Schafe auf der A1

2003

 

Natürlich sind tödliche Unfälle und harte Einsätze nicht der Alltag bei der Polizei. Auch erfahrene Polizisten kratzen nicht jeden Tag Tote von der Fahrbahn, liefern sich nicht jeden Tag wilde Verfolgungsfahrten und nehmen nicht jeden Tag einen Bankräuber fest. Manche Tage sind einfach nur von normalen Einsätzen geprägt, die zwar für die Menschen, die darin verwickelt sind, auch immer eine Ausnahmesituation darstellen – sei es ein kleiner Unfall mit Sachschaden oder ein Streit unter Nachbarn, eine Ruhestörung oder eine simple Verkehrskontrolle. Für uns Beamte sind sie, so riskant dieses Wort auch ist, Routine.

Doch zwischen wirklich nervenaufreibenden Einsätzen und Routineeinsätzen gibt es eine dritte Sorte, nämlich die, die einfach nur Spaß machen, über die man auch Jahre später noch herzlich lachen kann und an die man sich gerne zurückerinnert. So war es mit den Schafen auf der A1.

Meine Kollegin Nadine und ich rollen mit dem Streifenwagen über die A1 vom Autobahnkreuz Köln-West in Richtung Leverkusen. Der Dienst hat gerade erst angefangen, die anderen Streifenwagenbesatzungen sind mit Sperrungen für eine Brückensprengung beschäftigt, und wir sollen für alle anderen Einsätze bereit sein. Doch bisher ist nichts angefallen – kein Unfall, keine Gegenstände auf der Fahrbahn, nicht mal jemanden ohne Sicherheitsgurt haben wir erspäht. Also fahren wir im herrlichsten Sonnenschein durch den Frühlingsmorgen und warten auf den ersten Einsatz des Tages, als ein Räuspern aus dem Funk ertönt: »Schafe auf der A1 kurz vorm Kreuz Köln-Nord.« Nadine bestätigt, und ich steuere den Wagen ein wenig schneller in die Richtung.

Schafe sind eigentlich gar nicht so schlecht. Sie sind nicht so schnell und wendig wie Ziegen, Wildschweine oder Hunde, und sie sind kleiner und somit handlicher als Rehe, Pferde oder gar Kühe. Daher verursachen sie auch nicht so viel Schaden, wenn es zu einem Unfall kommt, und sie lassen sich auch locker von einer Person wegschleifen, während man für ein kaputt gefahrenes Wildschwein schon mal zwei oder drei Kollegen braucht, um es von der Fahrbahn zu hieven. Ich selbst hatte mich gerade vor ein paar Wochen dran probiert, war forsch auf die tote Sau zugegangen, hatte sie an einem Hinterlauf gepackt und wollte sie von der Fahrbahn zerren. Mit den zweihundert Kilo Fleischmasse hatte ich aber irgendwie nicht gerechnet. So zog und zerrte ich, die Sau bewegte sich keinen Zentimeter, und schließlich riss der ohnehin durch den Unfall leicht lose sitzende Hinterlauf ab. Ich purzelte rückwärts und landete mit der abgerissenen Wildschweinkeule auf der Brust auf dem Seitenstreifen.

Während ich so noch meinen Gedanken nachhänge und wir in Richtung Einsatzort fahren, wird der Verkehr für einen Samstagmorgen immer dichter, bis wir schließlich kurz vor dem Autobahnkreuz in einem ausgewachsenen Stau stehen. Nichts geht mehr.

Ich schalte das Horn ein, und wir kämpfen uns durch nur widerwillig Platz machende Fahrzeugkolonnen. Das ist übrigens immer so: Wir müssen irgendwo durch, wo es nicht weitergeht, damit wir vorne Platz machen können, damit es dann irgendwann doch wieder weitergeht. Diesen logischen Ablauf scheinen viele Autofahrer jedoch nicht zu begreifen. Da wird dann für den ersten Streifenwagen zögerlich ein Weg freigemacht, den man dann aber sofort wieder zumacht, sodass der zweite Streifenwagen und die folgende Feuerwehr erneut Probleme haben vorbeizukommen. Was so schwierig daran ist, einfach eine Gasse zu bilden und diese so lange offen zu lassen, bis es weitergeht, hat sich mir bis heute nicht erschlossen.

Wir kämpfen uns also mit laut heulendem Martinshorn und Blaulicht langsam durch den Stau, und dann sehen wir es.

Ja, da sind Schafe auf der A1, aber nicht eins oder zwei, wie ich angenommen hatte. Nein, die gesamte dreispurige Autobahn vor uns ist voller Schafe! Auf dem Seitenstreifen sind Schafe, auf dem Fahrstreifen, auf dem Überholstreifen und auf dem Mittelstreifen – überall stehen die blökenden Viecher und gucken wenig intelligent zu uns herüber.

Nadine und ich tauschen einen ratlosen Blick. Wie sollen wir die von der Fahrbahn bekommen?

Erst mal schalte ich das Martinshorn aus, das die Tiere ohnehin wenig beeindruckt hat. Nadine gibt die Situation per Funk an die Leitstelle weiter und erfährt knapp: »Kein zweiter Wagen frei. Ihr Mädels macht das schon!«

Ja, wir machen das schon. Aber wie?

Zunächst versuchen wir, die Herde zumindest daran zu hindern, durch den Mittelstreifen auf die Gegenfahrbahn zu laufen, indem wir dort entlangrennen, mit den Armen fuchteln und »Husch, husch!« schreien, mit dem Erfolg, dass sich die Schafe allmählich in Bewegung setzen und tatsächlich den Mittelstreifen räumen.

Von unserem Erfolg bestärkt, fahren wir mit unserem »Husch husch«-Gebrüll fort und treiben die Herde unter den amüsierten Blicken der wartenden Autofahrer über die Autobahn. Aber eben leider nur über die Autobahn und nicht von ihr runter. Keines der Schafe ist dazu zu bewegen, sich auf dem Feldweg, von dem sie offensichtlich gekommen sind, zurück zu ihrer Weide zu begeben.

Mittlerweile schwitzen Nadine und ich ordentlich von dem Rumgerenne. Die Schafe stehen unbeeindruckt weiterhin auf der Fahrbahn und glotzen blöd. Ich bin nach einem kleinen Sturz über ein Lamm, das mir in die Quere gelaufen war, von oben bis unten voller Schafscheiße, und auch Nadines Uniform hat gelitten und weist am Hemdsärmel ein großes Loch auf, während eines der Schafe gemächlich auf dem grünen Stofffetzen herumkaut.

Kurz, wir kommen nicht weiter. Genervt funke ich die Leitstelle um Unterstützung an, nur um wieder die Antwort zu erhalten: »Keiner da! Der Schäfer ist verständigt, braucht aber etwa eine Stunde, bis er da ist.«

Ratlos betrachte ich, an den Streifenwagen gelehnt, die Herde. Wenn wir hier einfach eine Stunde warten, werden uns die Autofahrer im Stau sicher lynchen. Und selbst dann steht noch nicht fest, wie lange der Schäfer braucht, um seine Schafe wieder auf den rechten Weg zu führen.

Plötzlich vibriert das Diensthandy in meiner Hemdtasche. Es ist die Wache. »Tim hier!«, meldet sich der Funker. »Hör mal, wir hatten letztens auch Schafe auf der Bahn. Nicht ganz so viele, aber schon ein paar. Wenn du die an den Füßen packst und auf den Rücken drehst, laufen sie nicht weg, und ihr könnt sie wegtragen!«

»Ja, ja, ich komm vom Dorf. Ich weiß, wie ich Schafe stilllege und transportiere. Aber ich denke nicht, dass wir die etwa vierhundert Stück hier einzeln von der Bahn tragen werden!«, unterbreche ich ihn ungeduldig.

»Habt ihr den Lämmertrick schon probiert?«, will Tim jetzt wissen.

»Den Lämmertrick?« Zum Glück kann er meinen dämlichen Gesichtsausdruck nicht sehen. »Was soll das denn sein?«

»Schafe sind ja etwas doof, deshalb laufen sie immer in die Richtung, wo eines der Biester am lautesten schreit. Schnapp dir ein Lamm. Lass es blöken, und dann renn mit dem blökenden Lamm dahin, wo die anderen hinsollen!«

»Is klar. Danke für den Hinweis!« Ich tippe mir in Nadines Richtung mit dem Finger an die Stirn. »Tim hat sie auch nicht mehr alle.«

Sie nickt nur und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Die Hand ist von der schmutzigen Schafwolle fettig und hinterlässt eine braune Dreckspur auf Nadines Stirn.

Eine Weile schaue ich mir die Schafe an und stelle fest, dass die Viecher tatsächlich immer dahin laufen, wo gerade eines am lautesten brüllt. Dann zucke ich mit den Achseln. »Versuchen könnten wir es ja mal!«

Ich erkläre Nadine den Plan, die sich genauso an die Stirn tippt wie ich. »Klappt nie!«, meint sie nur. Aber ich muss an einen anderen Tiereinsatz denken, der sich bis vor Kurzem immer wiederholte: Gänse auf der A553. Dort hatte ein Bauer seine Gänse nicht so ganz unter Kontrolle, und seit Wochen marschierten die immer mal wieder über den Seitenstreifen der Autobahn. Wochenlang hatten wir uns Verfolgungsrennen mit den Viechern geliefert, bis uns der Bauer erklärte, wir sollten einfach »Ab nach Hause« sagen, dann wüssten sie schon, was sie zu tun hätten. Auch in dem Fall tippten wir uns erst an die Stirn, bis wir feststellten, dass es funktionierte: Die Gänse zockelten tatsächlich brav in einer Reihe heimwärts, sobald wir mit dem Streifenwagen ankamen und über Außenlautsprecher »Ab nach Hause!« brüllten.

Wer ernsthaft mit Gänsen spricht, um sie davon zu überzeugen, dass sie sich vom Acker machen sollen, dem sollte es auch nicht zu affig sein, die Sache mit dem blökenden Lamm wenigstens zu probieren. Also stürzen Nadine und ich uns ins Getümmel. Es dauert ein paar Minuten, bis ich eines der Lämmer zu fassen bekomme und mir unter den Arm klemmen kann. Aber dann sitze ich tatsächlich mit einem kleinen verängstigten Bündel auf dem Schoß im Streifenwagen, halte ihm das Funkgerät an die Schnute und zwicke es immer mal leicht, damit es blökt.

Und oh Wunder – es funktioniert! Sobald das erste Blöken aus dem Außenlautsprecher schallt, geht ein Ruck durch die Herde, und vierhundert Schafköpfe starren dieses grün-weiße Monsterschaf mit der lauten Stimme an. Dann setzen sie sich in Bewegung.

Nadine springt auf den Fahrersitz und fährt langsam los in Richtung Feldweg, ich auf dem Beifahrersitz, das blökende Lämmlein im Arm und die Schafe hinterher.

Keine zehn Minuten später ist die Fahrbahn der A1 wieder frei, und die Schafe sind wieder auf ihrer Weide. Den Zaun bessern wir notdürftig mit ein paar Abschleppseilen aus und liefern das Lämmlein bei seiner Mutti ab, die ich zum Glück vorher markiert hatte, indem ich ihr mit Sprühkreide, die eigentlich zum Markieren von Unfallspuren dient, ein grünes X auf das Fell gemalt hatte.

Nachdem wir die Herde dem verlegenen Schäfer übergeben haben, der allerdings tatsächlich den Nerv hat durchzuzählen, ob auch alle Schäflein wieder da sind, steuern Nadine und ich die Wache an. Unter den hämischen Blicken der Kollegen verkrümeln wir uns, ordentlich nach Schafkot müffelnd, sofort in die Umkleide und richten unser Äußeres wieder her. Erst dann können wir von unserem großen Sieg über die gemeine Schafmeute berichten und sind in der Lage, die Lacher auf unsere Kosten lächelnd zu ertragen.

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt
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