Fotze

2007

 

Sechseinhalb Jahre bin ich nun als Autobahnpolizistin geradeaus gefahren, bin höchstens rechts, aber niemals links abgebogen und habe hauptsächlich verkehrsrechtliche Probleme gelöst. Jetzt ist es an der Zeit, dass ich mich von der »Sonnenscheinwache« Autobahn verabschiede und mich neuen Herausforderungen stelle. Und die bekomme ich: Im sozialen Brennpunkt Köln-Chorweiler soll ich ein Jahr lang, bis zum Beginn meines Studiums Streife fahren, neue Erfahrungen und Eindrücke sammeln und vor allem Einblicke in die Arbeit der Polizei fernab der Autobahn bekommen.

Für Sicherheit sorgen soll ich. In Chorweiler, einer Hochhaussiedlung mit Graffiti an den Wänden, vollgepissten Hausfluren und Aufzügen und mit Wohnungen, die so verwahrlost sind, dass man kaum glauben kann, wie dort jemand wohnen kann.

»Fast der ganze Stadtteil besteht aus kleinkriminellen Typen, die sich leider nicht nur gegenseitig täglich in die Fresse hauen, sondern auch noch das Umland belästigen«, erklärt mir mein neuer Kollege Uwe, während wir durch die gut gefüllte Fußgängerzone marschieren, auf der Suche nach ein paar Jugendlichen, die zu dem gewöhnlichen Mist, den sie sonst so bauen, heute einen bewaffneten Kiosküberfall hingelegt haben. »Jetzt schon wieder so ein Einsatz, bei dem man genau weiß, was einen erwartet. Man sollte die alle auf eine einsame Insel verfrachten oder ganz Chorweiler einzäunen, da könnten sie sich dann wenigstens nur mit sich selbst beschäftigen.«

Ich kenne Uwes Tiraden schon und verstehe seine Frustration. Aber so ist es nun mal, wir beide werden die sozialen Probleme einer Hochhaussiedlung wie Chorweiler mit hohem Ausländeranteil und vielen sozial schwachen Einwohnern auch nicht im Handstreich lösen, selbst wenn wir uns das im Stillen manchmal wünschen, weil wir dann auf einen Schlag ungefähr siebzig Prozent weniger Arbeit hätten. Also schweigen wir und suchen stattdessen nach unseren Straftätern – mit einer Beschreibung an der Hand, die auf jeden Dritten hier passt:

170 cm groß

– schwarze Haare

– Irokesenfrisur

– Kapuzenjacke

– Jeans

Unheimlich hilfreich. Und dann wundern die Leute sich, dass wir die Typen nicht erwischen. Wenn wir ehrlich sind, erwischen wir wirklich immer nur die Dummen: diejenigen, die sich nicht gut genug verstecken, die sofort weglaufen, wenn sie uns sehen, oder die so markante Tattoos, Nasenpiercings oder Ohrringe tragen, dass ich schon bei der Beschreibung weiß, bei wem ich klingeln muss.

Heute sind es wieder die Dummen, die uns ins Netz gehen. Als wir um die nächste Ecke biegen, sehen wir gerade noch, wie zwei Jungs bei unserem Anblick die Beine in die Hand nehmen und losflitzen. Uwe und ich hinterher. Keuchend versuche ich, zu funken und gleichzeitig zu rennen, mit dem Effekt, dass beides nicht optimal gelingt.

»Täter … gesehen … Athener Ring weggelaufen … hinterher!« So oder so ähnlich klingt das, was ich in das Funkgerät brülle, während ich versuche, an Uwe dranzubleiben, und dieser wiederum versucht, die Bengels einzuholen.

Zwei Seitenstraßen weiter geben wir schnaufend und keuchend auf. Die Jungs tragen Turnschuhe, wir grobe Wanderstiefel. Wir schleppen zusätzlich zu unserem Körpergewicht noch mehr als fünf Kilo Krempel mit uns herum, während die Kerle gerade mal dem Kindesalter entwachsen und topfit sind.

Schnaufend laufe ich aus, Uwe lehnt bereits an einer Wand. In einer Mischung aus Wut und Belustigung sieht er mich an: »Irgendwann kriegen wir sie alle. Aber heute nicht, ich kann nicht mehr!« Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und spuckt in einen zugemüllten Vorgarten, als von der nächsten Kreuzung Geschrei zu uns herüberschallt.

»Fick dich, du Scheißfotze!«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rennen wir wieder los und biegen um die Ecke. Ein Streifenwagen steht quer auf dem Bürgersteig. Unsere Kollegin Johanna rollt mit einem der Jungs, die wir gerade verfolgt haben, in wildem Kampf über den Boden, ihr Partner Paul schleift einen weiteren am Kragen zum Streifenwagen.

»Fick dich, du Scheiß…«, will der, auf dem Johanna mittlerweile kniet, gerade wieder schreien, während sie versucht, seine Hände zu fassen zu kriegen, als ich ihr zur Hilfe komme und dem Jungen die Arme nach hinten biege.

»Ich dachte, die Scheißfotze wäre ich, Murat?« Auf den zweiten Blick habe ich erkannt, welche Schätzchen uns da heute ins Netz gegangen sind.

Murat und sein Kumpel Marcel. Keine sechzehn Jahre alt, frech wie Dreck und leider krimineller, als ihr Alter vermuten ließe.

»Alle beide seid ihr Drecksfotzen, Alter, ich fick euch!« Klein-Murat windet sich wie wild unter unseren Griffen und schiebt zuckend in wilden Bewegungen sein Becken vor und zurück. »Ich fick euch Huren alle!«

»Kindchen, dazu fehlt dir noch die notwendige Ausstattung!« Johanna kichert und lässt die Handfesseln einrasten.

»Zeig’s den Schlampen, Murat!« Ah, sein Kumpel Marcel hat seine Stimme wiedergefunden und kräht jetzt aus dem Streifenwagen zu uns rüber. Murat zappelt immer noch am Boden und weigert sich aufzustehen.

Jetzt reicht es. Gemeinsam heben Johanna und ich das Fliegengewicht mit den gefesselten Armen hoch und setzen es neben seinen Kumpel auf den Rücksitz.

Während andere Jugendliche und ganz sicherlich auch Erwachsene in dieser Situation eindeutig einsehen würden, dass sie verloren haben, und den Rand halten, ist das bei Murat und Marcel leider nicht so.

»Ich fick deine Mutter, du Drecksau. Guck mal in den Spiegel. Du Sau. Fotze. Arschloch. Ihr könnt mir gar nichts. Du bist so hässlich, dich würde nicht mal ein Esel ficken! Deine Mutter …« Murat, der den Ablauf hier bei uns schon bestens kennt, beginnt das Ganze unheimlich lustig zu finden und geht alle ihm bekannten Beleidigungen durch. Gewöhnlich wird er nach so einer Sache zur Wache transportiert, da muss er ein bisschen rumsitzen, während er sich die Zeit damit vertreibt, die Beamten einmal nacheinander ordentlich zu beleidigen. Dann erscheint irgendwann sein Vater, Murat verdrückt ein paar Tränchen, bekundet, wie leid ihm alles tut, und kann gehen. Offenbar bezahlt Papa auch seine Strafen immer brav, denn weitere Konsequenzen hatten seine Aktionen, soweit ich weiß, bisher nie.

Doch was Murat und Marcel noch nicht wissen, ist, dass wir diesmal ein Videoband von ihnen und ihrem Raub im Kiosk haben. Wie die Kollegen mir über Funk mitteilen, kann man beide klar erkennen. Noch wichtiger ist, dass man erkennt, wie sie die alte Dame hinterm Tresen mit der Gaspistole bedrohen und die Waffe dann auch abfeuern. Heute werden weder Murat noch Marcel nach Hause gehen dürfen, und wenn Papi noch so freundlich ist. Heute sind Festnahme und U-Haft angesagt, für beide.

»Ey, Fotze, mach mal die Fesseln lockerer. Die tun mir weh. Ich zeig dich an, dann zahlst du Schmerzensgeld, bis du blutest. Du dumme Sau.«

»Halt den Rand!« Auch Paul scheint jetzt mit der Geduld am Ende. Normalerweise ist er immer derjenige, der sich mit stoischer Geduld die wildesten Beschimpfungen anhört und alles von sich abprallen lässt, ohne die geringste Reaktion zu zeigen. Aber das heute ist eindeutig einen Tick zu viel.

Als wir die beiden Jungräuber endlich im Wagen verstaut haben, um sie zur Wache zu karren, erzählt mir Johanna, dass sie meinen gekeuchten Funkspruch gerade noch aufgeschnappt hatten, als ihnen die beiden schon quasi vor die Motorhaube liefen.

Uwe nickt und meint trocken: »Sag ich ja, irgendwann kriegen wir sie alle!«

Vom Rücksitz des Streifenwagens schallt es wieder: »Ich ficke deine Mutter, du Hurensohn! Du Eselficker! Du Scheißdrecksbulle!«

»Ja, ja, Murat, die Leier kennen wir jetzt schon. Leg mal ’ne neue Platte auf.« Ich winke genervt ab.

»Fotze, kannst du mich nicht direkt nach Hause fahren? Ich kann doch eh gleich wieder gehen. Alte Fotze, lutsch meinen Schwanz! Hühnerficker, Hühnerficker.«

Irgendwo in meinem Hirn legt sich ein Schalter um, und ich vergesse, dass ich hier im Grunde zwei Kinder vor mir habe. Zuckersüß lächelnd, drehe ich mich um: »Schätzchen, ich würde dich zu gerne nach Hause zu Papi fahren. Dummerweise geht das nicht. Heute habt ihr euch eine Straftat zu viel geleistet. Heute schlaft ihr bei uns, in der kuscheligen Zelle. Da darfst du dir dann überlegen, was du falsch gemacht hast. Und wenn du noch mal Fotze sagst und nicht langsam deinen Ton anpasst, dann bin ich mir sicher, dass wir einen netten Zellengenossen für dich finden.«

Während meiner kleinen Ansprache ist Klein-Murat ziemlich blass um die Nase geworden. »Ey, du machst Witze, Fotze, oda?«

Uwe schüttelt den Kopf: »Ich befürchte, sie meint das ernst, Murat.«

»Ey, hab ich mit disch geredet, du Hühnerficker?«

Auf Uwes Stirn erscheint eine pochende kleine Ader, die erst verschwindet, als wir die beiden Jungs mit zwei Streifenwagen ins Gewahrsam gebracht haben und beide beim Anblick der hohen Mauern und kahlen Flure sichtlich erbleichen.

»Ey fuck, ich will nach Hause!« Marcel versucht, sich aus meinem Griff zu winden. »Ey, lass mich los, du dumme Sau!!«

Er spuckt nach mir, aber ich weiche aus. Eine Sekunde später liegt der Kleine auf dem Boden, und zwei Beamte vom Gewahrsam ziehen Marcel einen Mundschutz über. »Gespuckt wird hier nicht!«

»Fick dich! Ich war das nicht!! Das war Murats Idee! Ich geh nicht in den Knast! Mamiiii!!«

»Alter, halt’s Maul, oder mein Bruder kommt und sticht dich ab!«, tönt sein Kumpel. »Ich schwör, der sticht dich ab!«

Fast muss ich wegen ihres kleinen Dialogs lachen, wäre das Ganze nicht so dramatisch. Die alte Kioskbesitzerin liegt im Krankenhaus und hat von der Gaspistole Verbrennungen im Gesicht, außerdem hat sie durch die Aufregung einen leichten Schlaganfall erlitten. Und wir müssen uns hier mit zwei Kindern herumschlagen, die dummerweise nie ihre Grenzen aufgezeigt bekommen haben und jetzt zu alt sind, um sie noch kennenzulernen.

Zwei Schachteln Zigaretten und zwölf Euro haben sie bei ihrem Beutezug verdient. Schwerer Raub. Zwölf Euro und zwei Schachteln Zigaretten als Lohn für eine Straftat mit einem Mindeststrafmaß von fünf Jahren.

Wie oft hab ich die beiden jetzt schon bei irgendeiner Scheiße erwischt, wie oft hab ich hilflos zugesehen, wie sie nach einer Standpauke vom Jugendrichter, nach Sachbeschädigungen, Körperverletzungen, kleineren Einbrüchen und Diebstählen wieder gehen durften. Und wie sie sich regelmäßig direkt vor uns kaputtlachten ob ihrer vermeintlichen Pfiffigkeit.

Wer will mir verdenken, dass ich den Moment genieße, in dem Murat und Marcel in zwei Zellen gesperrt werden und ich die Panik in ihren Augen sehe, als die schweren Türen zufallen und sie verstehen, dass dies kein schlechter Scherz, sondern bitterer Ernst ist? Wer will mir sagen, dass es falsch ist, mich zu freuen, dass die beiden endlich mal ein paar Monate zumindest von der Straße sind?

Gut, Murat und Marcel sind nur zwei von vielen. In ihrer kleinen Bandenhierarchie werden schnell andere nachwachsen und ihren Platz einnehmen, und in ein paar Wochen lassen wir uns dann nicht von Klein-Murat und Marcel Hühnerficker und Fotze nennen, sondern von Hans und Anatoli. Egal. Die Genugtuung bleibt, obwohl ich genau weiß, dass Murat und Marcel keine Lehre aus dem Knastaufenthalt ziehen werden, sondern lediglich die Zeit nutzen, um ihre Fähigkeiten als Autoknacker, Einbrecher und Schläger zu verfeinern.

»Du glaubst auch nicht, dass die beiden geläutert wieder in Chorweiler erscheinen, oder?«

Uwes Antwort auf meine Frage ist ein bitteres Lachen. »Das wäre illusorisch, und dann hätten wir hier in Chorweiler ja auch nichts zu tun, wenn die Läuterung im Knast funktionieren würde. Obwohl – da wären ja noch Kalk, Mülheim, Finkenberg, Höhenberg, Meschenich …« Er zählt die Kölner Problembezirke an seinen Fingern ab. Bei zehn sieht er mich an: »Und hey, sonst wären wir ja unseren Job los!«

Aus dem Zellentrakt schallt ein letztes »Fotzääää!« hinter uns her, dann steigen wir in den Streifenwagen und rollen langsam vom Hof.

»Bleibt zu hoffen, dass sie ihnen im Knast ein paar bessere Schimpfwörter beibringen, das ewige Fotze ist schon irgendwie ermüdend, findest du nicht?«

Ich nicke, während wir zusehen, wie die Sonne hinter den Hochhäusern untergeht. Im Abendlicht sehen sie malerisch und fast ein bisschen friedlich und schön aus.

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt
titlepage.xhtml
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_000.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_001.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_002.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_003.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_004.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_005.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_006.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_007.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_008.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_009.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_010.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_011.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_012.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_013.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_014.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_015.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_016.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_017.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_018.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_019.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_020.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_021.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_022.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_023.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_024.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_025.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_026.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_027.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_028.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_029.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_030.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_031.html
CR!TJXC528GZD4TV6TCWR4EV4FFHYCG_split_032.html