Sechs Wochen in der Dunkelkammer
2009
»Janine Binder!« Freundlich strecke ich den vier Beamten des KK12, denen mich die Leiterin gerade vorgestellt hat, die Hand entgegen. »Ich soll euch hier die nächsten Wochen unter die Arme greifen.«
Freundliches Nicken, die vier stellen sich ebenfalls vor. »Na, dann komm mal her. Hast ja scheinbar erst mal die Arschkarte gezogen. Spannend ist das hier bei uns weniger.«
»Hier bei uns« ist das Kriminalkommissariat 12, kurz: KK12 in Köln, ein Fachkommissariat, das sich mit Sexualdelikten und Kinderpornografie beschäftigt. Ich habe es mir als Praktikumsplatz während meines Studiums ausgesucht, um wieder mal meine Belastungsgrenze auszuloten.
«Die ersten sechs Wochen des Praktikums wirst du wohl hauptsächlich mit der Sichtung von sichergestellten Speichermedien zubringen«, erklärt mir Tom, einer meiner neuen Kollegen.
Ich lächle etwas gequält. So richtig kann ich mir darunter nichts vorstellen – noch nicht.
Die Jungs zeigen mir mein neues Büro. Es ist stockdunkel, weil die Rollos vor den Fenstern heruntergelassen sind. Auf dem Schreibtisch sehe ich drei große Computerbildschirme, an der Wand gegenüber stehen zwei Fernseher. Hinter dem Schreibtisch türmen sich Kartons und Schachteln voller CDs, DVDs, Videokassetten, USB-Sticks, Festplatten und anderem Computerschrott.
»Na, dann mach’s dir mal gemütlich«, meint Tom, »ich erklär dir kurz unser Programm. Im Grunde ist das nicht schwer, ähm … Na ja, wir werden sehen. Hast du was gegessen?«
Ich frühstücke nie, also schüttle ich den Kopf.
»Iss erst mal was«, rät mir Tom. »Ich will nicht, dass du gleich beim ersten Film aus den Latschen kippst!«
Lässig winke ich ab und richte meinen Blick auf die Computerbildschirme, die langsam hochfahren. Auf jedem zeigen sich andere, mir fremde Programme. »Geht schon, ich bin da hart im Nehmen.« Ich schicke ein unsicheres Lächeln durch den Raum und setze mich.
Die Programme sind tatsächlich simpel zu bedienen, und so verstehe ich rasch, was ich zu tun habe: Bilder durchsehen, verwerfliche Kinderfotos und Filme markieren und auf einem besonderen Ort zwischenspeichern.
Der Kollege klickt sich fast teilnahmslos durch die Fotos. Viel nackte Haut, Lack und Leder, Pornobilder jeglicher Variation sind auf den Bildschirmen zu sehen. Das eine oder andere entlockt mir ein schiefes Grinsen, hier und da reiße ich, die ich durchaus nicht prüde bin, dann doch schockiert die Augen auf.
»Na ja, es sind halt auch normale Sachen dabei, die nicht verboten sind«, erklärt Tom und klickt immer weiter. »Da klickst du dich einfach durch. Man gewöhnt sich dran. Du glaubst gar nicht, was für kranken Kram wir auf den Rechnern finden. Aber solange die Leute alt genug sind, ist das für uns uninteressant. Wenn du was fürs Urheberrecht findest, also gebrannte Filme oder so, markierst du sie ebenfalls, die gehen dann in ein anderes Kommissariat.«
Ich nicke mechanisch, ohne den Blick von den Bildschirmen zu lösen.
»Und noch was: Mach Pause, sooft du willst. Wir wissen, wie beschissen es ist, hier im Dunkeln zu sitzen, mit dem ganzen Dreck da.« Sein Arm wischt durch die Luft und landet auf der Maus. »Ah, das hier ist was …!«
Zwei Mausklicks, und auf dem größten Bildschirm flackert ein Bild auf. Ein Mann hält ein etwa vierjähriges schreiendes Mädchen fest, während ein Zweiter sich an ihm vergeht. Ich schlucke.
»Das brauchst du dir dann auch gar nicht genau anzusehen. Einfach markieren …« Tom tippt Befehle in die Tastatur, während ich wie gebannt und angeekelt auf den Bildschirm starre. Das Kind schreit offenbar wie am Spieß, doch der Ton des PCs ist ausgeschaltet.
»Wir haben hier alle den Ton aus. Das kann man sich nicht geben, ist so schon schlimm genug.«
Ich nicke stumm und stiere weiter auf den Bildschirm. Eine Messerklinge blitzt auf, senkt sich in den Hals des Kindes, Blut spritzt durch den Raum und auf das Objektiv der Kamera.
Mir wird schlagartig heiß, ich merke, wie mir der Magensaft die Speiseröhre hochsteigt. »Toilette?«, presse ich atemlos hervor.
»Auf dem Gang, zwei Türen weiter.«
»Danke!« Ich renne los, werfe die Klotür hinter mir zu, falle auf die Knie und kotze in die Schüssel.
Fünf Minuten später lasse ich mir kaltes Wasser über die Handgelenke laufen und schaue in den Spiegel. »Was für Schweine schauen sich so einen Dreck an?«
Ziemlich blass taumele ich zurück in mein Büro. Tom schaut mich betreten an. »Sorry, wir stumpfen hier ein bisschen ab. Ich hätte dich warnen sollen.«
Ich hebe abwehrend die Hand. »Schon gut.«
Er grinst schief. »Ich kann dich aber beruhigen. Der Film, den du dir da grad angesehen hast, ist ein Fake. Ein gut gemachter, aber ein Fake.«
Er spult zurück und zeigt mir die Stellen, an denen ich erkennen kann, dass dem Kind tatsächlich nicht die Kehle durchgeschnitten wurde. Zu erkennen ist das daran, dass das Blut aus der falschen Richtung spritzt. »Ändert aber nichts. Ist genauso verboten und widerlich. Kommst du hier parat, oder musst du noch was wissen?«
Ich zucke mit den Achseln. »Wird schon schiefgehen. Wo habt ihr den ganzen Kram denn her?«
»Wohnungsdurchsuchungen, aufmerksame Ehefrauen, die seltsames Zeug auf den Rechnern ihrer Männer finden, oder Tipps aus dem Internet. Manchmal finden auch die Kollegen zufällig was, wenn sie eigentlich nach was ganz anderem suchen.«
Ich atme tief durch, lasse mich auf den Stuhl fallen und betrachte die unermessliche Datenmenge, die da an der Wand aufgestapelt ist. »Ist das alles, was ihr habt?«
Tom lacht trocken. »Wovon träumst du nachts? Komm mal mit!«
Zögernd folge ich ihm über den Gang in ein weiteres Büro. Ein etwa fünfzehn Quadratmeter großer Raum, vom Boden bis zur Decke voll mit Speichermedien, Computern, Laptops, Kisten mit CDs und DVDs – alles, was das Hackerherz begehrt.
»Wenn du deinen Berg fertig hast, kannst du hier weitermachen«, meint Tom und grinst. »Aber ich bezweifle, dass du so weit kommst. Und wir kriegen jeden Tag neues Zeug rein.«
Wie auf Bestellung kommt uns auf dem Gang eine Kollegin mit einem Handkarren entgegen. Zwei PCs und drei Laptops plus mehrere große Festplatten stapeln sich darauf. »Hier kommt schon Nachschub!« Freundlich hält sie mir die Hand hin. »Ich bin Bianca! Du bist also unsere neue Sklavin für die nächsten Wochen? Viel Spaß!« Mit diesen aufmunternden Worten verschwindet sie hinter den Mauern aus Kisten.
Langsam gehe ich zurück in meine Dunkelkammer, wie ich das Büro im Stillen getauft habe. Erst jetzt fällt mir die Wärme auf, die von den vielen elektrischen Geräten ausgeht. Ich knöpfe meine Strickjacke auf und lasse mich auf den Stuhl fallen.
Zwei Stunden später klopft es. »Alles in Ordnung bei dir?« Es ist Bianca.
Wie aus einem Fiebertraum erwachend, hebe ich den Kopf, sehe, wie sich meine roten Wangen in einem der ausgeschalteten Fernseher spiegeln, und nicke. »Ja, alles gut.«
»Mach mal ’ne Pause!« Sie hält mir eine Tasse Tee und ein paar Kekse hin. Widerstrebend reiße ich mich von dem Bildschirm los. Ich habe in den zwei Stunden ganz normale Zeichentrickfilme, Erotikfilme, Softpornos und Hardcore-Pornos im Schnelldurchlauf durchgesehen. Kinderpornografie habe ich keine gefunden, dafür sind meine Kenntnisse über das, was manche Menschen offenbar erregend finden, um einige seltsame Fäkalienspielchen erweitert worden.
»Schaust du nur auf einem Bildschirm?«
Ich sehe sie irritiert an. »Ja!«
Bianca geht zum Fernseher, betätigt ein paar Tasten und zeigt mir, wie ich gleichzeitig mehrere Filme durchsehen kann, um meine Geschwindigkeit ein wenig zu erhöhen.
Konzentriert springt mein Blick von rechts nach links.
»Du musst halt nur stoppen, wenn du was Strafbares entdeckst!«, meint Bianca.
Ich schlürfe meinen Tee und nicke stumm.
Zwei Tage später schaue ich bereits mehrere Folgen »Sex and the City« parallel auf drei Bildschirmen im Schnelldurchlauf. Es kann nämlich durchaus sein, dass nach einem normalen Serienvorspann plötzlich keineswegs die Serie beginnt, sondern dass dort kleine verbotene Szenen mit Minderjährigen zwischengeschnitten sind. Es reicht also nicht aus, sich den Anfang einer Folge anzusehen, nein, man muss den gesamten Film durchschauen. Auf einem vierten Bildschirm klicke ich mich parallel durch eine Sammlung von Nacktbildern eindeutig Minderjähriger.
Meine Sinne werden so rasch geschult, dass ich bald kein Problem mehr damit habe, mehrere Dinge auf einmal im Auge zu behalten. Trotzdem bin ich immer wieder entsetzt, wenn zwischen zwei Folgen »Star Trek« plötzlich kleine nackte Mädchen über den Bildschirm flimmern.
Jetzt verstehe ich, warum Tom meinte, ich solle so viele Pausen machen, wie ich will. Denn was ich da sehe, ekelt mich zunehmend an. Ich bekomme zwar nicht die prophezeiten Albträume, und auch mein eigenes Sexualleben gerät nicht aus der Bahn, wie mir der eine oder andere Kollege angekündigt hat. Aber ich werde traurig. In meiner kleinen Dunkelkammer, allein mit so viel Dreck auf CDs und DVDs, frage ich mich, wie man sich so etwas tatsächlich zur Befriedigung ansehen kann. Immer wieder stapfe ich über den Flur, strecke den Kopf in die anderen Büros und rede mit den Kollegen und Kolleginnen, um mich abzulenken, um wieder den richtigen Blick für die Wirklichkeit zu bekommen.
Das Reden brauche ich, damit sich meine Normalität nicht verschiebt, damit mein Bezug zur Realität nicht verloren geht und damit mein Hass auf die Menschen, die Kindern so etwas antun, kontrollierbar bleibt. Glücklicherweise hocke ich nicht jeden Tag der sechs Praktikumswochen in meiner Dunkelkammer, sondern werde von den Kollegen auch immer mal wieder zu Wohnungsdurchsuchungen mitgenommen, »damit du die Sonne noch mal siehst«, wie einer lachend meint.
Seit dieser Zeit weiß ich, welchen psychischen Belastungen die Kollegen im KK12 ausgesetzt sind, und habe große Hochachtung vor ihnen. Trotz oder gerade wegen der entsetzlichen Dinge, die sie auf den beschlagnahmten Rechnern und DVDs finden und ansehen müssen, herrscht auf der Dienststelle ein wunderbarer Umgang miteinander, ein Aufeinanderaufpassen und eine immer freundliche Stimmung. Und trotz meiner Dunkelkammer habe ich mich dort immer gut aufgehoben und versorgt gefühlt. Nach meinem ersten Sturm aufs Klo musste ich glücklicherweise auch nie mehr über den Gang flitzen. Es mag schrecklich klingen, aber man gewöhnt sich tatsächlich an alles, auch daran, das Leid unzähliger Kinder mit anzusehen.
Dieses Praktikum hat mir vor Augen geführt, wie groß die Zahl solch schrecklicher Taten tatsächlich ist, und mir ist klar geworden, dass es nur durch die Mithilfe aller – durch aufmerksame User der Internetgemeinde und durch hilfreiche Bürger, die auf Fahndungsaufrufe reagieren – möglich ist, solche Straftaten aufzudecken und zu ahnden. Denn es ist keineswegs ein Kavaliersdelikt, sich solche Filmchen anzusehen, weil auch hier die Nachfrage das Angebot steuert. Wenn es niemanden gibt, der sich so etwas herunterlädt, wird auch die Produktion der Filme weniger lukrativ und, so rede ich es mir zumindest ein, die Welt ein wenig sicherer.