stellung, fixierte die Wasseroberfläche, dann tauchte er den Schnabel in einer fließenden Bewegung ins Wasser und hob im selben Moment mit einem einzigen Schlag seiner gewaltigen Flügel ab. Im Schnabel krümmte sich ein Fisch mit glitzernden Schuppen.
Ich wollte schon meine Zigarettenkippe ins Wasser schnippen, überlegte es mir jedoch anders, drückte sie auf dem Metallgeländer aus und steckte sie zurück in die Packung.
Um kurz vor elf bog Hagans Jeep um die Kurve bei den Metallskulpturen an der Grenze. Er fuhr zwischen zwei Wagen des PSNI, die ihn bis zum Restaurant vor der Grenze begleiteten und dann zurückblieben.
Ich fuhr vor den Jeep und schaltete das Warnblinklicht ein. Das andere Zivilfahrzeug setzte sich hinter den Jeep. In dieser Formation machten wir uns auf den Weg zu Orcas.
Als wir dort ankamen, hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Etwa dreißig Grundschulkinder säumten die Auffahrt und schwenkten kleine Amerikafahnen aus Plastik, als führe der Präsident höchstpersönlich vorbei.
Die Lehrerin stand an der Spitze der Reihe, lächelte ihren Kindern zu und ermunterte sie, den dunkel getönten Scheiben des Jeeps zuzujubeln.
Plötzlich fiel mir auf, dass der Abstand zwischen meinem Wagen und dem Jeep hinter mir größer wurde, und ich erkannte, dass Hagan seinen Fahrer gebeten hatte, anzuhalten. Nun stand Hagan auf der Straße und unterhielt sich mit den Kindern. Vor uns, am Hauptgebäude, befand sich eine ähnlich große Gruppe Erwachsener, manche auf Zehenspitzen, einige mit Kameras, offensichtlich in der Hoffnung, dass Hagan ihnen zu gegebener Zeit ebenfalls ein wenig Aufmerksamkeit widmen würde.
Nach einigen Minuten ging er zu der Lehrerin. Er legte ihr die Hand auf den Ellbogen und beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen. Sie drehte den Kopf, und er küsste stattdessen ihre Haare. Sie entschuldigte sich und wollte den Kopf in die andere Richtung drehen. Beide lachten gutmütig. Hagan winkte den Kindern noch einmal zu, dann stieg er wieder in den Jeep.
Etwa einhundert Personen standen vor dem Hauptgebäude. Wenn man bedachte, dass die Mine nur etwa ein Dutzend Personen beschäftigte, dann mussten die meisten von ihnen geladene Gäste sein, von denen jeder den bevorstehenden Besuch an die Presse gegeben haben konnte. Fast ganz vorn stand unsere Parlamentsabgeordnete, Miriam Powell. Als ich an ihr vorbeifuhr, um den Wagen zu parken, lächelte sie mir kühl zu. Harry Patterson und John Weston traten vor, um Hagan offiziell zu begrüßen.
Kameras klickten und blitzten, während sie sich die Hände schüttelten. Aus dem Augenwinkel erspähte ich Janet Moore, und sie lächelte und nickte mir zu. Mehrere Kollegen in Zivil mischten sich unter die Gäste, und eine Reihe uniformierter Männer stand mit Ferngläsern auf dem Dach.
Hagan ging durch die Menge und klopfte allen, die ihm vorgestellt wurden, auf den Rücken oder schüttelte ihnen die Hände. Als er zu Miriam Powell kam, nannte er sie Miriam, ohne dass man sie vorgestellt hätte. Sie küssten sich wie alte Freunde und unterhielten sich eine Weile, während der Nächste in der Reihe sich schon einmal verstohlen die schweißnassen Hände an den Hosenbeinen abwischte.
Hagan war anders, als ich erwartet hatte. Er war von kleinerer Statur, nur knapp einen Meter siebzig groß. Sein Haar war dünn und grau und streng aus der Stirn gekämmt. Seine Augen wurden von einer dicken Brille vergrößert, die auf einer langen, hakenförmigen Nase saß. Er trug einen grauen Anzug und ein gestärktes weißes Hemd mit einer smaragdgrünen Krawatte. Sein Auftreten war unbefangen, sein Händedruck fest, und seine Witze waren unglaublich komisch – dem schallenden Gelächter um ihn herum nach zu urteilen.
Gleich hinter ihm gingen zu seiner Linken und Rechten die beiden ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter, wobei »geheim« die falsche Wortwahl zu sein schien. Beide besaßen die Größe und Statur von Gorillas und hatten sich in schwarze Anzüge gezwängt. Beide trugen Sonnenbrillen und Minikopfhörer, doch da sie nur zu zweit waren und nebeneinandergingen, erschloss sich mir die Notwendigkeit dieser Kopfhörer nicht.
Hagans erste Amtshandlung war das Öffnen eines kleinen blauen Samtvorhangs vor dem Schaukasten, in den man »Kate« gelegt hatte. Damit, so sagte er, habe er das große Vergnügen, die Orcas-Mine offiziell zu eröffnen. Applaus und das Surren der Kameras begleiteten diese Handlung.
Dann führte man ihn zu einem Rednerpult am Fuß der Treppe zu Westons Büro. Dahinter hatte man eine Bank aufgestellt, auf der Miriam Powell und Harry Patterson saßen. Zwischen ihnen war noch Platz, vermutlich für John Weston.
Weston trat als Erster ans Rednerpult und lud die Gäste ein, sich zu setzen. Ich hatte dafür gesorgt, dass Janet Moore zwei Plätze recht weit vorne bekam, doch der Sitz neben ihr, von dem ich angenommen hatte, er sei für ihren Mann bestimmt, war leer. Weiter hinten sah ich Linda und neben ihr Fearghal, der entschieden unbehaglich wirkte.
Als die Leute sich niedergelassen hatten, ergriff Weston das Wort. Er dankte allen, die gekommen waren, und sprach dann ausführlich über die diversen Schwierigkeiten, die er bis zur Eröffnung der Mine hatte überwinden müssen. Er sprach über Cathal Hagan und dessen Beziehung zu seinem Vater. Er sprach von seiner Zuneigung zur »alten Heimat« und seiner Hoffnung, der lokalen Wirtschaft etwas zurückgeben zu können. Dann bat er Cathal Hagan ans Pult.
Hagan durchlief ebenfalls die Formalitäten und üblichen Danksagungen. Dann lehnte er sich mit einem Arm aufs Pult, lockerte die Krawatte und verfiel in einen Plauderton.
»Trotz des Geredes über eine Rezession ist das Brüllen des keltischen Tigers auf dem gesamten Globus zu hören«, begann er. »Ihr Leute, die ihr euch heute hier versammelt habt, vertretet das Beste an ihm, die Kraft des Tigers. Wissen Sie«, er beugte sich weiter vor, »heute kann man sich kaum vorstellen, dass die Einwohner dieser großartigen Insel – der gesamten Insel – erst vor gut hundert Jahren in mein Land kamen und nach einem Zufluchtsort suchten, nach Arbeit suchten. Sie kamen zu Tausenden und trotzten den widrigsten Umständen, um in den USA ein neues Leben zu beginnen. Und was für einen großartigen Beitrag sie geleistet haben, in sämtlichen Lebensbereichen.«
An dieser Stelle applaudierten einige der Gäste, sodass Hagan innehalten und einen Schluck Wasser aus dem Glas auf dem Rednerpult trinken konnte. Dann lehnte er sich auf seinen anderen Arm.
»Mir scheint, heute bietet Irland Menschen aus anderen Ländern diese Chance. Während meines Besuchs in Dublin habe ich viele Gastarbeiter getroffen, die dankbar waren für die Hilfe, die Mutter Irland ihnen zuteil werden lässt. Offenbar seid ihr zu einem Amerika im Kleinen geworden – einem Land der Freien, einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Hey, ihr habt hier offenbar sogar euren eigenen Goldrausch.«
Wieder gab es Applaus und Gelächter, am lautesten hinter dem Pult, wo Weston diesen Augenblick im Scheinwerferlicht sichtlich genoss.
»Das ist eine ungeheure Verantwortung, Leute«, fuhr er fort. »Aber Unternehmen wie dieses, gegründet mit irisch-amerikanischer Finanzierung, stehen für all das, was gut ist am Traum von Reichtum und Wohlstand, dem Streben nach dem Glück. Wir werden Ihnen helfen, sich den Herausforderungen zu stellen, die diese Verantwortung mit sich bringt. Hand in Hand blicken wir in eine goldene Zukunft. Gott segne Sie alle.«
Daraufhin erhoben sich wie auf ein Signal alle Gäste, um zu applaudieren. Fearghal allerdings, so fiel mir auf, kam am langsamsten von seinem Platz hoch und zeigte am wenigsten Begeisterung. Einige Sekunden lang verstellte die stehende Menge den beiden Leibwächtern die Sicht, doch das genügte.
Zuerst dachte ich, der Mann kehre an seinen Platz zurück, doch er ging weiter nach vorn. Es war einer der Aussteiger aus dem Lager am Fluss, und ich erkannte ihn als einen von denen wieder, mit denen Moore an dem Tag, als ich sie dort getroffen hatte, gesprochen hatte. Er warf einen Blick zur Seite, fing jemandes Blick auf, lächelte. Ich folgte seinem Blick zu Fearghal Bradley, der sehr still stand, mit erstarrter Miene. Ich sah, dass er mit den Lippen den Namen seines Bruders formte: »Leon«.
Dann hob Leon Bradley die Pistole.
Sein Gesicht war ein Bild völliger Konzentration, die Waffe hielt er mit ruhiger Hand. Ich folgte seinem Blick, folgte der Zielrichtung seiner Waffe zu Hagan, der mit angstverzerrtem Gesicht dastand.
Mit erhobener Hand drängte ich mich durch die Menge auf ihn zu, ein Warnschrei blieb mir in der Kehle stecken. Dann hörte ich den Schuss und sah die Mündung der Waffe aufblitzen. Im selben Augenblick wurde Leon von den beiden ehemaligen Secret-Service-Agenten zu Boden geworfen, die zu spät versuchten, die Unzulänglichkeit des von der irischen Polizei An Garda Síochána gewährten Schutzes wettzumachen. Die Pistole wurde Leon aus der Hand geschlagen und fiel zu Boden, wo sie im herbstlichen Sonnenlicht glitzerte, das durch die Fenster hereinschien.
In der darauf folgenden Panik brachten Patterson und Weston Hagan in Sicherheit, während mehrere Polizisten Hagans Leibwächtern halfen, Leon Bradley zu überwältigen. Ich ging hin und hob die Waffe auf, die Leon fallen gelassen hatte, wobei ich sie vorsichtig an der Mündung anfasste. Nun sah ich, dass es nur eine Schreckschusspistole war. Hagan mochte erschüttert sein, aber er würde unverletzt sein. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Leon Handschellen angelegt worden waren, ging ich auf Hagan zu, der von Menschen umringt war, die ihr Mitgefühl bekundeten.
Doch ich kam nicht bis zu ihm, denn Patterson verstellte mir den Weg, das Gesicht rot vor Zorn.
Ich hielt die Waffe hoch. »Es ist eine Schreckschusspistole …«, setzte ich an, doch Patterson packte mich am Kragen und drängte mich an die Wand.
»Sie nichtsnutziger Vollidiot«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne. Dann schubste er mich erneut und schritt steifbeinig zurück durch die Menge.
Mehrere Gäste hatten die Szene beobachtet. Nun wandten sie sich ab und nahmen ihre Gespräche wieder auf, während der Schütze abgeführt wurde.