Das muss Liebe sein

2008

 

Ein weiterer wichtiger Grund, warum der eine oder andere mal bei uns nächtigt, ist die Durchsetzung der Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz infolge häuslicher Gewalt. Darunter fallen all die Gewalttaten, die in einer häuslichen Gemeinschaft stattfinden. Das kann eine Partnerschaft, eine Ehe, eine Familie, aber auch eine Wohngemeinschaft sein.

Vor einigen Jahren hat der Gesetzgeber die Probleme dieser Straftaten endlich als solche erkannt und uns Polizeibeamten mehr Möglichkeiten zum Schutz der Opfer an die Hand gegeben. Seitdem dürfen wir in Fällen von häuslicher Gewalt nicht nur für Ruhe sorgen und den Aggressor aus der Wohnung verbannen, sondern gleichzeitig bekommt der- oder diejenige – ja, es gibt auch Frauen, die ihre Partner, Partnerinnen oder auch Kinder schlagen – ein Rückkehrverbot für zehn Tage. Von jetzt auf gleich für zehn Tage aus der eigenen Wohnung gejagt zu werden ist sicherlich ein nicht ganz unerheblicher Eingriff in die eigenen Rechte. Umso mehr kann ich verstehen, dass viele dieses Rückkehrverbot einfach nicht verstehen wollen und wir dann erneut gerufen werden, um die Ordnung wiederherzustellen.

Ich knie mit beiden Beinen auf den Schultern von Herrn Blumfeld und versuche mit aller Kraft, ihn auf dem Boden zu halten. Gar nicht so leicht, denn Herr Blumfeld wiegt ungefähr das Doppelte von mir und ist außerdem leider schrecklich gut trainiert. Ein Kollege liegt quer über seinen Beinen, damit sie nicht mehr unkontrolliert herumzappeln können, und zwei weitere Kollegen versuchen, ihm Handfesseln anzulegen, was nach etlichen Versuchen dann endlich gelingt.

Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. Wir waren, wie so häufig in den letzten Monaten, zu Blumfelds gefahren, hatten wie immer eine aufgelöste Frau Blumfeld mit diversen kleineren Verletzungen vorgefunden, während Herr Blumfeld stumpf vor dem Fernseher im Wohnzimmer hockte. Da wir von Herrn Blumfelds Sportlichkeit mittlerweile wissen, sind wir direkt zu viert aufgeschlagen. Das wirkt zwar nicht unbedingt deeskalierend, ist aber einfach besser, wenn er doch mal wieder ausrasten sollte.

In der Küche habe ich mir Frau Blumfelds Geschichte angehört, während sie den Arm um ihren achtjährigen Sohn Justin gelegt hat, der immer wieder kräht: »Die Mama hat’s verdient, die hat den Papa profiziert!«

Man hatte sich gestritten, über eine Nichtigkeit, dann war Herr Blumfeld aggressiv geworden, hatte seiner Frau eine geschallert und ihre Hände auf die heißen Herdplatten gedrückt. Wegen ihres Geschreis hatten die Nachbarn die Polizei verständigt, und da sind wir nun. Haben festgestellt, dass Herr Blumfeld eigentlich gar nicht in der Wohnung sein dürfte, da sein Rückkehrverbot seit der letzten häuslichen Streitigkeit noch nicht verstrichen ist.

Darauf angesprochen, rastet er komplett aus.

Er baut sich vor mir auf und brüllt mich an. Ich möchte wirklich mal gerne wissen, warum alle immer mich anbrüllen. Vielleicht, weil ich so klein und dadurch scheinbar das schwächste Glied bin? Keine Ahnung, auf jeden Fall steht er brüllend vor mir. Wir hätten ihm gar nichts zu verbieten, das hier sei seine Bude, seine Frau, und er könnten hier tun, was sie wollten! Da würden auch wir Bullen nichts dran ändern.

Tapfer bleibe ich während seiner Tiraden stehen und warte, bis die Kollegen sich in Position gebracht haben. Zwei Sekunden später finden wir uns in jener eingangs beschriebenen Position auf dem Boden wieder.

Während ich immer noch auf Herrn Blumfeld knie und ihn am Aufstehen hindere, versuche ich gleichzeitig, seine Frau im Auge zu behalten, die dummerweise zu Sympathiebekundungen neigt, wie wir aus Erfahrung wissen. Sobald wir nämlich Hand an ihren Mann legen, ist er plötzlich der Unschuldsengel, und wir sind die bösen Bullen.

Diesmal hält sie sich jedoch ausnahmsweise im Hintergrund und betrachtet lediglich ungläubig ihre mit dicken Brandblasen übersäten Finger und Handteller und hält sogar den Sohnemann zurück, der immer wieder kreischt: »Der Papa hat nichts gemacht!«

Während die Kollegen schließlich mit Herrn Blumfeld, der leider auch im gefesselten Zustand noch recht sperrig zu transportieren ist, die Treppen runterstolpern, bleibe ich in der Wohnung und versuche zu klären, warum er eigentlich schon wieder hier war. Doch eine weitere Erklärung als »Wir lieben uns halt!« ist aus Frau Blumfeld nicht herauszubekommen.

»Seltsame Liebe«, murmele ich wohl etwas zu laut. Denn sie springt von ihrem Stuhl auf.

»Was wollen Sie schon wissen!«, schnauzt sie mich an. »Sie glauben wohl, nur weil er mich ab und an prügelt, hätten Sie hier den Durchblick! Aber Sie wissen gar nichts!«

Ich nicke geduldig, ignoriere ihren Einwurf und leiere mein Sprüchlein runter: »Frau Blumfeld, Ihr Mann schläft heute Nacht bei uns, bis er sich wieder beruhigt hat. Das Rückkehrverbot gilt noch drei Tage, daran muss er sich halten. Der erste Verstoß kostet ein Zwangsgeld von fünfhundert Euro, der nächste tausend Euro, und sollten wir ihn dann noch mal hier erwischen, kommen weitere fünfhundert Euro obendrauf, ob Sie ihn nun bei sich haben wollen oder nicht. Er darf nicht in diese Wohnung!«

»Wer hier in die Wohnung darf, entscheide ja wohl ich!« Sie stemmt die Hände in die Hüften und zuckt im selben Moment zusammen, weil die Verbrennungen so schmerzen.

Wieder ignoriere ich ihren Einwand und leiere weiter meinen Text herunter: »Gehen Sie zum Amtsgericht, holen Sie sich eine einstweilige Verfügung, dass er nicht in Ihre Nähe darf. Ich gebe Ihre Daten an eine Beratungsstelle weiter, das kennen Sie ja schon.«

»Beratungsstelle. Pah!« Frau Blumfeld schnaubt verächtlich. »Lauter verknöcherte alte Weiber, die nicht mal den Ansatz einer Ahnung von wahrer Liebe haben. Und die wollen mir sagen, was ich tun soll! Vertrocknete Fotzen sind das!«

Ich seufze. »Frau Blumfeld, so geht das doch nicht weiter. Diesmal sind es Ihre Hände, letztes Mal hat er Ihnen mit einer Glasscherbe das Gesicht zerschnitten!« Ich deute auf die noch gut sichtbare Narbe auf ihrer Wange. »Was kommt denn als Nächstes?«

Sie blickt mich an. »Sie haben gut reden. Gucken Sie sich doch mal an. Sie können sich aussuchen, wer Sie liebt. Aber ich? Ich hab keine Kohle, ich bin nicht schön, ich hab das unerträgliche Balg am Hals. Ich muss nehmen, was kommt, und mein Mann liebt mich. Sonst würde er ja gar nicht so ausrasten.«

Ich versuche gar nicht erst, ihre verdrehte Logik zu verstehen, zucke mit den Achseln und beschließe zu gehen. Entscheide mich dann aber doch anders und lege ihr noch einmal die Hand auf die Schulter. »Frau Blumfeld, niemand hat es verdient, dass er geschlagen oder verletzt wird. Aber wir können Ihnen nicht helfen, wenn Sie ihn immer wieder in die Wohnung lassen!«

Trotzig starrt sie mich an: »Ich will Ihre Hilfe auch gar nicht!«

Zum x-ten Mal drücke ich ihr den Flyer für Gewaltopfer mit den Telefonnummern von Beratungsstellen in die Hand und verabschiede mich dann. »Frau Blumfeld, denken Sie darüber nach. Ich will hier nicht herkommen, und irgendwann hat er es mal zu weit getrieben!«

Sie nickt stumm und knallt dann die Tür hinter mir zu.

Zwei Wochen später sitze ich auf der Wache und höre am Funk, wie die Leitstelle einen Streifenwagen zu Blumfelds schickt. »Der Blumfeld hat schon wieder seine Frau verdroschen, die Nachbarn hören Gebrüll im Hausflur.«

Der Funker dreht sich zu mir und meiner heißen Pizza um: »Und ich dachte schon, der letzte Vorfall hätte Eindruck auf die Frau gemacht! Fahrt Ihr eben mit, falls der wieder so austickt?«

Ich klappe den Deckel der Pizzaverpackung zu und gehe mit meinem Kollegen Torsten zum Streifenwagen.

»Was ist? Du guckst so komisch«, fragt er mich, als wir losfahren.

»Ist es herzlos, dass ich mir jetzt grade mehr Gedanken darüber mache, dass meine Pizza kalt wird, während wir uns schon wieder mit dem Kerl prügeln dürfen, als darum, wie es Frau Blumfeld geht?«

Er lächelt mich an: »Glaub mir, irgendwann wird auch sie verstehen, dass das mit Liebe nichts zu tun hat!«

»Hoffentlich noch rechtzeitig! Bevor …« Ich beende den Satz nicht, greife in den Fußraum und wühle in dem Pizzakarton herum, den ich dort deponiert habe.

»Was machst du da?«

»Na, glaubst du, ich lasse für jemanden, der sich eh nicht helfen lassen will, meine Pizza kalt werden?« Ich fische eines der Stücke heraus und beiße genüsslich ab, während Torsten mich mit Blaulicht und Martinshorn durch die Straßen zu Familie Blumfeld chauffiert.

Kurz nach dem ersten Streifenwagen erreichen wir die Wohnung. Frau Blumfeld hält sich den Arm und hat diesmal den Abdruck des heißen Bügeleisens mitten auf dem Dekolleté. Kleinlaut sieht sie mich an. »Ich glaube, Sie hatten recht.«

Ich nicke und schlucke den letzten Bissen Pizza herunter. »Ich habe leider häufig recht! Und was machen wir jetzt?«

Sie schweigt, aus dem Wohnzimmer höre ich die Kollegen, die Herrn Blumfeld diesmal davon überzeugen wollen, freiwillig die Wohnung zu verlassen.

»Vielleicht sollte ich diesmal gehen?«, haucht sie leise und kraftlos.

Meine Augenbrauen wandern hoch Richtung Haaransatz. Ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig gehört habe. »Warum? Ist ja nicht so, dass Sie ihn geschlagen haben!«

Sie nickt, und dann sagt sie endlich zwei Sätze, die mir zeigen, dass meine Ansprache offenbar doch etwas bewirkt hat: »Ich komm so nicht von ihm los. Ich muss hier raus!« Ich nicke stumm und warte, dass sie weiterspricht. »Ich hab ja sonst niemanden. Aber ich war bei dieser Beratungsstelle. Wie Sie gesagt haben.« Erst jetzt sehe ich den zerrissenen Flyer auf dem Flurboden liegen. Sie lächelt zögerlich: »Ich hab Ihnen da ausnahmsweise mal zugehört! Die haben gesagt, ich könnte in ein Frauenhaus, und Justin kann auch mit.«

»ICH WILL ABER BEIM PAPA BLEIBEN!«, kreischt Klein-Justin los. Ich würde ihm am liebsten eine kleben und stelle mir lieber nicht vor, wie er später mit den Frauen in seinem Leben umgehen wird.

Ohne ein weiteres Wort helfe ich Frau Blumfeld beim Packen, während ihr Mann brüllend im Wohnzimmer steht und die »verfluchte Polizistenfotze« – ich vermute, damit meint er mich – und seine Hure von Ehefrau ins Fegefeuer wünscht.

Zehn Minuten später sitzt diesmal statt ihrem Mann Frau Blumfeld bei uns im Streifenwagen, neben ihr der heulende Justin, der immer wieder beteuert, dass seine Mutter es verdient hätte. Unsicher, aber hoffnungsvoll schaut Frau Blumfeld an uns vorbei nach vorne in den Sonnenuntergang, als wir losfahren, an den geheimen Ort, an dem sich unser Frauenhaus befindet.

»Warum riecht es hier so nach Pizza?«, fragt sie, und ich biete ihr grinsend das letzte noch lauwarme Stück aus meiner Schachtel an, weil ich mit jemandem, dem ich helfen kann, weil er mich lässt, sogar meine Pizza teile.

Leider gibt es so viele Blumfelds, so viele Frauen und Männer, die meinen, die Gewalttätigkeiten ihrer Partner, Eltern oder Mitbewohner seien normal, oder sie hätten sie gar durch ihr eigenes Verhalten verdient. So viele Familien, in die wir regelmäßig wegen häuslicher Gewalt gerufen werden und an deren Situation sich trotz all unserer Maßnahmen nichts ändert. Wir können nur Hilfestellung bieten. Aus der Situation befreien muss sich jedes Opfer selbst. Frau Blumfeld hat die Kurve gerade noch so bekommen, so viele andere schaffen es leider nie.

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt
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