Warum ich nicht Motorrad fahre

2008

 

Schwungvoll setze ich das letzte Häkchen auf den Fragebogen. Dann stehe ich auf, lege dem Prüfer die Blätter mit dem Test auf den Schreibtisch und setze mich wieder an meinen Platz.

Keine fünf Minuten später halte ich die Bescheinigung in der Hand, dass ich die theoretische Führerscheinprüfung für das Motorrad bestanden habe. Null Fehler. Na gut, alles andere wäre als Polizistin auch irgendwie peinlich gewesen, denke ich, während ich mich ans Steuer meines kleinen roten Autos setze und zum Dienst fahre.

Als ich vor der Wache in Chorweiler einparke, braust einer der Kradfahrer mit Blaulicht vom Hof, und ich gucke ihm verträumt nach. Dann schüttle ich vehement den Kopf, um den Unfug daraus zu vertreiben. Kradfahrerin möchte ich eigentlich nicht werden. Ganz davon abgesehen, dass es die grünweiße Lederkombi wohl kaum in meiner Kindergröße geben würde, sähe ich auf der schweren BMW, die in Nordrhein-Westfalen im Polizeidienst eingesetzt wird, auch reichlich lächerlich aus. Vor meinem inneren Auge sehe ich eine Maschine vorbeirasen, an deren Lenker Polizeibeamtin Janine Binder wie ein Fähnchen im Wind baumelt.

Grinsend gehe ich in die Umkleide, um mich umzuziehen. Eine BMW wird es also nicht werden, aber vielleicht eine dieser schicken kleinen Maschinen von Triumph oder gar eine Ducati. Hach ja.

Seufzend ziehe ich meine Uniform an und stehe wenige Minuten später gerade mit meinem Kollegen Micha im Wachraum, um unsere Einsatztasche zu sortieren. Da ruft die Funkerin uns zu: »Verkehrsunfall mit Personenschaden. Kradfahrer beteiligt, Rettungswagen läuft!«

Ich schmeiße unseren Krempel einfach unsortiert in die Tasche und renne raus, gefolgt von Micha. Meine gute Laune ist sofort verflogen. Der Unfall ist auf einer der Landstraßen passiert, die die Kölner Rheindörfer verbinden und auf denen es sich für einen Kradfahrer anbietet, die Geschwindigkeitsbeschränkung eher als Empfehlung denn als Vorschrift zu betrachten.

Schweigend hocke ich auf dem Beifahrersitz, während der Kollege mit heulendem Martinshorn und Blaulicht durch die Hochhausschluchten in Richtung Köln-Fühlingen rast.

So war es immer, denke ich. Jedes Mal, wenn ich versuchte, den Führerschein fürs Motorrad zu machen, wurde ich durch einen richtig ekligen Unfall, in den ein Motorrad verwickelt war, doch wieder zur Vernunft gebracht.

Das erste Mal habe ich die theoretische Prüfung abgelegt, als ich noch in Frechen auf der Autobahn rumturnte. Zwei Wochen vor der praktischen Prüfung zerlegte es den Fahrer einer Suzuki in seine Einzelteile, ohne dass ein Grund für seinen Sturz ersichtlich gewesen wäre. Wie es der Teufel will, war ich mal wieder eine der Ersten vor Ort. Von dem Bild, das sich mir am Unfallort bot, war ich so schockiert, dass ich den Termin der praktischen Prüfung einfach verstreichen ließ.

Einige Jahre später wagte ich einen erneuten Anlauf. Wieder lernte ich für die Theorieprüfung, saß gerade mit meinem Kollegen im Streifenwagen und ging die Bögen der Fahrschule durch, als wir zur Unterstützung an einen Unfallort gerufen wurden. Den Fahrer einer Ducati hatte es aus der Kurve der Ausfahrt herausgetragen, er war unter der Leitplanke durchgerutscht, und einer der Pfosten hatte ihm sauber den rechten Fuß abgetrennt, den wir nun im nahen Gebüsch suchen sollten. Als wir ihn gefunden hatten, transportierten wir den Fuß zur Uniklinik, wo er dem Fahrer wieder angenäht werden sollte.

Still und leise verschwanden meine Fahrschulbögen daraufhin ein weiteres Jahr in der Schublade.

Jetzt also wieder.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und stiere muffig vor mich hin. Wir erreichen die Unfallstelle, die einem Schlachtfeld ähnelt. Ein grüner VW Polo steht mit zerquetschter Fahrerseite quer mitten auf der Fahrbahn. Das Motorrad ist nur noch ein Knäuel aus Schrott, Plastik und Metall, der Fahrer wird auf einem Feld neben der Straße bereits von Rettungssanitätern behandelt.

Wütend stampfe ich mit dem Fuß auf, schicke Flüche gen Himmel und gehe schlecht gelaunt meiner Arbeit nach. Irgendjemand da oben will mir offenbar die Lust am Motorradfahren gründlich vermiesen.

Mein Kollege und ich nehmen den Unfall auf, machen Fotos, eine Skizze, hören uns die Zeugenaussagen an und notieren Personalien. Als die Unfallstelle wieder halbwegs freigeräumt ist, machen wir uns auf den Weg ins Krankenhaus.

Trotzig denke ich während der Fahrt nach. Millionen von Menschen fahren Motorrad, ohne dass ihnen etwas passiert. Warum also nicht auch ich? Nur weil ich dienstlich immer wieder mit den Pechvögeln konfrontiert werde, die durch ihr Hobby zu Schaden kommen, sollte ich es doch nicht gleich ganz sein lassen. Will mir jemand ein Zeichen geben, dass es besser wäre, wenn ich mich von den Mopeds fernhielte? Motorradführerschein – ja oder nein? Ich komme zu keinem Ergebnis.

Schließlich gehe ich mit mir selbst einen makaberen Pakt ein: Ich werde die Entscheidung dem Zufall überlassen. Der Kradfahrer ist bei seinem Sturz nicht nur gegen den Pkw geknallt, sondern auch noch mit dem Schädel voran gegen einen der am Straßenrand stehenden Bäume. Wenn er trotz seiner schwersten Verletzungen überleben sollte, würde ich mich nicht abschrecken lassen und meinen Führerschein trotzdem machen. Sollte er sterben, wäre auch mein Motorradführerschein ein für alle Mal Geschichte.

Gemeinsam gehen Micha und ich durch die Notaufnahme, auf der Suche nach einem Arzt, der uns Informationen über den Zustand des Unfallfahrers geben könnte. Schließlich werden wir fündig.

Vor dem Behandlungsraum liegt eine große blaue Mülltüte mit der zerfetzten Lederkombi des Motorradfahrers und mit dem Helm. Er ist in zwei Hälften gespalten wie eine Melone und bietet einen grausigen Anblick. Hatten mich der Unfallort und das Blut dort bisher kaltgelassen, so versetzt mir der Anblick dieser Überreste einen Schock. Erschüttert bleibe ich vor dem Müllsack stehen. Die Kleidungsstücke sind blutverschmiert, die Protektoren sind lächerlich klein, und der zerbrochene Helm führt mir vor Augen, wie armselig die Illusion ist, dass irgendetwas imstande wäre, den Menschen vor den Kräften zu schützen, die bei einem Zusammenstoß zur Entfaltung kommen.

Schnell mache ich ein paar Fotos für die Unfallanzeige. Dann betreten wir den Behandlungsraum. Der Motorradfahrer liegt auf einer Liege und lächelt uns entgegen. Ein paar Kratzer hat er im Gesicht, und seine Wirbelsäule ist durch eine Art Transportkorsett stabilisiert. »Die Ärzte sagen, ich hab verdammtes Glück gehabt!«

Die Krankenschwester löst das Korsett und bedeutet dem jungen Mann aufzustehen. Vorsichtig geht er ein paar Schritte, dann grinst er uns erneut an. »Nicht mal was gebrochen hab ich!« Verblüfft betrachtet er seine Hände und bewegt die Finger.

Der Arzt betritt den Raum und schaut in die Runde. »Tja, da haben wir wohl alle nicht mit gerechnet. Abgesehen von den Schürfwunden und der Schnittverletzung am Oberschenkel, wegen der die ganze Sache so blutig wirkte, haben wir keine weiteren gravierenden Verletzungen festgestellt. Ich würde Sie gern trotzdem noch zur Beobachtung eine Nacht hierbehalten.«

Micha hat die Personalien fertig aufgenommen, und wir verabschieden uns. Auf dem Gang streift mein Blick noch einmal den Inhalt des Müllsacks, dann fahren wir zur Wache.

Nach dem Dienst komme ich nach Hause, greife mir, ohne weiter nachzudenken, meinen Helm und die Motorradjacke, steige auf die Leiter und verstaue beides unter den skeptischen Blicken meiner Katze ganz hinten oben auf dem Kleiderschrank. Anschließend streiche ich auf meinem Wandkalender die Termine für die Fahrstunden durch und murmele vor mich hin: »Pakt hin, Pakt her. Man muss sein Glück ja nicht überstrapazieren.«

Damit ist das Thema Motorradführerschein für mich endgültig abgeschlossen und erledigt, und ich rolle weiterhin in meiner roten Knutschkugel durch die Landschaft. Da ruiniert mir dann wenigstens kein lästiger Helm die Frisur, und den Wind schnuppern kann ich auch, wenn ich das Schiebedach aufmache. Hin und wieder werfe ich einer Gruppe Motorradfahrer, die an mir vorbeibraust, sehnsüchtige Blicke zu, aber im nächsten Moment denke ich wieder an den gespaltenen Helm, und meine Sehnsucht nach Geschwindigkeit und Freiheit verschwindet sofort.

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt
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