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Planetare Kommandostelle der Nebelparder,
Warrenton, Hyner
Nebelparder-Besatzungszone
Der Schweber jagte aus dem Stadtgebiet Warrentons. Judith saß am Steuer. Weder sie noch Trent sagten etwas, als sie die Stadt hinter sich ließen. Beide schienen den vormittäglichen Sonnenschein zu genießen, so willkommen nach weit über einem Jahr Reisezeit von Diana, vom erbärmlichen Wetter dort ganz zu schweigen. Judith fühlte, wie die Wärme der Sonne durch ihre dünne Jacke und die graue Bluse darunter drang. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie diese Fahrt gemacht hatten, vor gut drei Jahren. Damals hatte sie Trent hierher gebracht, an diesen besonderen Ort, den einzigen auf Hyner, der nur ihnen gehörte.
Trent war seit seinem Sieg im Positionstest nachdenklich geworden, still, fast verschlossen. Die Kämpfe hatten schließlich nach hartem Gefecht, in dem lange Zeit kein eindeutiger Gewinner zu erkennen war, zu seinem Triumph geführt. Jetzt kommandierte Trent Trinärstern Beta, Jez' frühere Einheit. Russou hatte verloren, aber wie ein wahrer Krieger nahm er es Trent nicht übel.
Dennoch, wenn sie erst im Brian-Kastell waren, würde alles in Ordnung kommen. Dort war sie mehr als eine Tech, und er war mehr als ein Krieger. Dort, in diesen Ruinen, hatten sie zwischen Dingen gestanden, die seit Jahrhunderten niemand berührt hatte, und hatten dieselbe Luft geatmet wie Männer und Frauen in einer glorreicheren Epoche der Menschheit. Dort schienen Trent und sie neue Kraft zu schöpfen. .
Es war ihr erster Besuch hier seit der Rückkehr nach Hyner. Beide waren mit ihren Pflichten beschäftigt gewesen. Trent organisierte seinen neuen Trinärstern, zu dem auch Russous Stern gehörte. Er ließ die Krieger seiner Einheit laufend in ihren neuen Mechs trainieren was seinerseits Judith und die anderen Techs beschäftigt hielt.
Als sie nach Norden auf den Braddock Pike abbog, fühlte Judith, daß Trent unruhig wurde. Sie wußte warum. Sie würden wieder an den Trümmern Chinns vorbeikommen, und er hatte nie aufgehört, sich die Schuld an der Vernichtung des Dorfes zu geben. Aber heute hatte Judith dringendere Dinge zu besprechen, und sie hoffte, die Geister Chinns vertreiben zu können.
»Ich habe Probleme dabei, meine Kontakte zu
erreichen«, stellte sie fest.
Trent rutschte auf dem Sitz hin und her und gab sich den Anschein,
als wolle er das Schweigen in ihrem Schweber nicht brechen.
»Probleme?«
Sie hielt die Augen auf der Straße. »Meine Kontaktfrau war zur
Stelle, als wir zurückgekehrt sind, aber als ich versuchte, mich
wieder mit ihr in Verbindung zu setzen, war sie fort.«
»Glaubst du, sie ist entdeckt worden?«
Judith schüttelte den Kopf. »Neg. Ich kenne mehrere Techs im
Medozentrum der Kommandostelle. Wäre jemand verhört worden, hätte
ich es herausgefunden. Ich nehme an, sie ist aus irgendeinem Grund
untergetaucht.«
»Dann haben wir keine Möglichkeit, die Informationen weiterzugeben,
die wir gesammelt haben.«
Wieder schüttelte sie den Kopf, konzentrierte sich dabei aber
weiter auf die Straße. »Momentan nicht.«
Er schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. Sein seltsamer
Gefühlsausbruch überraschte sie.
»Das ist unglaublich, Judith. Wir sind bis in den
Kerensky-Sternhaufen und zurück geflogen. Wir haben es
geschafft, jeden Sprungpunkt zwischen Diana und der
Inneren Sphäre zu vermessen. Wir besitzen Informationen, für die
jeder Hausfürst über Leichen gehen würde,
und wir können sie nicht weitergeben.«
»Ich habe eine Idee«, meinte sie. »Solange meine
ComStar-Kontaktfrau sich versteckt oder anderweitig unerreichbar
ist, könnten wir möglicherweise mit
dem HPG hier auf Hyner eine kodierte Nachricht
abschicken.«
»Glaubst du, deine ComGuard-Kameraden würden
nach Hyner kommen, um uns abzuholen?«
»Ich nehme an, Sie wollen eine ehrliche Antwort.« »Pos.«
»Nein. Ich glaube nicht, daß man uns abholen würde.
Die Gefahren bei einer Durchquerung der Besatzungszone sind viel zu
groß. Das könnte als Bruch des Waffenstillstands von Tukayyid
ausgelegt werden. Außerdem ist unser gesamter Sternhaufen hier. Die
Sturmreiter sind eine enorme Bedrohung - eine FrontklasseEinheit.
Jemand müßte mit einem Regiment Truppen
hier auftauchen.«
»Es muß einen Weg geben, Hyner zu verlassen und
die Informationen mitzunehmen. Ich habe Berichte
über Überfälle der Wölfe auf Parder-Ziele gehört, aber
ich sehe keine Möglichkeit für uns, das zu unserem
Vorteil auszunutzen. Selbst wenn die Sturmreiter in
diesen Konflikt verstrickt würden, würde man uns nirgendwohin
schicken, wo wir in Reichweite ComStars
wären.«
Sie verstand, wie dringend er die Navigationsdaten
loswerden mußte. Trent hatte ihr von Galaxiscommander Benjamin
Howell und seiner Operation erzählt.
Während ihrer Schachpartien an Bord der Dhava - auf
dem langen Flug zurück von Diana - hatten sie Stunden
damit zugebracht, über die Schmuggeloperation zu sprechen. Einige
von Howells Helfershelfern aus den niederen Kasten hatten bereits
versucht, mit Trent Kontakt aufzunehmen, aber bis jetzt war es ihm
gelungen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Er hatte nie wirklich
vorgehabt, sich auf eine Mithilfe einzulassen.
Das Problem dabei, und das hatte sie Trent unmißverständlich
klargemacht, war, daß Operationen dieser Art früher oder später
aufflogen. Und wenn es dazu kam, waren alle Beteiligten betroffen.
In diesem Falle würde das auch Trent einschließen. Und die Daten
über den Weg zu den Heimatwelten in seinem Armbandcomp würden
verlorengehen.
Es war nicht der Zeitpunkt für Panik, wohl aber für sorgsame
Planung. Nach allem, was sie schon durchgestanden hatten, konnte
ein dummer, übereilter Fehler jetzt noch alles ruinieren.
»Ich schlage vor, daß wir wachsam bleiben, aber uns ansonsten in
Geduld fassen«, erklärte sie. »Früher oder später wird sich eine
Möglichkeit ergeben, Hyner zu verlassen. Wenn es soweit ist, werden
wir sie ergreifen. Außerdem kann meine Kontaktfrau jederzeit wieder
auftauchen. Falls das geschieht, können wir zumindest Verbindung
mit ComStar aufnehmen und unser Vorgehen absprechen.«
»Positiv«, bestätigte Trent. »Wir können nur abwarten. Das Problem bei der Sache ist,
daß Geduld keine Tugend ist, die uns in der Geschko anerzogen
wurde. Der Nebelparder schlägt im Kampf immer zuerst zu. Ich
verstehe die taktische Notwendigkeit, auf den richtigen Moment zum
Zuschlagen zu warten, aber es kostet mich Überwindung, diese
Einsicht in die Tat umzusetzen.«
Judith nickte. »Das Problem hatte ich früher auch.«
»Wie hast du es überwunden?«
Sie sah ihn an. Der Mann neben ihr war fürchterlich verunstaltet,
und trotz der künstlichen Haut, die eine Hälfte seines Gesichts
bedeckte, hätte ein Fremder in ihm wahrscheinlich ein Monster
gesehen - verbrannt und entstellt. Sie aber sah etwas anderes
hinter den Narben, tief in seinem Innern. Er war ein Mann von Ehre
und Integrität, und das respektierte sie.
Es wird Zeit, es auszusprechen, mit ihm zu
reden. »Meine Lektion in Geduld waren Sie.«
»Ich?«
»Pos. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich einmal Mitglied ROMs war, der
Geheimdienstabteilung ComStars«, erklärte sie und konzentrierte
sich wieder auf die Straße. »Was ich Ihnen nicht gesagt habe, war,
daß ich ROM nie verlassen habe. Ich wurde für Sondereinsätze
ausgebildet, verdeckte Einsätze, sogenannte >schwarze<
Operationen. Als die Clans angriffen, wurde ich zu den ComGuards
versetzt, aber weniger als Soldatin, mehr als Agentin. Mit dem
Auftrag, die Clans zu unterwandern, sollte sich die Gelegenheit
jemals dazu bieten. Meine Vorgesetzten waren sicher, daß die
ComGuards eines Tages gegen die Clans kämpfen würden. Wenn es
soweit wäre, sollte ich alle mir gegebenen Möglichkeiten nutzen, um
die Clans zu infiltrieren und in Erfahrung zu bringen, was immer
ich konnte. Wenn möglich, sollte ich nach Hinweisen auf den Weg zu
den Heimatwelten suchen. Meine Missionsbefehle ließen mir reichlich
Spielraum für Eigeninitiative. Meine ComGuard-Vorgesetzten hatten
keine Ahnung davon, daß ich noch immer ROM-Agentin war. Nur der
Präzentor Martialum selbst wußte davon. Auf Tukayyid habe ich um
mein Leben gekämpft. Es war ein reiner Glücksfall, daß Sie mich als
Leibeigene genommen haben. Es ist Jahre her, aber jetzt stehen wir
auf der Schwelle des Erfolgs meiner ursprünglichen Aufgabe.«
Sie biß sich auf die Unterlippe. »Neg, Trent, du bist mehr.« So viel mehr. Judith fühlte eine Sehnsucht nach ihm, unter der gelegentlich ihr ganzer Körper vor unerfülltem Verlangen erzitterte. Selbst jetzt auf der Fahrt fühlte sie unsichtbare Funken zwischen ihnen überspringen. »Ich habe Gefühle für dich entwickelt, Trent.«
Trent senkte den Kopf. »Ich verstehe, was du
meinst, Judith«, hauchte er fast.
»Wirklich?«
»Pos. Aber hier und jetzt sind wir immer noch Nebelparder.
Paarungen zwischen den Kasten sind verboten. Vielleicht können wir
... mehr ... werden, wenn wir erst von hier fort sind,
Judith.«
Sie wollte ihre Sehnsucht und ihr Verlangen noch einmal zum
Ausdruck bringen, aber plötzlich verlangte etwas auf der Straße vor
ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit. Hinter einer Straßensperre standen
zwei mit Lasergewehren bewaffnete Infanteristen, die Waffen in der
Hand. Ihre Panzerwesten, Beinschützer und getönte Helmvisiere
verliehen ihnen ein bedrohliches Aussehen. Sie nahm den Fuß vom Gas
und ließ den Wagen langsamer werden.
Trent warf ihr einen schnellen Blick zu, dann lächelte er. »Bleibe
ruhig, Judith. Ich werde mich um sie kümmern.«
Sie hielt den Schweber an, und die Wachen traten links und rechts
neben den Wagen, um durch die heruntergelassenen Fenster zu sehen.
Die Helmvisiere der Soldaten füllten die Fensteröffnungen, und aus
den Filtersystemen der Helme entwich zischend ihre Atemluft.
»Dieses Gebiet ist gesperrt.«
Trent hob das Kodaxarmband, und der Infanterist auf seiner Seite
des Wagens las mit einem Handgerät den Speicherbaustein. »Ich will
Spazierengehen, mich entspannen. Ich bin Sterncaptain Trent, 3.
Parder-Kavalliere.«
»Und sie?« Der Mann deutete mit dem Gewehrkolben auf
Judith.
»Meine Leibeigene. Ich benutze sie als Fahrerin. Die Aufgabe ist
ihrer Position angemessen, frapos!« Eine Lüge,
aber sie ist notwendig.
Der Soldat nickte und antwortete mit vom Helm gedämpfter Stimme.
»Positiv, Sterncaptain. Du mußt neu auf Hyner sein.«
»Neg. Aber wir waren einige Zeit fort.«
»Dies ist heiliger Boden, Sterncaptain. Unsere Wissenschaftlerkaste
hat dort in den Hügeln ein Brian-Kastell entdeckt.« Der Mann
deutete den Hang hinauf.
Trent täuschte Überraschung vor. »Davon hatte ich keine Ahnung,
Soldat. Ein solcher Ort - an dem einst der Sternenbund stand. Ich
würde ihn gerne sehen.«
Der Infanterist schüttelte den Kopf. »Negativ. Es tut mir leid,
Sterncaptain, aber Sterncolonel Paul Moon hat erklärt, daß nur die
Blutnamensträger des Clans diesen Ort besichtigen
dürfen.«
»Aber ich bin ein wahrgeborener Krieger.«
»Pos, aber kein Blutnamensträger, Sterncaptain. Blutnamensträger
anderer Einheiten dürfen auf Einladung des Sterncolonel passieren,
aber wir haben Befehl, niemand sonst durchzulassen.«
Trent zuckte zusammen wie unter einem physischen Hieb. Er senkte
den Kopf und strich sich mit der Hand über das Gesicht. »Na gut,
Soldat«, erwiderte er. »Judith, bring uns zurück zur
Basis.«
Sie nickte und war sich sicher, daß er dieselbe unterdrückte Wut
fühlte wie sie. Das Brian-Kastell war ihr Platz. Sie hatte es
zuerst entdeckt. Sie hatte ihn hierher gebracht. Dort war Trent
mehr als ein Eigentümer für sie geworden. Jetzt hatten die
Nebelparder ihnen das genommen. Was einst ihr Ort der Freiheit
gewesen war, blieb jetzt der Blutnamenselite des Clans vorbehalten.
Ohne Zweifel benutzte Paul Moon den Ort auf diese Weise für
politische Ränkespiele mit anderen Einheiten.
Judith schloß die Fenster und wendete den Schweber. Weder sie noch
Trent sprachen auf der Fahrt zurück nach Warrenton ein Wort. Es war
nicht nötig. Ihre gemeinsamen Geheimnisse verbanden sie enger als
jede Leibeigenenkordel.