Ich hoffe, es geht dir besser,
da, wo du jetzt bist.

2007

 

Genauso, wie wir die einen Bösewichter erwischen und die anderen nicht, wie wir die einen laufen lassen müssen und die anderen nicht, können wir manche Menschen retten und manche eben nicht.

Jon haben meine Kollegen und ich viele Male gerettet, bis der Tag kam, an dem wir es nicht mehr schafften. Für ihn aber bedeutete dieser Tag vielleicht doch so etwas wie eine Rettung.

Ich stehe mit meinem Notfallschokoriegel in der Hand am Fuß eines der Hochhäuser in Chorweiler. Über mir ist, nein, war ein gläsernes Vordach mit Stahlstützen angebracht. Das Sicherheitsglas ist gesplittert, und meine Schritte knirschen unangenehm auf den Tausenden kleinen und großen Scherben.

Meine Kollegen spannen rot-weißes Flatterband mit der Aufschrift »Polizei« von einer Stütze zur anderen. Ein Rettungswagen und ein Notarztwagen mit ausgeschaltetem Blaulicht parken neben den beiden Streifenwagen im Wendehammer vor dem Haus. Die Sanitäter sitzen auf der Treppe und füllen mit dem Notarzt den Totenschein aus.

Erneut beiße ich von meinem Schokoriegel ab und schaue nach oben. Siebenundzwanzig Stockwerke. Von welchem er wohl gesprungen ist?

Widerwillig richte ich den Blick auf den Boden vor mir. Ein Häufchen Kleider liegt dort, unter dem sich ein kleines Blutrinnsal den Weg über das Pflaster bahnt. Erstaunlich wenig Blut dafür, dass er so tief gefallen und durch das Vordach gekracht ist.

Sein Kopf ist halb von seiner Jacke verdeckt. Die Jacke, an der die Kapuze abgerissen ist, weil er noch vor wenigen Wochen durch einen Passanten an ebendieser Kapuze zurückgerissen wurde, als er sich vor die einfahrende S-Bahn werfen wollte. Mit Händen und Füßen hatte er sich gewehrt, und die Schlägerei war noch im vollen Gang gewesen, als wir dazukamen und es mir und meinem Kollegen endlich gelang, ihn zu beruhigen.

Schon auf dem Weg zum heutigen Einsatzort war mein Bauchgefühl eindeutig. Als die Durchsage »Jugendlicher von Hochhaus gesprungen!« über Funk kam, wusste ich, dass ich Jon finden würde. Jon, der endlich geschafft hatte, wovon wir ihn seit Monaten abhielten.

Dabei waren seine Versuche durchaus nicht die üblichen Hilfeschreie jugendlicher Fast-Suizidenten gewesen. Keine unnützen Versuche, sich mit zwanzig Aspirin ins Jenseits zu beamen, oder hilflose, halbherzige Schnitte an den Handgelenken. Nein, Jon, der intelligente, zurückhaltende Junge mit herausragenden Schulnoten und einem Zimmer voller Bücher hatte es eigentlich immer direkt richtig gemacht.

Während ich seinen Körper betrachte, erinnere ich mich, wie ich verzweifelt in mein Funkgerät nach einem Rettungswagen brüllte, während mein Kollege Jons Unterarme zusammenhielt, die er sich mit einem zwanzig Zentimeter langen Küchenmesser von oben bis unten aufgeschlitzt hatte. Wir fanden ihn nur zufällig, weil der Kollege eine Rauchpause auf einem der abgelegenen und im Winter unbenutzten Parkplätze am Fühlinger See einlegen wollte.

Ich erinnere mich an Sandras Erzählung, wie sie Jon in einer der Toiletten des City-Centers mit einer Überdosis Heroin im Körper fanden, von der wir bis heute nicht wissen, woher er sie hatte.

Ich erinnere mich an den Nachmittag, den wir damit verbrachten, ihn von einer der Autobahnbrücken in unserem Bereich herunterzuquatschen, was letztlich nur funktionierte, weil Jon ein sehr rücksichtsvoller Junge war und herunterkletterte, als einer der Kollegen verzweifelt rief, dass er nicht damit leben könne, ihn fallen zu sehen.

Ich erinnere mich an die vielen Besuche bei seiner immer total breiten Mutter, die oft nicht mal ansatzweise erfasste, was mit ihrem Kind passiert war.

Ich denke an die Wohnung hier in der Hochhaussiedlung, die von Jon penibel sauber gehalten wurde, in der sich die Bücher stapelten, die er verschlang, als würden sie ihm bei seiner Flucht in ein besseres Leben helfen.

Ich denke an seinen verzweifelten Blick, als ich ihn einmal fragte, warum er nicht leben wolle: »Wollten Sie so leben?« Seine Handbewegung hatte alles umfasst – seine betrunkene Mutter, seine in der Nähe herumstehenden, gaffenden und lachenden Schulkameraden, die Wohnverhältnisse, alles.

Mir war keine pädagogisch wertvolle Antwort eingefallen, also hatte ich damals so etwas wie: »Besser so leben als gar nicht!« gestammelt, obwohl Jon und ich wussten, dass ich nur eine Floskel nutzte und mir gar nicht vorstellen konnte, so zu leben wie er.

Ich arbeitete nur hier, ich setzte mich jeden Tag nach dem Dienst in mein kleines rotes Auto, das mehr gekostet hatte, als hier eine fünfköpfige Familie jedes Jahr zum Leben hatte, und fuhr zurück in meine eigene heile Vorstadtwelt, wo meine Katze und mein Lieblingsmensch auf mich warteten, in eine Wohnung, die nicht nach Urin stank, in der alle Leitungen funktionierten und wo ich keine Angst haben musste, bereits im Hausflur beklaut zu werden.

Jetzt hatte Jon es also geschafft. Diesmal hatten wir keine Chance, rechtzeitig da zu sein.

Später gelang es uns, den Ablauf zu rekonstruieren: Jon war morgens aufgestanden, zur Schule gegangen, war im Deutschunterricht für seine Klausur gelobt worden, hatte in der Pause, wie üblich, von einem Mitschüler Prügel bezogen, weil er die wöchentliche »Abgabe« für Bücher ausgegeben hatte, statt sie dem kleinen Schul-Mafioso auszuhändigen. Dann war er nach Hause gegangen, hatte seiner Mutter, die schon wieder total besoffen war, etwas zu essen gekocht, hatte sie vom Bett aufs Sofa verfrachtet und ihr die Flaschen mit süßem Likör in Reichweite gestellt, damit sie ihn gehen ließ. Anschließend hatte er sich eine ihrer Schnapsflaschen genommen und war die Treppen des Hochhauses hochgestiegen. Im 26. Stock fanden wir später an der Balustrade des Treppenhauses seine Turnschuhe und die leere Flasche, außerdem ein zerlesenes Exemplar von »Peter Pan«, in das er mit einem schwarzen Stift den Text von Westernhagens »Freiheit« geschmiert hatte.

Ein verlorener Junge …

Dann war er gesprungen.

Ich beende die zwei Minuten Nachdenklichkeit, die ich mir genehmigt habe, und trete von der Leiche zurück. Einer der Kollegen reicht mir die Kamera, ich mache Bilder. Nach einem Ausweis suchen muss ich nicht. Wir alle kennen Jon so gut, dass jeder Kollege ihn hätte identifizieren können. Dann steigen wir schnaufend die Treppen hoch, den Aufzug benutzt hier niemand, höchstens als Toilette. Im 6. Stock kommen uns mehrere Jugendliche entgegen. Ich schnappe Wortfetzen ihrer Unterhaltung auf: »… der kleine Pisser aus der Siebzehn ist tatsächlich gesprungen!«

»… bei der Mutter hätte ich das schon lange getan …«

Die Kollegen unten werden sie abfangen und ihre Personalien notieren, aber wirklich etwas über Jon erzählen können sie auch nicht. Jon hatte viele Freunde, auf jeder Seite seiner Bücher einen, aber in der Realität kam er mit Gleichaltrigen nicht zurecht. Am ehesten wusste wohl noch sein Sozialarbeiter Bescheid, der alle paar Wochen für ein Gespräch zur Verfügung stand und der immer wieder versuchte, Jon in Heimen und Pflegefamilien unterzubringen. Doch Jon war jedes Mal abgehauen, aus Jugendheimen, aus betreuten Wohngruppen. Immer war er zu seiner Mutter zurückgekehrt, fest davon überzeugt, dass er kein besseres Leben verdiene als das an ihrer Seite. Getrieben von einem diffusen Schuldgefühl, das er mir gegenüber mal mit den Worten erklärte: »Weil ich da bin, ist sie, was sie ist. Wäre ich nicht, wäre ihre Welt noch in Ordnung. Aber als Alleinerziehende ohne Job …« Er hatte abgebrochen, und ich hatte ihn spontan trotz Uniform und Waffe in den Arm genommen und geflüstert, dass jeder für sein Glück im Leben selbst verantwortlich sei und ein Kind niemals Schuld am Unglück der Eltern haben könne.

Jon hatte bitter gelacht, und wir fuhren ihn mal wieder in eines der tristen Jugendheime. Zwei Tage später sah ich ihn erneut den Weg in die Wohnung seiner Mutter nehmen, beladen wie ein Packesel.

Klopfen und Klingeln, Klingeln und Klopfen. Mein Kollege Uwe und ich stehen vor der Tür des Appartements mit der Nummer 17.

Jons Mutter öffnet erst, nachdem ich ihr lautstark androhe, die Tür einzutreten, wenn sie ihren Arsch nicht langsam zu selbiger bewegt. Manchmal muss man sein sprachliches Niveau anpassen, damit die Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben –im Polizeijargon das »polizeiliche Gegenüber« genannt –, das tun, was wir von ihnen wollen. Verschlafen steht sie in einem verwaschenen Bademantel vor uns und stiert verständnislos durch ihre Brillengläser.

Die beiden Kollegen der Kripo, die mit uns die Wohnung betreten, überbringen ihr die schreckliche Nachricht. Ich stehe im Türrahmen und betrachte ein schief an der Wand hängendes Foto hinter zerbrochenem Glas. Es zeigt Jon und seine Mutter in glücklicheren Zeiten: Fünf oder sechs Jahre alt ist er und kuschelt sich an seine Mutter, eine schöne Blondine, die noch nicht gezeichnet ist vom Alkohol und gut gekleidet in die Kamera lächelt.

»Hat er es endlich geschafft. Hat er mich endlich allein gelassen … der kleine Pisser? Erst versaut er mein Leben, und jetzt haut er einfach ab! Kleiner Pisser …«, nuschelt sie nur.

Vor Wut balle ich die Hände zu Fäusten und schiebe sie tief in die Taschen meiner Lederjacke. Selten ist es mir so schwergefallen, jemandem nicht an den Kragen zu gehen.

Sie haben Ihren Sohn schon vor langer Zeit allein gelassen!, denke ich und unterdrücke den Drang, meine Gedanken laut auszusprechen. Dann wende ich mich ab. Sonst spende ich immer Trost und habe für alles und jeden Verständnis. Doch dieser Frau gegenüber bleiben mir die aufmunternden Worte im Hals stecken. Mein Mitgefühl hat sie nicht verdient, entscheide ich und gehe die Treppen wieder runter zu ihrem Sohn, den ich zwar nicht retten und dem ich trotz aller Bemühungen, aller psychologischen Hilfe, aller Unterstützung vom Jugendamt keine Freude am Leben schenken konnte, aber den ich wenigstens jetzt nicht allein lassen will.

Uwe folgt mir leise. Als ich ihn ansehe, wischt er sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Die miese Schlampe!«, sagt er nur, als wir hinaus an die frische Luft treten, und auch ich blinzele zwei Tränen weg.

Dann gehe ich zwei Schritte auf Jon zu, der jetzt unter schwarzen Decken liegt. Gerade ist der Leichenwagen vorgefahren.

Ich ziehe die Decke ein Stückchen weg, schaue in sein fast unverletztes Gesicht, bücke mich, streiche ihm über die struppigen Haare und schließe seine Augen.

»Ich hoffe, es geht dir besser, da, wo du jetzt bist«, flüstere ich, dann breite ich die Decke wieder über ihn.

Schweigsam verläuft der Rest des Dienstes, ich habe kaum Zeit, weiter über Jon nachzudenken. Wir werden auch anderswo gebraucht. Mein Kollege und ich sind trotzdem nicht ganz bei der Sache. Immer wieder kehren meine Gedanken zu Jon zurück. Jon, der uns damals sogar noch anlächelte, als wir ihn blutüberströmt auf dem Parkplatz fanden. »Lasst mich doch bitte gehen. Ich kann nicht mehr!«, hatte er damals gehaucht, bevor er die Augen schloss.

»Niemals!«, hatte mein Kollege ihn angeschrien und nur noch verzweifelter die Wunden zugehalten und versucht, die Blutung zu stoppen.

Jetzt ist offenbar Niemals. Jon ist gegangen, und die Welt dreht sich weiter. Wen interessiert schon der tote Sohn einer Alkoholikerin im sozialen Brennpunkt?

Meinen letzten Gedanken habe ich offenbar laut ausgesprochen, denn Uwe sagt: »Uns hat er interessiert, und wir werden ihn nicht vergessen!«

Dann schaltet er das Blaulicht ein, und wir brausen zum nächsten Einsatz, der nächsten Krise, dem nächsten Menschen, den wir vielleicht retten können. Vielleicht aber auch nicht.

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt
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