Verreck, du alter Sack!

2011

 

Eines Morgens sind meine Kollegin Sonia und ich gemeinsam auf Hühnerstreife – ein Tag, an dem ich feststellen werde, dass es auch in einer scheinbar heilen Vorortgesellschaft Abgründe gibt, die so tief sind, dass einem vom Blick hinein ganz schwindelig wird.

Mittlerweile habe ich mein Studium erfolgreich hinter mich gebracht, dürfte, wenn ich wollte, den Titel einer diplomierten Verwaltungswirtin führen und trage einen silbern glänzenden Stern auf jeder Schulterklappe. Auf meinen Wunsch hin werde ich wieder nach Köln versetzt, meine Heimatdienststelle ist nun die Wache Porz im Kölner Südosten.

Porz hat ein wenig den Charme einer Vorstadt, birgt jedoch Abwechslung durch die Nähe zum Flughafen und durch die ländlichen Stadtteile wie Langel und Libur und die Hochhaussiedlungen wie Finkenberg.

An diesem schönen Morgen im Dezember rollen Sonia und ich also im Streifenwagen durch die Straßen von Porz. Ich lümmele auf dem Beifahrersitz und genieße die Strahlen der Wintersonne, während die Kollegin mich durch Straßen und Gässchen chauffiert. Plötzlich erwacht knatternd unser Funkgerät zum Leben:

»…straße, Streitigkeiten zwischen Nachbarn. Die Herrschaften scheinen jetzt handgreiflich zu werden. Fahrt mal ruhig was schneller!«

Leichter gesagt als getan, wir sind ja neu hier. Ratlos schauen wir uns an. Der Straßennamen sagt uns gar nichts. Während Sonia schon mal in die grobe Richtung losbraust, in der wir den Einsatzort vermuten, tippe ich mit fliegenden Fingern auf meinem privaten Navigationsgerät herum, das ich zumindest jetzt, in der Anfangszeit im neuen Wachbereich, für Notfälle immer dabeihabe.

Während wir blau blinkend und ordentlich laut durch die Straßen rasen, bastele ich das Gerät an die Windschutzscheibe. Wir haben Glück: Unsere Vermutung war richtig, die Richtung stimmt.

Dummerweise ist so ein Navi auf normale Geschwindigkeiten eingestellt, sodass die Ansagen, wenn man mit Blaulicht und Martinshorn durch die Ortschaft rast, meist ein wenig verspätet kommen. Also übernehme ich die Ansagen: »Rechts, nächste links … 200 Meter geradeaus«, mime ich den Navigator, und wir halten ohne Zeitverzögerung bei der angegebenen Adresse.

Zwei riesige weiße Villen stehen sich gegenüber. Bereits auf dem Weg dorthin waren mir die teuren Autos vor den großen Häusern aufgefallen, die gepflegten Vorgärten und die ordentlich geweißten Gartenmauern. Mir ist rasch klar, dass wir uns hier definitiv nicht an einem sozialen Brennpunkt befinden.

»Ich dachte immer, in solchen Vierteln wäre die Welt noch in Ordnung«, murmele ich beim Aussteigen und werfe die Tür des Streifenwagens kräftig ins Schloss, um die beiden Streitparteien, die sich über eine mit schmiedeeisernen Zaunelementen geschmückte Mauer hinweg lautstark anbrüllen, auf uns aufmerksam zu machen.

Leider erzielt das nicht den gewünschten Effekt. Auf der rechten Seite des Zauns steht ein älterer Herr, dessen Gesicht und Glatze schon eine ungesunde rote Farbe angenommen haben. Auf der anderen Seite sehen wir zwei etwa neunzehnjährige Burschen, die zwar lässiger wirken, an Lautstärke dem Herrn jedoch in nichts nachstehen. Auf der Terrasse des rechten Hauses hat sich offenbar die Gattin des rotköpfigen Schreihalses postiert und brüllt ebenfalls aus vollem Leib Beschimpfungen, deren Unflätigkeit nicht wirklich zu der schicken weißen Villa passt.

»Polizei! Beruhigen Sie sich doch erst mal!«, mischt sich Sonia ein und tritt durch das Gartentürchen auf das Grundstück des älteren Herrn.

»Wo liegt denn das Problem?« Freundlich lächelnd geht sie auf die Streithähne zu, während ich mich zögerlich nähere und keine der vier Personen aus den Augen lasse. Mein Bauchgefühl meldet sich ganz rapide und heftig, und eigentlich hat das noch nie falschgelegen: Hier passiert gleich was.

Mein ganzer Körper ist angespannt, während ich Sonia zuhöre, die zu klären versucht, worum es überhaupt geht. Nervös fliegt mein Blick von rechts nach links und wieder nach rechts. Gerade will ich mich entspannen, weil ich außer den erhitzten Gemütern keine offensichtliche Gefahr erkenne, als die Diskussion wieder hochkocht.

»Der alte Knacker hat uns Nägel unter die Reifen gelegt!«, brüllt einer der beiden jungen Kerle.

»Vollkommen zu Recht!«, schreit der alte Herr zurück. »Immer rasen diese Drecksneureichen mit ihren Scheißautos wie die Asozialen durch die Straße. Da muss man doch Maßnahmen ergreifen! Wir sind hier ein anständiges …«

In dem Moment passiert, was mein Bauchgefühl angekündigt hat: Der Mann greift sich noch im Sprechen an die Brust, sein Gesicht verfärbt sich schlagartig von rot zu weiß, und er sackt in die Knie. Augenblicklich mache ich einen Satz nach vorn und erwische ihn gerade noch am Arm, sodass ich seinen Fall ein wenig abbremsen kann, bevor er vor mir unsanft auf der gepflasterten Auffahrt hinschlägt.

Seine Augen sind starr in den Himmel gerichtet, die Haut ist eiskalt, und auf der Stirn bilden sich kleine Schweißperlen.

»Scheiße!«, entfährt es mir, während ich schon dabei bin, ihn in die stabile Seitenlage zu bringen und seine Atmung und den Puls zu überwachen. Beides ist noch vorhanden, zwar schwach, aber eindeutig da. »Kommen Sie schon, stellen Sie sich nicht so an!«, rede ich hektisch leise auf ihn ein, während ich mir die Lederjacke vom Körper zerre, um mir Bewegungsfreiheit zu verschaffen.

Sonia steht vor mir und sieht mich entsetzt an.

»Rettungswagen!«, gebe ich ihr den Anstoß, den sie braucht, damit sie wieder funktioniert. Sie greift sofort zum Funkgerät und fordert Hilfe an.

Ich fingere das Gebiss aus dem Mund des Mannes, ignoriere das eklige, saugende Geräusch, als es sich vom Gaumen löst, und werfe es achtlos neben mir ins Gras. Die Frau auf der Terrasse ist in der Zwischenzeit von Beschimpfungen zu hysterischen, unartikulierten Schreien übergegangen, aber für sie habe ich jetzt keine Zeit. Jetzt geht es um ihren Mann.

Als sich unter ihm eine Pfütze bildet und ich merke, dass ich in seinem Urin knie, wird mir bewusst, wie ernst die Situation ist.

Den beiden Jungs hinterm Zaun ist das wohl noch nicht so klar, denn sie haben einen kleinen Sprechgesang begonnen: »Verreck doch, du alter Sack!«, tönt es mir entgegen, als ich keinen Puls mehr fühle und der Mann röchelnd auch die Atmung einstellt.

Ich zögere einen Moment, wühle in meinen Hosentaschen nach meinem Hygieneset, finde es nicht, brülle ein ziemlich lautes »SCHNAUZE HALTEN!« in Richtung der beiden Kerle, was zwar nicht wirklich niveauvoll ist, aber in der Situation das Einzige, was mir auf die Schnelle einfällt. Dann schlucke ich den Kloß in meinem Hals runter, rolle den schlaffen, schweren Körper vor mir aus der stabilen Seitenlage auf den Rücken und beginne mit der Herzmassage. Kurz zögere ich, betrachte die faltigen, schlaffen Lippen des Mannes und die unreine Haut an der Nase. Dann beginne ich, ohne groß weiter nachzudenken, mit der Beatmung.

Sein Brustkorb hebt sich. »Ich hab so was noch nie gemacht! Ich hab so was noch nie gemacht!«, stammelt Sonia neben mir kaum hörbar vor sich hin.

Mir sind Wiederbelebungsmaßnahmen aus meiner Zeit auf der Autobahn hingegen keineswegs fremd. »Keine Sorge, ich schon. Das kriegen wir hin. Alles gut. Ist der Rettungswagen unterwegs?«, frage ich sie keuchend. Bemüht, ihr die ruhige und erfahrene Beamtin vorzuspielen, lächele ich sie zuversichtlich an, während ich mit beiden Armen den Brustkorb des Mannes bearbeite und merke, wie eine seiner Rippen unter meinen Bemühungen knackend nachgibt.

»Ja. Notarzt ist auch unterwegs!«

»Gut!«, ächze ich und beuge mich wieder vor.

»IHR HABT MEINEN MANN GETÖTET!«, kreischt die alte Frau auf der Terrasse. Aus dem Augenwinkel sehe ich sie toben und schreien.

»VERRECK, DU ALTER SACK!«, ertönt es wieder hinter dem Zaun.

Ich wische mir, während Sonia die Herzmassage übernimmt, den Schweiß von der Stirn. »RUHE, SONST SETZT ES WAS!«, brülle ich in Richtung der beiden Halbstarken, die zwar ihren Sprechgesang nicht einstellen, aber jetzt immerhin die Lautstärke ein wenig herunterfahren.

Mittlerweile öffnen sich die Fenster der Häuser gegenüber. Während Sonia und ich abwechselnd um das Leben des alten Mannes kämpfen, erscheinen die Köpfe der Nachbarn in den Fenstern und sehen uns interessiert zu. Niemand kommt zu uns, niemand hilft, niemand sorgt für Ruhe. All die feinen Leute in ihren weiß getünchten Häusern gaffen, während uns langsam, aber sicher die Kräfte ausgehen. Pumpen, atmen, pumpen, atmen. Nie hätte ich gedacht, dass Wiederbelebungsmaßnahmen so schnell so anstrengend sein können.

Als ich die Pumperei wieder übernehme, steht Sonia unvermittelt auf und rennt auf die Jungs hinterm Zaun zu. »Wenn ihr nicht sofort die Klappe haltet, dann sorg ich eigenhändig dafür, dass ihr gleich neben dem Kerl liegt. Hier stirbt ein Mensch, ihr herzlose Brut!« Sie schüttelt ihre Faust in die Richtung des Zauns, und plötzlich ist es still. Dann rennt sie zu der Dame auf der Terrasse, und ich höre ihre Stimme erneut, diesmal deutlich sanfter: »RUHE! Sie setzen sich jetzt da hin, und dann will ich kein Wort mehr hören. Wir helfen Ihrem Mann ja, helfen Sie uns, indem Sie uns nicht ablenken!«

Augenblicklich herrscht auch dort Ruhe, nur noch ein leises Schniefen ist zu hören. »Hat Ihr Mann Medikamente fürs Herz oder ein Spray oder so was?«, höre ich Sonia.

Kluge Frage, schießt es mir durch den Kopf, während ich wieder meinen Atem in die Lunge des Mannes puste und mit einem Finger überprüfe, ob sein Puls zurückgekehrt ist.

»Nein«, höre ich die leise Antwort der Dame. Dann ist Sonia wieder bei mir, übernimmt wortlos die Herzmassage, während ich Atem hole, ihm anschließend wieder Luft in die Nase blase und seinen Mund dabei kräftig zudrücke.

»Wir schaffen das, Sie sterben uns nicht weg! Kommen Sie schon, wir sind bei Ihnen!«, spreche ich zwischen den Atemzügen mit ihm und bin so auf meine Arbeit konzentriert, dass ich die Sanitäter und den Notarzt erst wahrnehme, als sie mich zur Seite schieben und die Reanimation übernehmen.

»Wie lange schon?«, fragt der Notarzt knapp. Ich sehe auf die Uhr und bin mir sicher, dass wir mindestens eine halbe Stunde an ihm gearbeitet haben. »Dreizehn Minuten!«, antworte ich schließlich verwundert.

»Vorerkrankungen?«

»Keine Ahnung, er ist während eines Streits einfach zusammengebrochen!« Erschöpft wische ich mir die Haare aus dem Gesicht.

Der Notarzt nickt, leuchtet ihm in die Augen, gibt die Anweisung weiterzumachen und scheucht uns weg.

Sonia und ich gehen zu der alten Dame, die jetzt wimmernd auf ihrem Terrassenstuhl sitzt.

»MÖRDER!«, zischt sie in Richtung der Gartenmauer, und ihr Blick ist so hasserfüllt, dass ich meine Schritte automatisch verlangsame.

»Frau Schraiber« – ich habe das Namensschild an der Türklingel entziffert –, »was genau ist hier überhaupt vorgefallen? Sollen wir nicht reingehen? Ich bin mir sicher, der Notarzt kümmert sich gut um Ihren Mann!«

Ich würde sie gern weglotsen, damit sie nicht weiter mit ansehen muss, wie an ihrem Mann gearbeitet wird. Wieder trifft mich ihr hasserfüllter Blick. »Das sind MÖRDER!« Dann werden ihre Augen trüb, und sie schaut traurig in die Ferne. »Mein Werner war ein guter Mann! Das mit den Nägeln auf der Straße war doch nur, weil die Jungens hier immer so rasen, und unser Kater ist doch vor ein paar Wochen von den Rowdys überfahren worden!« Sie bricht in Tränen aus.

»Ich mach das schon«, sagt Sonia, »kümmere du dich um die Brut nebenan. Die nagele ich sonst aus Versehen an die Wand!«

Meine Kollegin drückt sich an mir vorbei, kniet neben der Dame nieder und streichelt ihre Hand. »Haben Sie jemanden, den wir anrufen können, damit er zu Ihnen kommt?«

»Meinen Sohn!« Ihre Stimme ist jetzt leise und kraftlos. Nichts erinnert mehr an die keifende Furie, die eben noch auf der Terrasse herumtobte.

Ich drehe mich um und springe mit Schwung über den Zaun in den Nachbargarten. Dabei berühren meine Knie den feuchten Stoff an meiner Uniformhose. Kurz steigt Ekel in mir auf, dann schiebe ich den Gedanken weg. Umziehen kann ich mich später auf der Wache. Jetzt sind erst mal die Jungs dran.

Lachend stehen sie auf der weiß gekiesten Auffahrt des Hauses. »Na, ist er endlich verreckt?« Sie stoßen sich an und kichern.

Meine Hände zucken und ballen sich zu Fäusten. Noch nie war meine Lust, jemandem so richtig ins Gesicht zu schlagen, so groß wie in diesem Moment. Ich muss alle Willensstärke aufbieten, die Fäuste in den Taschen meiner braunen Dienstjeans zu versenken und mich zusammenzunehmen.

»Jetzt reißt euch mal am Riemen, und erinnert euch an eure Kinderstube. Wie führt ihr euch eigentlich hier auf? So was Erbärmliches wie euch hab ich ja selbst im asozialsten Chorweiler noch nicht erlebt! Da drüben stirbt ein Mensch, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als alberne Gesänge von euch zu geben. Ihr widert mich an!«

Endlich scheint ihnen aufgegangen zu sein, welches Bild sie abgeben. Betreten schauen sie zu Boden, und ich will gerade, zufrieden mit der Wirkung meiner Ansprache, nach ihren Personalien fragen, als einer den Kopf hebt und in Richtung des Notarztes schreit: »LASS IHN VERRECKEN, DIE SAU HAT’S VERDIENT

Mein Arm schießt vor und drückt den Burschen gegen den Zaun. Er ist zu perplex, um sich zu wehren, und schaut mich nur verblüfft an.

»RUHE JETZT!«, zische ich laut und vernehmlich. »Noch ein Wort, und wir klären eure Rolle bei diesem Vorfall auf dem Präsidium und nicht hier!« Meine Stimme zittert vor unterdrückter Wut, während ich ihn betont langsam loslasse und meinen Notizblock zücke. »Ausweise raus, und zwar zackig!«

»Das wird Ihnen noch leidtun. Mein Vater ist Anwalt!«, meint einer der beiden. Ich sehe ihn angeekelt an.

»Glaub mir, dem Gespräch mit deinem Papa sehe ich mit Freuden entgegen. Ausweis raus!«

Zögerlich wühlen beide in ihren Taschen und geben mir ihre Personalausweise. In diesem Moment öffnet sich das automatische Gartentor, ein großer silberner Geländewagen fährt vor und hält direkt neben uns.

»Was geht hier vor?«, fragt der gut aussehende braun gebrannte Mann mittleren Alters, dessen Kleidung bereits ausdrückt, dass er vermutlich in einem Monat mehr an Steuern zahlt, als ich verdiene.

Kurz und knapp schildere ich dem Herrn Papa die Vorfälle, erkläre, dass ich einen Bericht dazu schreiben werde, notiere die Personalien der Jugendlichen und will mich gerade abwenden, um ihm bei seiner Standpauke nicht im Weg zu sein.

Doch statt mit seinen beiden Söhnen spricht er mit mir: »Sind wir den Nörgelkopp also endlich los. Da wird die ganze Straße sich aber freuen, dass der alte Sack endlich das Zeitliche segnet. Sie glauben ja gar nicht, wie der uns alle tyrannisiert hat. Wegen der Nägel auf der Einfahrt würde ich übrigens gerne noch Anzeige gegen ihn und seine minderbemittelte Frau erstatten. Und jetzt verlassen SIE bitte mein Grundstück, Frau WACHTMEISTERIN

Jetzt entgleisen mir doch die Gesichtszüge. »Kommissarin«, korrigiere ich ihn automatisch. »Ihre Anzeige habe ich so zur Kenntnis genommen und werde die nötigen Dinge veranlassen. Da drüben haben meine Kollegin und ich und jetzt der Notarzt um das Leben eines Menschen gekämpft. Ihre Einstellung ekelt mich an, und mit Freude verlasse ich Ihr Grundstück. Sehr ärgerlich, dass man sich gute Manieren mit Geld nicht kaufen kann!«

»Ihre Dienstnummer hätte ich dann bitte auch gerne noch!«, ruft er mir hinterher, und ich spare mir jede Erklärung, dass es so etwas wie Dienstnummern bei der Polizei nicht gibt und dass ich auch nicht weiß, was er unter einer Dienstnummer versteht.

»Ich bin ein Mensch, ich habe keine Nummer, sondern einen Namen!« Mit den Worten werfe ich ihm meine Visitenkarte vor die Füße und drehe mich fassungslos auf dem Absatz um. Diesmal nehme ich den Weg durchs Gartentor und komme beim Notarzt und den Sanitätern an, als diese gerade ihre Arbeit einstellen.

Der Arzt schüttelt den Kopf. »Nichts zu machen!«

Die Sanis breiten ein Tuch über den Leichnam, und ich greife zum Handy und verständige die Kripo.

»Braucht ihr einen Notfallseelsorger für die Zeugen?«, fragt mich die Beamtin am anderen Ende.

Erst schüttele ich den Kopf, dann wird mir bewusst, dass sie mich ja nicht sehen kann. »Nein, ich bezweifele, dass hier auch nur ein Anwesender im Besitz einer Seele ist!«

»Was? Ich hab dich nicht verstanden!«, kommt es aus dem Handy.

Mein Blick fällt auf die alte Frau, die wie ein Häufchen Elend auf der Terrasse sitzt. »Ja, doch, schick uns mal einen Seelsorger mit, zur Not unterhalte ich mich ein paar Minuten mit ihm.«

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, ja. Mich kotzt die Menschheit nur grad kolossal an.«

»Den Punkt erreichen wir alle irgendwann. Kopf hoch, die Kollegen sind gleich bei euch!«

Ich beende das Gespräch und betrachte den Körper unter dem Laken. Der Notarzt steht neben mir und füllt den Totenschein aus.

»Mach dir keine Vorwürfe, wir hätten ihn auch nicht retten können, wenn wir sofort da gewesen wären. Eure Reanimation war gut, aber der war tot, noch bevor er richtig am Boden angekommen ist.«

»Ich hab ihm Rippen gebrochen, oder?«

»Das gehört dazu! Wer keine Rippe bricht, hat nicht richtig reanimiert.« Er gibt mir einen Klaps auf die Schulter und lächelt mich aufmunternd an. »Sollen wir auf die Kripo warten?«

Ich nicke und gehe dann zu Sonia, die immer noch neben der alten Dame kniet und sanft auf sie einredet.

»Ihr Sohn ist unterwegs«, flüstert sie mir zu.

»Die Kripo auch«, gebe ich genauso leise zurück.

Vor dem Gartenzaun drängen sich mittlerweile die Nachbarn. Neugierig spähen sie auf das Grundstück, niemand tritt näher, niemand kommt, um sein Beileid auszudrücken, alles gafft nur über den Zaun, auf die Leiche unter dem Laken, die Sanitäter, auf uns und auf den Anwalt nebenan, der tatsächlich mit seinen halbstarken Söhnen auf der Einfahrt Basketball spielt, während ich mich frage, was schlimmer ist: die Hochhausschluchten von Chorweiler, in denen man immerhin wie Pech und Schwefel zusammenhält, wenn die Bullen auftauchen, oder dieser eiskalte Umgang mit dem Tod eines Menschen.

Zu einem Ergebnis komme ich nicht und werde durch das Eintreffen der Kripo und des Sohnes des Toten aus meinen Gedanken gerissen. Rasch spule ich die Ereignisse runter, der Kollege der Kriminalwache guckt mich, als ich bei den Sprechgesängen der Jungs ankomme, kurz schockiert an, dann schüttelt er den Kopf. »Sachen gibt’s!«

Als ich ende, schickt er uns in fürsorglichem Tonfall weg. »Ihr Mädchen fahrt zur Wache und schreibt einen Bericht für mich. Den Rest machen wir jetzt hier. Vielleicht könnt ihr ja auch Feierabend machen, ich würde das zumindest nach so einem Einsatz tun.«

Stille herrscht in unserem Streifenwagen, als wir zur Wache fahren. Dort angekommen, ziehe ich mir als Erstes eine neue Hose an und stopfe die alte mit den Urinflecken an den Knien kurzerhand in die Mülltonne. Dann schrubbe ich mir die Hände, als könnte ich auf diese Weise den Ekel vor diesen menschlichen Abgründen abwaschen.

Sonia blickt mir über die Schulter, während ich den Bericht und die Anzeige wegen der Nägel schreibe. Tatsächlich hatten wir auf dem Weg zum Streifenwagen einige Nägel auf der Kieseinfahrt des Nachbarhauses gefunden und als Beweismittel eingesammelt.

Gerade als der Drucker sich in Bewegung setzt und meinen Bericht ausspuckt, ruft der Funker nach uns. »Ich weiß, das war jetzt grad kein toller Einsatz, aber seid ihr wieder einsatzklar? Wir hätten noch zwei Unfälle, die erledigt werden müssen!«

Wir schauen uns an, Sonia nickt zögerlich.

»Natürlich sind wir einsatzklar«, sage ich, und wir gehen raus zum Streifenwagen.

Ich lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. »Geht’s einigermaßen?«

»Mein Glaube an die Menschlichkeit ist tief erschüttert, aber sonst …« Sonia lächelt, dann startet sie den Motor. »Auf, auf zu neuen Taten, das lenkt uns ab. Das macht uns stark.«

Noch während sie lacht, weiß ich, dass dieser Einsatz eine Geschichte werden wird. Eine Geschichte, für die ich ein paar Tage brauchen werde, bis ich die richtigen Worte finde, um meine Fassungslosigkeit und den Abgrund zu beschreiben, der sich da im schönsten und teuersten Viertel unseres Bereichs vor mir aufgetan hat und in den ich hoffentlich so bald erst mal nicht wieder blicken muss.

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt
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