Irgendwann kriegen wir sie alle
2006
Wir sitzen in einer Besprechung, und ich starre geistesabwesend aus dem Fenster, während ich versuche, mir die Örtlichkeit vorzustellen, an der unsere nächste Observation stattfinden soll. Meine rechte Hand spielt mit dem Schlüssel des nagelneuen BMW, den uns eine andere Dienststelle für die Observation heute geliehen hat und den ich für Tim und mich ergattert habe.
Wenige Minuten später weiß jeder, wo er sich aufzustellen hat, wie er sich zu verhalten hat und auf wen wir warten werden. Die Stühle werden zurückgeschoben, und jedes Team macht sich auf den Weg zu seinem Auto.
Tim lässt sich auf den Beifahrersitz fallen, und ich frage eigentlich nur der Form halber nach, ob er wirklich nicht fahren will. Ich weiß, dass Tim ungern fährt. Seit vielen Monaten verbringen wir acht Stunden täglich zusammen in einem Auto, und meist sitze ich am Steuer. Ungewöhnlich, da die meisten männlichen Kollegen total scharf aufs Fahren der Streifenwagen sind. Und trotz Emanzipation und vielen toughen Frauen im Dienst ist es leider immer noch so, dass die Männer meist die besseren Fahrer sind. Ja, das muss ausgerechnet ich als Frau zugeben. Aber manche Tatsachen lassen sich einfach nicht leugnen.
Bei Tim und mir ist es eben umgekehrt, und so steige ich auf der Fahrerseite in den BMW ein. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich den Sitz auf mein Zwergenmaß eingestellt habe, dann aber rolle ich hinter den anderen Zivilwagen vom Hof der Wache Eschweiler.
Langsam verteilen wir uns. Jeder nimmt seinen Platz an einer der Ausfahrten an der A4 ein, und dann beginnt das Warten. Tim beobachtet den Verkehr, während ich, wie so häufig, ein Buch lese.
Stunden vergehen, aber der Drogenkurier, den man uns angekündigt hat, scheint eine andere Strecke oder ein anderes Auto genommen zu haben. Die Zeiger der Uhr bewegen sich nur langsam weiter. Mittlerweile spielen wir, während ein Auge immer weiter den Verkehr beobachtet, gelangweilt Karten, haben eine ganze Packung Kekse gegessen, wurden den uniformierten Kollegen als »verdächtiges Fahrzeug« gemeldet und werden vom Geräusch der vorbeifahrenden Autos und vom angestrengten Blick auf ihre Kennzeichen ganz rammdösig.
Endlich die Erlösung: »Gut, Kinder, wir brechen ab, der kommt heute nicht mehr. Morgen auf ein Neues!«
Seufzend will ich den Motor anlassen, als sich die Leitstelle meldet und sehr bestimmt nachfragt, wo wir uns befinden. Tim gibt unseren Standort durch und fragt vorsichtig: »Warum?« Eigentlich werden wir beim zivilen Einsatztrupp mit Einsätzen gänzlich verschont und brauchen uns um Unfälle, Verkehrsbehinderungen und Ähnliches auf der Autobahn nicht zu kümmern. Unsere Observationsaufgaben und die Kontrollen im Hinblick auf Betäubungsmittel, Diebesgut und illegale Einwanderer lasten uns genügend aus.
»In Frechen ist gerade ein Mercedes SLK entwendet worden, Brabus-Tuning, ziemlich teures Teil. Mein Bauchgefühl sagt mir, der fährt direkt über die A4 Richtung Niederlande. Bleibt mal da, wo ihr seid.«
Der Funker gibt die Beschreibung durch, und wir alle haben gelernt, dass das Bauchgefühl eines Kollegen in den meisten Fällen viel wert ist. Also bleiben wir auf unserem Posten, genau wie vier andere Zivilfahrzeuge, die sich eigentlich gerade auf den Heimweg machen wollten.
Es dauert keine zehn Minuten, als die Meldung eines Streifenwagens kommt. »Der gestohlene SLK hat uns gerade passiert. Wir versuchen dranzubleiben, aber der ist verdammt schnell. Kommt in eure Richtung!«
Stille am Funk, dann der nächste Funkspruch: »Haben Sichtkontakt verloren! Fährt mit etwa 240 km/h.«
Mein Blick fällt auf den Tacho unseres BMW. Er geht bis 260. Dann rechne ich im Geiste, wie lange der gestohlene Wagen ungefähr braucht, bis er bei uns ist, und rolle, als ich mit dem Rechnen fertig bin, los. Und da kommt auch schon die Meldung des Zivilwagens an der Ausfahrt vor uns: »Fahrzeug gesichtet!« Ich trete aufs Gas und bin einerseits glücklich, dass ich heute ein Auto mit starkem Motor habe. Andererseits nervt es mich, dass ich das Auto kaum kenne und nicht weiß, wo es seine Grenzen und Schwachstellen hat.
Als der Mercedes in unserem Rückspiegel auftaucht und dann links an uns vorbeizieht, klatscht Tim freudig in die Hände: »Schnapp ihn dir, Janine!«
Ich trete das Gaspedal durch und beschleunige, während Tim die Titelmelodie von »Bad Boys« summt. Wir fliegen dem gestohlenen Fahrzeug hinterher, noch nicht als Polizisten erkennbar.
Im Rückspiegel erkenne ich die beiden Kollegen, die ihn zuerst gesehen haben. Am Rastplatz Aachener Land bemerke ich, dass zwei weitere Zivilfahrzeuge des Einsatztrupps kurz vor dem Mercedes auf die Autobahn rasen. In der nächsten Baustelle sollten wir ihn haben. Dort wird die Strecke zweispurig, und es ist ein Leichtes, die Autobahn kurz dichtzumachen, ihn aus dem Auto zu holen und dann weiterzufahren. Die beiden Fahrzeuge der Kollegen vorne werden auch schon langsamer. Hinter ihnen fährt der Mercedes, dahinter rasen Tim und ich und neben uns ein weiterer Wagen.
In der Baustelle stoppen die vorderen Zivilfahrzeuge wie vorgesehen urplötzlich. Die Kollegen springen aus den Autos, rennen auf den gestohlenen Wagen zu, doch der Fahrer des Mercedes ist abgebrühter als erwartet. Nach einer Schrecksekunde hat er sich offenbar wieder gefangen und einen Ausweg aus der Situation gefunden. Mit durchdrehenden Reifen startet er nach rechts durch und brettert in die Baustellenabsperrung. Die Warnbaken fliegen zur Seite, Staub wird aufgewirbelt, und weg ist er.
Während die Kollegen zu ihren Autos zurückrennen, entscheide ich mich, ihm zu folgen, und rumpele ebenfalls durch die Schlaglöcher und die unebene Fahrbahn der Baustelle, um dann vor den anderen Polizeifahrzeugen, in die die Kollegen gerade wieder reinspringen, auf die Fahrbahn einzubiegen und dem Mercedes zu folgen.
Am Funk ist lautes Fluchen zu hören. Ich konzentriere mich auf die Straße, denn leider sind außer uns auch normale Verkehrsteilnehmer unterwegs. Muttis, die ihren Rückspiegel nur benutzen, um die Brut auf dem Rücksitz zu beobachten. Lkw, deren Fahrer gerade mit Fernsehen oder Kaffeekochen abgelenkt sind. Junge Frauen in Kleinwagen, die mal eben noch den Sitz der Frisur im Spiegelchen kontrollieren. Oder der altbekannte Mann mit Hut, der allein damit voll ausgelastet ist, sich am Lenkrad festzuhalten. Alle sind zu beschäftigt mit allem Möglichen, um den silbernen SLK und unseren roten BMW über-haupt wahrzunehmen, geschweige denn, uns Platz zu machen.
Der Mercedes ist zwar eindeutig besser motorisiert als wir, aber er muss sich immer erst mal eine Lücke im Verkehr suchen, während ich einfach hinter ihm herrasen kann. Tim bastelt, gegen den Fahrtwind ankämpfend, unser Magnetblaulicht aufs Dach, während wir mit mehr als 200 km/h in Richtung der niederländischen Grenze rasen, und gibt der Leitstelle unseren Standort durch.
Die gemächliche Nachfahrt hat sich in eine ausgewachsene Verfolgungsfahrt verwandelt. Der Mercedes schießt über den Seitenstreifen an Lastern vorbei, wechselt rasend schnell die Spur, täuscht an, als wollte er die nächste Abfahrt runter, um dann doch zu beschleunigen. Aber Tim und ich kleben an ihm wie die Kletten.
»Na, so super wie du fährt der aber nicht, wenn der uns mit der Karre noch immer nicht abgehängt hat!« Tim grinst schief zu mir rüber, und seine Fingerknöchel der rechten Hand, mit der er den Türgriff fest umklammert hält, werden weiß.
Ich trete fast das Bodenblech durch und suche mir eine Lücke zwischen zwei Kleintransportern auf den Fahrspuren vor mir. Dabei bricht das Heck leicht aus, doch unser Auto ist gutmütig und lässt sich durch erneutes Gasgeben wieder in die Spur ziehen.
Auf einmal tönt es blechern aus dem Funk: »Tim, wenn du den Wagen zu Schrott fährst, kannst du die nächsten Wochen damit zubringen, unsere Waffen zu reinigen, und ein Abo auf Fahrzeugpflege hast du dann auch.« Unser Chef ist offenbar nicht amüsiert, dass er uns nicht einholt und dass wir überdies alleine mit dem guten Auto an dem gestohlenen Fahrzeug dranhängen.
»Janine fährt!«, antwortet Tim knapp, und ich meine, ein »Gott steh uns bei!« von meinem Vorgesetzten über Funk gehört zu haben, aber da könnte ich mich auch getäuscht haben. Schließlich bin ich immer noch hochkonzentriert damit beschäftigt, den Abstand zwischen mir und dem gestohlenen Wagen zu verringern und dabei möglichst keinen der anderen Fahrer abzudrängen oder zu gefährden.
»Erreichen die Niederlande in fünf Kilometern!«, gibt Tim vorschriftsmäßig durch, und ich stelle mir vor, wie auf unserer Leitstelle die Leitungen glühen, während man den Niederländern unseren bewaffneten Grenzübertritt ankündigt.
Ich weiche einem Kleinwagen aus, der sich entschieden hat, mit ganzen hundert Stundenkilometern direkt vor mir auf den Überholstreifen zu wechseln. Unser Wagen gerät ins Schlingern, und Tim neben mir murmelt ein »Ogottogott!«. Dann habe ich die Karre wieder unter Kontrolle.
An der Grenze erwarten uns zwei niederländische Motorradstreifen. Sobald sie uns sehen, beschleunigen sie und versuchen, mit uns mitzuhalten. Bei gut 210 km/h, die wir inzwischen fahren, ist das allerdings nicht sehr Erfolg versprechend. Die Blaulichter der Niederländer verschwinden langsam in unserem Rückspiegel, und ich habe endlich den Eindruck, dass unser Abstand zu dem Fliehenden kleiner wird.
Tim gibt brav unseren Standort über Funk durch und schönt die gefahrene Geschwindigkeit ein wenig, damit die Leitstelle die Verfolgungsfahrt nicht wegen zu hohen Risikos sofort abbricht. Meine Hände umkrampfen das Lenkrad, und in meinem Gasfuß breitet sich langsam ein ungesundes Kribbeln aus. Aber wir geben nicht auf, wir wollen den Kerl haben!
Die Autobahn ist hier befahrener als in Deutschland, und so wird unser Abstand zu dem Mercedes immer kleiner. Endlich entscheidet er sich falsch und rast an zwei Lkw rechts vorbei, obwohl links genug Platz ist. Ich reiße das Steuer rum, und wir fliegen links an den Lastern vorbei.
Jetzt sind wir mit dem Dieb auf einer Höhe. Tim starrt in das Fahrzeug, und ich höre ihn empört keuchen. »So ein scheiß Milchbubi! Janine, da sitzt ein Kind am Steuer! Der ist höchstens sechzehn!«
Ich ziehe langsam nach rechts und dränge ihn in Richtung Seitenstreifen, immer die Drohung meines Chefs im Ohr: »Wenn ihr den Wagen schrottet, habt ihr Fahrzeugpflegedienst!« Aber mir fällt keine andere Möglichkeit ein, den Kerl zu stoppen, ganz davon abgesehen, dass ein Zusammenstoß mit über zweihundert Sachen jetzt auch nicht ganz ungefährlich wäre.
So rasen wir nebeneinander dahin, der Funk wird immer schlechter, die Blaulichter der niederländischen Kollegen in unserem Rückspiegel immer kleiner. Gerade als mich das Jagdfieber so gepackt hat, dass ich denke: Scheiß drauf, ich brems ihn jetzt einfach aus!, knackt es laut im Funkgerät.
»Verfolgung abbrechen!«, schallt es aus dem Lautsprecher, genau in dem Moment, als es mir gelungen ist, mich komplett vor den anderen Wagen zu setzen.
Tim wirft mir einen Blick zu und flüstert fast: »Ramm ihn!« Aber ich sehe keine Möglichkeit, den SLK so zu treffen, dass er kein anderes Fahrzeug gefährdet oder gar wir selbst uns ins Nirwana abschießen.
Betont langsam spricht Tim ins Funkgerät: »Wir können Sie nicht aufnehmen, wiederholen Sie!«
»Abbrechen. Sofort abbrechen!«
»Haben Fahrzeug überholt. Flüchtiges Fahrzeug kann ausgebremst werden«, gibt Tim den Sachstand durch.
Meine Hände werden feucht, und ich sehe den Fahrer des Mercedes in unserem Rückspiegel, während wir im Zickzackkurs über die Autobahn dahinrasen. Versucht er, rechts an uns vorbeizuziehen, schneide ich ihm den Weg ab, versucht er es links, tue ich es ihm gleich.
»Abbrechen. Verfolgung sofort abbrechen!«
Als hätte er den Funkspruch mitbekommen, reckt er grinsend den Mittelfinger in unsere Richtung, und während sich unser Auto eindeutig am Geschwindigkeitslimit befindet, schert er urplötzlich erneut nach rechts aus, drückt noch mal aufs Gas und versucht an uns vorbeizukommen.
Aus unserem Funkgerät schallt wieder die Durchsage: »Abbrechen! Die Niederländer übernehmen! Ihr sollt sofort abbrechen! Habt ihr verstanden?« Die Stimme am Funk lässt keinen Widerspruch zu.
Wütend knallt Tim das Funkgerät gegen das Armaturenbrett, und ich nehme zögerlich den Fuß vom Gas. Der Mercedes zieht an uns vorbei und verschwindet rasch vor uns im Verkehr, die niederländischen Motorradpolizisten fliegen an uns vorbei und heben grüßend den Arm. Dann sind auch sie weg.
»Verstanden, haben abgebrochen«, gibt Tim seufzend an die Leitstelle durch. »Kommen zurück in die BRD.« Dann wartet er einen Moment, bevor er wütend erneut ins Funkgerät spricht: »Und wenn die Niederländer den noch kriegen, dann geb ich ’ne Runde für jeden im Dienst befindlichen Kollegen aus! Verdammt, wisst ihr, wie nah wir an dem dran waren?«
Aus den Funklautsprechern kommt nur ein leises »Ja!«.
Tim verschränkt die Arme vor der Brust und schweigt den Rest der Fahrt, bis wir kleinlaut und immer noch wütend an der Wache ankommen. Die Kollegen stehen bereits im Hof, unser Vorgesetzter rennt erst mal drei Runden um den BMW, bis er sich überzeugt hat, dass das heilige Blech nichts abbekommen hat.
Dann sagt er halbherzig grinsend: »Man muss auch verlieren können. Irgendwann kriegen wir sie doch alle!«
»Aber nur, wenn man verlieren MUSS!! Fünf Minuten länger, und wir hätten ihn bremsen können! Aber so, das ist einfach nicht fair!«, schnappe ich zurück und kann mir so grade noch ein kindisches Aufstampfen mit dem Fuß verkneifen. Dann marschiere ich ins Wachgebäude, um mir einen Schokoriegel zu holen und mein Gemüt zu beruhigen.
Tim muss natürlich keine Runde ausgeben, denn der Täter hat sich tatsächlich aus dem Staub machen können. Ich träume noch ein paar Tage davon, wie ich mit Tim auf dem Beifahrersitz durch die ganzen Niederlande rase und den Autodieb schließlich doch noch mitten in Amsterdam an einer Gracht stelle. Das Gesicht des jungen Burschen am Steuer und sein gereckter Mittelfinger haben sich in mein Hirn eingebrannt. Nie werde ich ihn vergessen, und immer werde ich hoffen, ihn doch noch bei einer anderen Missetat zu erwischen. Doch die Wahrheit ist: Er und der gestohlene SLK sind bis heute nicht mehr aufgetaucht, leider.
So ist das nun mal: Hin und wieder geht uns einer durch die Lappen. Nachdem ich mein Adrenalin wieder unter Kontrolle hatte, war ich durchaus froh, dass ich ihn eben nicht gerammt oder ausgebremst hatte. Beides hätte bei der hohen Geschwindigkeit vermutlich einen schweren Unfall zur Folge gehabt. So habe ich zwar verloren, aber ich muss nicht damit leben, vielleicht einen jungen Autodieb bei einer Verfolgungsfahrt ins Jenseits befördert zu haben.
Genauso, wie dieser kleine Kriminelle uns entwischte, gehen uns allerdings hin und wieder auch rein zufällig die richtig großen Fische ins Netz.