Eine heikle Geschichte
2009
Ein Besprechungsraum der Kinderpsychiatrie in Köln-Merheim. Ich schaue gelangweilt aus dem Fenster, während mein Kollege Andreas die sechzehnjährige Hatice vernimmt. Vor drei Wochen habe ich die »Dunkelkammer« hinter mir gelassen und bearbeite mit meinem Kollegen jetzt Sexualdelikte.
Seit anderthalb Stunden sitzen wir nun schon hier und hören uns die seltsame Geschichte der jungen Türkin gerade zum dritten Mal an. Hatice hat einen Freund getroffen. Er ist ein guter Freund, aber trotzdem weiß sie nur seinen Vornamen. Dieser Freund ist mit ihr in eine Wohnung gefahren, die in der Nähe der Wohnung ihrer Eltern liegt. Hatice ist dort eingeschlafen, und als sie wieder aufwachte, war sie nackt. Sie kann sich nur an wenig erinnern, aber sie ist überzeugt, dass etwas sehr Schlimmes passiert ist. Was genau das sein soll, damit rückt sie nicht so recht heraus, aber ihre verschämten Andeutungen lassen eine Vergewaltigung vermuten. Sie hat dort in der Wohnung dann schnell ihre Sachen zusammengesammelt, ist aus dem Fenster geklettert und nach Hause gegangen. Zufällig hat Hatices Bruder sie dabei gesehen, und daher muss sie zu Hause erzählen, was passiert ist. Ihr Vater ist daraufhin mit ihr zur Polizei gegangen. Auf der Kriminalwache hat sie einen Nervenzusammenbruch erlitten, sich selbst die Haare ausgerissen, und so sitzt sie nun hier in der Kinderpsychiatrie und sieht mich mit ausdruckslosem Blick an.
Andreas kratzt sich am Kopf und lässt Hatice ihre Geschichte erneut erzählen, während ich weiter stumm aus dem Fenster glotze und mir total überflüssig vorkomme. Hatice benutzt auch in der vierten Version die gleichen Wörter. Nicht die kleinste Abweichung in der Schilderung, kein Stocken, keine Erinnerungslücken. Emotionslos leiert sie alles herunter und weicht an den Stellen, die für uns zur Beurteilung der Situation wichtig wären, unseren Fragen geschickt aus.
Mein Kollege hört ihr aufmerksam zu, guckt an den richtigen Stellen mitleidig und sagt hier und da: »Oh mein Gott, du Arme!«, während ich immer noch unbeteiligt tue und nur ab und an ein ungläubiges Schnaufen hören lasse. Wäre das Ganze nicht so ernst, würde ich am liebsten kichern, denn unsere klassische Rollenverteilung »guter Cop – böser Cop« funktioniert heute besonders gut.
Dank Hatices Beschreibung haben wir ihren Freund ausfindig gemacht. Er heißt Steven und ist für uns kein Unbekannter. An seiner Bekleidung haben wir Hatices Haare gefunden und durch den Polizeiarzt an seinem Glied einen DNA-Abstrich vornehmen lassen, der mit Sicherheit Hatices DNA enthalten wird. Fall gelöst, Täter gestellt, könnte man meinen, zumal es mit Steven ganz sicher kein unbeschriebenes Blatt träfe. Er ist als Kleindealer bekannt und hat bereits ein paar Pkw-Aufbrüche auf dem Kerbholz. Doch obwohl alles gegen ihn spricht, haben mein Kollege und ich Bauchschmerzen bei der Sache. Irgendwas ist faul an Hatices Geschichte.
Steven erzählt nämlich genau wie Hatice, dass er sie abgeholt hat und mit ihr in seine Wohnung gefahren ist. Mit dem kleinen Unterschied, dass Hatice nach Stevens Schilderung keineswegs eingeschlafen ist, sondern freiwillig mit ihm Sex hatte. Er schlief danach ein, und als er wieder wach wurde, war sie weg. Keine Stunde später standen Polizisten vor der Tür und nahmen ihn mit.
Die Kollegen setzten ihm in der Vernehmung ordentlich zu, bis der coole Steven tatsächlich in Tränen ausbrach. Und trotzdem wich er nicht einen Zentimeter von seiner Geschichte ab. Nur dass er im Gegensatz zu Hatice durchaus kleine Änderungen in seinen Schilderungen hatte. Er ließ, was bei Vernehmungen durchaus normal ist, hier und da Sachen aus, wenn wir nicht genau nachfragten. Vor allem aber verwendete er nicht wie Hatice immer wieder die gleichen Wörter, als hätte er das Ganze auswendig gelernt.
»… dann bin ich aus dem Fenster geklettert!«, endet Hatice in diesem Moment.
Jetzt reißt mir der Geduldsfaden, und ich ergreife zum ersten Mal das Wort: »Hatice, du weißt, dass Steven ins Gefängnis geht, wenn das stimmt, was du hier sagst!«
Sie hebt den Blick, sieht mich aber nicht an, sondern blickt durch mich hindurch. Dann antwortet sie: »Ja, schon.«
Ich lasse meine Worte wirken und gucke anschließend wieder aus dem Fenster, während Andreas sie erneut zu Einzelheiten befragt. »Wie lange kennst du Steven schon? Magst du ihn? Wart ihr ein Paar?«
Gleichzeitig versuche ich immer wieder, Hatice durch aggressive Einwürfe ein wenig zu provozieren, muss aber vorsichtig sein, denn es könnte ja sein, dass unser Bauchgefühl uns doch täuscht und das Mädchen tatsächlich irgendwie unter Drogen gesetzt und missbraucht wurde.
»Bist du sicher, dass du dich nicht erinnern kannst, was dann passiert ist?«, frage ich Hatice.
»Ich hab geschlafen, das hab ich jetzt schon viermal gesagt. Sind Sie irgendwie doof oder so?«, erwidert sie trotzig und verschränkt die Arme vor der Brust, wodurch sich ihr üppiger Busen hebt und fast aus dem knappen Ausschnitt fällt.
Unbeirrt frage ich weiter: »Hattest du vorher schon mal Sex mit einem Jungen?«
Sie springt entrüstet auf, beginnt wieder, an ihren Haaren zu reißen, und kreischt: »Ich bin gläubige Muslimin. NATÜRLICH HATTE ICH VORHER NOCH NIE SEX!«
Durch ihr Geschrei ist die Pflegerin angelockt worden, die bisher vor der Tür wartete. Sie nimmt Hatices Arm, löst ihre Finger aus den Haaren, blickt uns vorwurfsvoll an und führt das Mädchen aus dem Raum.
»Sie lügt! Sie bescheißt uns von vorn bis hinten, aber wenn sie dabei bleibt, geht der Junge in den Bau. Ganz klare Kiste.« Andreas fährt sich mit der linken Hand durch die Haare und blickt mich nachdenklich an.
Im nächsten Moment geht die Tür auf, und die Pflegerin führt Hatice wieder in das Zimmer. »Regen Sie die Patientin auf keinen Fall noch einmal auf!«, sagt sie mit drohendem Unterton, wirft mir noch einen letzten giftigen Blick zu und bezieht wieder Posten vor der Tür.
Das ist leichter gesagt als getan. Am liebsten würde ich das Mädchen so lange schütteln, bis sie mit der Wahrheit rausrückt, denn das, was wir bisher wissen, ist der Wahrheit so fern, dass sogar ich mit meiner geringen Vernehmungserfahrung es spüren kann.
»Okay, Hatice!« Andreas hat seinen Frauenverstehertonfall angeschmissen. »Meine Kollegin glaubt dir nicht. Was meinst du, woran könnte das liegen?«
»Weil sie eine Schlampe ist und keine Moralvorstellungen hat. Ich habe noch nie freiwillig mit einem Jungen geschlafen!« Sie blickt mich an, als hätte ich die Krätze. »Mein Vater würde mich umbringen, wenn ich so was freiwillig täte.«
Aha, denke ich, wir nähern uns dem Knackpunkt. »Darum war es ja auch schlecht, dass dein Bruder dich gesehen hat, als du aus dem Fenster geklettert bist, richtig?«, bohre ich nach.
»Ja, war nicht so gut!« Betreten beißt sie sich auf die Unterlippe und senkt den Blick. Ich halte die Luft an, denn jetzt wird es spannend. »Aber ich wollte das wirklich nicht!«, schiebt sie noch hinterher, dann greift sie sich erneut in die Haare, und an ihrem Blick erkenne ich, dass sie wieder loskreischen will.
»Jetzt ist Schluss mit dem Zirkus hier!«, fahre ich sie an. »Reiß dich mal zusammen. Hier geht’s nicht um ein Kinderspiel. Dein Freund Steven geht für ein paar Jahre in den Knast, wenn du bei deiner Aussage bleibst, und das nur, weil ihr euch gern habt und Sex hattet. Das ist nichts Schlechtes!«
Ihr bockiger Blick trifft mich. »In unserer Kultur schon, vor allem mit einem, der kein Muslim ist!«
»Aber in Deutschland nicht. Du bist siebzehn, du kannst selbst entscheiden, mit wem du schläfst. Das ist nichts, wofür man sich schämen muss. Und jetzt lass das hysterische Getue, und sei endlich ehrlich!«
Andreas wirft mir einen warnenden Blick zu, während er sich von seinem Stuhl erhebt, und ich verstumme, obwohl es mir schwerfällt. »Hier hast du unsere Telefonnummer, falls du uns doch noch etwas anderes erzählen möchtest!« Er gibt ihr zum Abschied die Hand, während ich einfach aus dem Raum gehe. »Wir lassen ihr ein bisschen Zeit zum Nachdenken«, sagt Andreas später auf dem Krankenhausflur zu mir.
Als wir unser Büro in Kalk betreten, klingelt tatsächlich bereits Andreas’ Telefon. Eine heulende Hatice ist am anderen Ende. Natürlich liebt sie Steven, und natürlich hat sie freiwillig mit ihm geschlafen. Sie will nicht, dass er in den Knast muss.
Während Andreas noch mit ihr telefoniert, gehe ich zu den Gewahrsamszellen und sorge mit einem zweiten Kollegen dafür, dass Steven entlassen wird.
Mechanisch leisten wir die nötigen Unterschriften und wünschen dem Jungen alles Gute.
Sexualdelikte sind für uns Polizisten ein sensibles Thema: Opfer, die vor Scham schweigen, Täter, die sich keiner Schuld bewusst sind und ihr abnormes Verhalten total normal finden. Und immer wieder die Gratwanderung zwischen Wahrheit und Lüge. Vorsichtig müssen wir uns in den Vernehmungen an die Wahrheit herantasten.
Anfangs war ich geneigt, den Opfern solcher Taten vorbehaltlos Glauben zu schenken, und in vielen Fällen ist dies sicherlich nur allzu berechtigt. Aber nun, wenige Wochen und viele Fälle später, bin ich ein wenig vorsichtiger geworden. Ich zerfließe nicht mehr vor Mitleid, wenn jemand behauptet, Opfer einer Sexualstraftat geworden zu sein. Und nur weil jemand spektakulär weint, heißt das nicht automatisch, dass er – oder sie – die Wahrheit gepachtet hat. Leider.
Es gibt die verschiedensten Gründe, warum Geschichten erfunden werden: Kleine Mädchen denken sich böse Männer aus, die sie festgehalten haben, während sie tatsächlich einfach nur auf dem Heimweg von der Schule trödelten und Angst vor Strafe durch die Eltern hatten. Erwachsene Frauen dichten ihrem Ex-Lebensgefährten Straftaten an, weil sie beleidigt sind, weil es im Rahmen eines Sorgerechtsstreits ganz hilfreich ist oder weil man dem Partner einen Seitensprung nicht erklären kann. Dann sind da Mädchen wie Hatice, hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen, die mit unseren deutschen Freiheiten aufwachsen, deren Eltern aber andere Moralvorstellungen und Erwartungen an ihre Töchter haben. Aus lauter Angst und Panik verstricken sie sich dann in gefährliche Lügenmärchen.
Es waren nur ein paar Wochen, die ich auf dem Kriminalkommissariat verbrachte, doch es waren besonders lehrreiche. Ich lernte viel über psychologisches Feingefühl, ich schulte meine Fähigkeit, aktiv zuzuhören, lernte auch hier, die Geschichten nicht zu nah an mich heranzulassen, und entwickelte allmählich ein ganz gutes Gespür dafür, ob man mich gerade belog oder nicht. Für die Kollegen von der Kripo ist das ganz selbstverständlich, aber auch für den täglichen Streifendienst ist diese Fähigkeit nicht ganz unerheblich.
Lüge und Wahrheit zu erkennen stellt sich oftmals als gar nicht so einfach dar und ist die wohl größte psychologische und empathische Herausforderung, vor der ich in meiner bisherigen Dienstzeit stand. Denn wenn man sich als Polizist an eines gewöhnen muss, dann daran, dass einem grundsätzlich kaum jemand die Wahrheit sagt.
Dennoch ist es gerade im KK12 wichtig, dass man Opfern von Sexualdelikten das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen vermittelt. Kein wirkliches Opfer soll Angst haben, dass es sich rechtfertigen oder erklären muss. In diesen speziellen Ermittlungen ist es deshalb enorm wichtig, dass man auf die Zeugen, die Opfer und auch auf die Täter sehr intensiv eingeht und versucht, die Atmosphäre der Vernehmung so angenehm wie möglich zu gestalten. Für Kinder gibt es ein eigenes Videovernehmungszimmer, in dem man vorsichtig und kindgerecht Fragen stellen kann und sich durch eine eher spielerische Befragung den meist tragischen Vorfällen annähern kann.
Es sind heikle und sensible Fälle, mit denen die Kolleginnen und Kollegen im Kriminalkommissariat 12 zu tun haben. Nicht jeder ist dafür geeignet. Deshalb gibt es für die Beamten dort besondere Schulungen, um mit Opfern und Tätern gleichermaßen einfühlsam und angemessen umzugehen und letztlich natürlich die Wahrheit ans Licht zu bringen.